Читать книгу Die Musik der Renaissance - Guido Heidloff-Herzig - Страница 18
2.2 Ausbildung
ОглавлениеIm ausgehenden Mittelalter liegt Bildung und Lehre allein in der Verantwortung der Kirche. Die schulische Bildung geht in erster Linie von ihr aus und damit auch die Fächer, die unterrichtet werden und die der Aufrechterhaltung des kirchlichen Lebens dienen: Latein und Musik. Schulen sind in der Regel angeschlossen an Klöster, Stiftskirchen oder Bistumskirchen. Diese bieten nicht nur den Vorteil einer soliden Ausbildung, sondern gleichzeitig auch eine Lebensgrundlage für die Schüler, die für ihre kirchlichen Dienste mit Kost und Unterkunft entlohnt werden. Die kirchliche Trägerschaft ermöglicht insbesondere auch musikalisch begabten Schülern aus armen Verhältnissen den sozialen Aufstieg. Der sichere Versorgungsstatus der Schulen ist auch attraktiv für Angehörige des Klerus, die ihren Einfluss geltend machen können, um leibliche Verwandte oder gar illegitimen Nachwuchs dort unterzubringen (wie vermutlich im Falle Dufays, dessen Vater unbekannt ist).
Stichwort
Die Kathedralschule von Cambrai
Ein herausragendes Zentrum für die musikalische Ausbildung von Chorknaben im 15. Jh. und 16. Jh. ist die nordfranzösische Stadt Cambrai. Die Diözese Cambrai umfasst zur Zeit der Renaissance ein riesiges, wirtschaftlich prosperierendes Gebiet von über 1000 Gemeinden im heutigen Nordfrankreich und Belgien und ist das kulturelle Zentrum der Region. Agenten bereisen dieses Gebiet, um stets die besten Knaben für die der Kathedrale angeschlossene Gesangsschule zu rekrutieren.
Ein Schüler beginnt seine Gesangsausbildung etwa siebenjährig als puer altaris, steigt dann zum petit vicaire auf und wird nach dem Stimmbruch zum grand vicaire. Zu Spitzenzeiten Anfang des 16. Jh. besteht der Chor aus etwa 40 Sängern, eine für die damalige Zeit herausragende Zahl. Für das Jahr 1540 ist anlässlich des Besuchs Kaiser Karl V. in Cambrai eine Aufführung der Motette Praeter rerum Seriem von Josquin belegt, an der 34 Sänger beteiligt sind. Die Knaben werden von den besten Lehrern ihrer Zeit unterrichtet. Dufay, der als Knabe selbst puer altaris in Cambrai ist, kehrt auf dem Höhepunkt seines Ruhmes als berühmtester Musiker seiner Zeit im Jahr 1458 zurück an seine ehemalige Ausbildungsstätte, um dort das Amt des magister de petits vicaires zu übernehmen. Die Lehrer in Cambrai sind im europäischen Musikleben bestens vernetzt und es gibt einen regen Transfermarkt für Sänger und Manuskripte mit den führenden Kapellen der Zeit in Rom, Paris und im Burgund.
Zahlreiche berühmte Komponisten sind mit der Stadt Cambrai verbunden. Neben Dufay werden auch Johannes Regis, Alexander Agricola, Philippe Caron, Johannes Lupi und Philippe de Monte an der Kathedralschule ausgebildet. Josquin ist in seinen Ausbildungsjahren puer altaris an der dortigen Kirche St. Géry. Jacob Obrecht leitet für kurze Zeit die Kapelle von Cambrai. Enge Verbindungen mit Cambrai sind auch für die Komponisten Johannes Ockeghem, Antoine Busnoys und Loyset Compère bezeugt.
Auf jeden Fall durchlaufen die Kinder in der Obhut einer kirchlichen Schule eine – je nach Anspruch und Qualität der Einrichtung – mehr oder weniger solide Ausbildung in Latein und Gesang. Das Choralsingen steht für die liturgische Gestaltung der zahlreichen täglichen Kirchendienste im Vordergrund und die Beherrschung der Choräle basiert vor allem auf Auswendiglernen. Die Vermittlung von Solmisation und Mensuralnotation, die für eine Gesangspraxis notwendig ist, die über das Auswendigsingen hinausgeht, ist nicht unbedingt überall Standard und findet vor allem an anspruchsvolleren Ausbildungsstätten wie den franko-flämischen Maîtrisen statt, worin auch der Hauptgrund für die Vorherrschaft der Musiker dieser Region zu suchen ist.
Maîtrisen
Die musikalische Ausbildung im franko-flämischen Raum findet unter der Obhut der Kirche seit dem 15. Jh. in sogenannten Maîtrisen statt. Dies sind Musikinternate, die von der Kirche finanziert werden und in denen die Schüler zusammen mit ihren Lehrern wohnen. In Anbetracht der zahlreichen kirchlichen Dienste, für deren Liturgie jeweils tagesabhängig gregorianische Choräle eingeübt werden müssen, macht das Singen einen sehr großen Anteil in der Ausbildung aus. Die Maîtrisen sind theoretisch offen für Kinder aller Schichten. Bei der Auswahl der Schülerschaft wird vor allem auf gute stimmliche Eigenschaften geschaut und entsprechend begabte Knaben werden aktiv gesucht. Die Ausbildung an einer Maîtrise ist für die Schüler ein Garant für ein hohes Bildungsniveau. Durch die fundierte Ausbildung in Musik und Latein steht ihnen später eine theologische oder juristische Universitätsausbildung offen. Diese wird nicht selten von der Heimatkirche finanziell unterstützt, in der Hoffnung, dass der vormalige Chorknabe als studierter Theologe einst an seine Heimatkirche zurückkehren und eine kirchliche Laufbahn einschlagen wird.
Lehrinhalte
Die Vorherrschaft franko-flämischer Komponisten im 15. und 16. Jh. steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem hervorragenden Ausbildungssystem in den Maîtrisen. Ziel des Gesangsunterrichts ist vor allem das Beherrschen des gregorianischen Repertoires. Darüber hinaus werden auch prima-vista-Techniken des mehrstimmigen Gesangs unterrichtet: das Improvisieren einer zweiten Stimme zu einem cantus firmus, das sogenannte Diskantieren, und mehrstimmige Improvisationsmodelle wie Kanon oder Fauxbourdon. Außerdem werden die Schüler in Musiktheorie sowie in den Grundlagen der Mensuralnotation unterrichtet, um auch polyphone Gesänge ausführen zu können. Mit der Vermittlung der Fähigkeiten, Musik erfinden und notieren zu können, wird in den Maîtrisen der Grundstein für viele Komponistenlaufbahnen gelegt.