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KAPITEL 6 Stärkster Spieler bei Argentinos Juniors
ОглавлениеNachdem 1958 Arturo Frondizi an die Regierung gewählt wurde und sich Argentinien ausländischem Kapital öffnete, gleichzeitig ein rigoroser Sparkurs gefahren wurde, kam es zu massiven Protesten innerhalb der Bevölkerung und zu Streiks im ganzen Land. In den folgenden Jahren wurden Tausende Argentinier inhaftiert und von Notgerichten zu Gefängnisstrafen verurteilt. Es war eine Zeit großer Instabilität. Allein zwischen 1958 und 1963 gab es in Argentinien sechs Staatsstreiche.
1960 wurde Diego Armando Maradona geboren. 1963 kam Artur Umberto Illía durch Wahlen an die Macht, aber nach drei Jahren wurde auch er durch einen Militärputsch gestürzt. 1973, als Maradona und die Cebollitas auf dem Weg waren, sich regional einen Namen zu machen, wurden Neuwahlen angesetzt. Juan Perón, der vor allem bei Arbeitern beliebte Ex-Präsident im Exil, durfte sich nicht zur Wahl stellen, unterstützte aber den Präsidentschaftskandidaten Héctor Cámpora. Dieser gewann die Wahl und setzte wenige Monate später Neuwahlen an, zu denen diesmal auch Perón zugelassen wurde. Bei dieser Wahl erhielt der alternde Ex-Präsident über 60 Prozent der Stimmen. Als er im Jahr darauf verstarb, übernahm seine Frau, Vizepräsidentin María Estela Martínez de Perón (»Isabelita«), das Amt. Aber ihre Unerfahrenheit und Führungsschwäche stürzten das Land weiter ins Chaos, das unter Hyperinflation litt. Ein Bündnis aus Kirchenoberhäuptern und Militärs übernahm am 24. März 1976 die Regierungskontrolle. María Estela Martínez de Perón wurde unter Hausarrest gestellt. Die Terrorbrigade AAA (Alianza Anticomunista Argentina), dazu legitimiert, jeden Staatsfeind zu eliminieren, verfolgte unliebsame Oppositionelle, es kam zu tausendfachen Verurteilungen ohne Prozess und systematischen Morden. Die Opfer dieser Säuberungsaktionen, deren Spuren sich meist im Nichts verloren, werden in Argentinien »die Verschwundenen« genannt.
Auch in anderen südamerikanischen Staaten wurde geputscht: Pinochet kam in Chile an die Macht, Bordaberry in Uruguay und Banzer in Bolivien. Brasilien war bereits seit 1964 eine Militärdiktatur, und in Paraguay herrschte seit 1954 Alfredo Stroessner.
Zu Beginn der 1980er Jahre konnten die überschuldeten lateinamerikanischen Staaten infolge hoher Zinsen die Kredite nicht mehr bedienen, das Wirtschaftswachstum kam zum Erliegen (»lateinamerikanische Schuldenkrise«). Heute spricht man von der Dekade als dem »verlorenen Jahrzehnt«.
Dies in groben Umrissen der turbulente politische Hintergrund, vor dem der 16-jährige Maradona sein Debüt in der ersten Mannschaft von Argentinos Juniors feierte. Der Journalist Horacio Pagani schrieb, Argentinien brauche neue Träume, um die Menschen zu einen. In der Kabine spielte Politik indes keine Rolle. Alles drehte sich um Fußball und Frauen. Diego rauchte nicht, er trank auch nicht, er liebte es zu trainieren und blieb so lange auf dem Platz, bis man ihm das Licht ausdrehte. Mit Torhüter Carlos Munutti veranstaltete er Elfmeterschießen, bei denen er und andere Spieler für Geld gegeneinander antraten. Und wenn niemand mitmachen wollte, schossen sie sich gegenseitig die Bälle vom Punkt ins Netz. Oft musste der Platzwart Maradona nach Hause schicken, damit er den letzten Bus erwischte.
Es gibt keine Filmaufnahmen von Diegos ersten Treffern für Argentinos, nur Fotos. Im Spiel gegen San Lorenzo de Mar del Plata im November 1976, das 5:2 für Argentinos endete, erzielte er einen Doppelpack. Es war sein fünfter offizieller Einsatz in der ersten Mannschaft. Diego saß zunächst auf der Bank. Zur Halbzeitpause herrschte Gleichstand. Nach der Pause war es so weit. Diego trug das Trikot mit der Nummer 15. Sein erstes Tor, das vierte für seine Mannschaft, erzielte er 42 Minuten nach seiner Einwechslung. Dabei ließ er drei Gegenspieler aussteigen, spielte einen Doppelpass mit seinem Teamkollegen Lopéz und versenkte den Ball mit links flach im Tor.
