Читать книгу Die Musik der Renaissance - Guido Heidloff-Herzig - Страница 21
2.4.1 Das musikalische Kunstwerk
ОглавлениеDas moderne Bild von der Komposition als einem künstlerischen Produkt mit einem eigenen ästhetischen Wert ist ein Konzept, welches sich im Laufe der Renaissance entwickelt. Zu Beginn des Zeitraumes wird Musik eher funktional wahrgenommen als eine einem Text untergeordnete Ebene, die diesem zur emphatischen Ausschmückung dient. Gesungene und instrumentale Musik ist in der Regel notwendiger Teil einer höfischen oder kirchlichen Inszenierung und trägt in Beschreibungen keine individuellen Züge, sondern unterstreicht lediglich deren festlichen Charakter. Die ersten Hinweise darauf, dass Musik in ihrer Wirkung und spezifischen Machart als eigenständig und sinnlich wahrgenommen wird, und nicht mehr nur als eine dem Text untergeordnete Schicht gilt, sind mit dem Begriff contenance angloise verbunden. Mit diesen Worten berichtet der Chronist Ulrich von Richenthal im Jahr 1416 vom Konzil in Konstanz, dass die englische Musik eine besondere Wirkung auf die Mitglieder des Konzils auszuüben vermochte. Auf diese Weise gerät die sinnliche Dimension von Musik in das Bewusstsein. In diesem Verständnis ist die Musik nicht mehr nur ein Transporteur von Text, in dem Sinne, dass die Bedeutung des Musikstückes mit derjenigen des Textes gleichzusetzen ist, sondern wird als individuelle Schicht wahrgenommen, mit einer eigenen Aussage und vor allem einer besonderen Wirkung.
Die Hymnen Dufays
Ein frühes Beispiel für diese zusätzliche Schicht ist in dem Hymnenzyklus von Dufay zu sehen, den er vermutlich in den Jahren 1435–36 systematisch angelegt hat. Die Hymnen sind gregorianische Strophenlieder, die ihren liturgischen Platz im Stundengebet haben. Text und Melodie sind in der Gregorianik untrennbar zu einer Einheit verbunden. Dufay bearbeitet diese Melodien und erweitert sie zu dreistimmigen Sätzen, die dann alternierend zu den einstimmigen gregorianischen Fassungen gesungen werden können, jede ungerade Strophe einstimmig, jede gerade mehrstimmig. Die Bearbeitungen Dufays gehen im musikalischen Anspruch entscheidend über die Anforderungen des liturgischen Gebrauchs hinaus und machen deutlich, wie er versucht, die kompositorischen Mittel innerhalb dieser Gattung systematisch zu erproben. Sie sind ein kleines Kompendium verschiedener Satztechniken der Dreistimmigkeit. Seine Hymnen unterscheiden sich darin von vergleichbaren Sätzen seiner Zeitgenossen Dunstable und Binchois. Sie richten das Augenmerk über die liturgische Funktion hinaus auf die kompositorische Ebene und wirken so als genuine Musikstücke, die ihren liturgischen Gebrauchscharakter überstrahlen. Das Verständnis von Dufays Hymnen als einem Zyklus mit künstlerischem Anspruch spiegelt sich auch in deren Verbreitung. Sie sind in vielen Handschriften überliefert und sogar noch Ende des 15. Jh. – schon lange nach Dufays Tod – in Rom kopiert worden.
Kunst oder freie Kunst?
Ein Musikstück, das sich im Vergleich zur funktionalen, rituellen Musik als eigenständiges Kunstwerk etabliert, tut dies auf zwei Ebenen: Es setzt sich in seiner sinnlichen Dimension deutlich von seinem funktionalen Gegenstück ab, und es tut dies allein durch das kompositorische Handwerk des Schöpfers. Diese beiden Faktoren, das Sinnliche sowie das Handwerkliche, lösen das Musikstück heraus aus dem mittelalterlichen Kontext der artes liberalis, der genau für das Gegenteil steht, nämlich das Rationale und das Zweckfreie (vgl. Kap. 3.1, S. 34).
Obwohl mit der Herauslösung der Musik aus den artes liberalis ein Statusverlust verbunden ist, ist die Emanzipation des musikalischen Kunstwerkes nicht aufzuhalten. Kompositorische Techniken sind nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern selbst Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung. Dies bezeugen die unmittelbar aufeinander bezogenen Proportionskanons von Josquin und de la Rue (vgl. Kap. 3.5.5, S. 60) oder die große Menge an Messevertonungen über den cantus firmus L’homme armé. Diese Werkgruppen sind nur im Sinne eines rein kompositorischen Diskurses über ein Thema erklärbar, dem jeder Komponist mit seinem eigenen Beitrag einen weiteren, neuen kompositorischen Aspekt hinzufügen will.
Die funktionale Entkoppelung von Musik führt dazu, dass sie keinen äußeren Anlass mehr braucht, um komponiert zu werden, allein die kompositorische Auseinandersetzung ist Anlass genug. Die großen Sammlungen von Madrigalbüchern aus den 1530er Jahren von Komponisten wie Verdelot, de Rore oder Willaert oder die Messbücher von Palestrina sind bereits künstlerische Produkte im heutigen Sinne.