»Die Erwartungen, die man in ihn setzte, erfüllte er von Anfang«, schrieb Segundo Csar Cheppi in La Capital. »Er hatte unendliches Potenzial, seine fußballerische Intelligenz war überragend.« Die Zeitung veröffentlichte ein Foto von Maradonas zweitem Treffer in dieser Begegnung. Julio Macías Spielanalyse lautete: »Er kam erst zur zweiten Halbzeit auf den Platz, war aber der entscheidende Faktor für die Entwicklung des Spiels. Maradona bestätigte sein Talent und setzte es im passenden Moment ein. Er erzielte zwei wunderbare Tore, lieferte die Vorlage für ein weiteres und traf überdies auch noch zweimal den Pfosten. Kein Zweifel: Maradona spielte die Hauptrolle.«
Carlos Ruberto schrieb voller Begeisterung in der Goles: »Auch die San-Lorenzo-Fans zollten Maradona Anerkennung. Sie applaudierten ihm und rückten so nah wie möglich an die Platzumzäunung, um einen Blick auf den Jungen zu erhaschen, der sein Gesicht unter seiner Haarpracht verborgen hielt.«
»Dank Maradonas Einfluss dominierte Argentinos das Spiel und ging als verdienter Sieger vom Platz«, schloss Segundo Csar Cheppi seinen Bericht. Maradona besorgte sich ein Exemplar der Ausgabe, doch sie ging, wie so vieles, bei einem der zahlreichen Umzüge im Verlauf seiner Karriere verloren.
Benicio Acosta, der Trainer von San Lorenzo, kritisierte seine Spieler nach dem Spiel: »Es ist beschämend, wie dieses kleine Lämmchen euch auf der Nase herumgetanzt ist.«
Auch Maradonas Teamkameraden waren endgültig aufmerksam geworden auf ihren neuen Star. »Wir fingen an, uns um ihn zu kümmern. Uns wurde immer klarer, was die Mannschaft an ihm hatte. Irgendwann war das Team zehn Spieler, die nur für Maradona liefen«, erinnert sich Ricardo Giusti, einer der Weltmeister der WM in Mexiko 1986, der damals auch noch nicht lange bei Argentinos Juniors spielte.
Während einer Trainingseinheit soll Maradona eine Orange vom Boden gelupft, über seine Schulter und seine Brust hochjongliert, in die Luft geschleudert und im Nacken wieder aufgefangen habe. Giusti berichtet: »Er legte zehn Bälle mitten aufs Spielfeld und zielte auf die Latte. Die traf er dann nicht weniger als siebenmal. Das ist nicht übertrieben. Ich wollte es nachmachen, mein Ball hat nicht mal das Tor erreicht.«
Auch Argentiniens Nationaltrainer César Luis Menotti hatte genug gesehen. Im Februar 1977 durfte der 16-jährige Diego sein Debüt in der Nationalmannschaft feiern, anschließend gab er zu Protokoll: »Als ich jünger war, trainierte ich einmal am Tag. Jetzt trainiere ich die ganze Zeit. Ich will nicht, dass die Leute denken, ich hätte mich von meinen Freunden abgewandt, aber seit ich für das Spiel gegen Ungarn aufgestellt wurde, hatte ich keine freie Minute, um mich in meinem Viertel blicken zu lassen. Ich möchte nicht, dass man je über mich sagt, mir sei der Ruhm zu Kopf gestiegen. Alle setzten mir zu, die Zeitschriften, das Fernsehen, die Zeitungen, und alle fragen mich dasselbe. Es ist ermüdend. In Wirklichkeit bin ich niemand Besonderes, und das Einzige, worüber ich reden kann, ist meine Kindheit und mein Idol Bochini.« Maradona begann zu begreifen, welcher Preis für Ruhm zu zahlen war.
Im Sommer 1977 begann seine Beziehung zu Claudia Villafañe, dem Mädchen mit der gelben Hose, das ihn heimlich von seinem Fenster aus beobachtete. Zwei-, dreimal die Woche holte er Claudia nach dem Training zu einem Spaziergang ab. So viele Journalisten schossen Fotos von diesen Treffen, dass das ganze Land das Paar auf seinen Spaziergängen begleitete – eine Aufmerksamkeit, die niemals nachlassen sollte.
Die folgende Spielzeit war Maradonas erste vollständige Saison in der ersten Liga. Besonders in Erinnerung ist aus dieser Zeit ein Tor geblieben, das er im Stadion von Huracán, einem weiteren Verein aus Buenos Aires, erzielte. Von diesem Treffer sind nur wenige Aufnahmen erhalten, aber sie sind unvergesslich. Maradona nimmt den Ball in der eigenen Hälfte an, lässt vier Gegenspieler aussteigen, unter anderem mit einem Doppelpass, und läuft schließlich allein auf den Keeper zu. Eine Eins-gegen-eins-Situation. Er löst sie, indem er den Torwart tunnelt.
Nach all den Jahren bei den Cebollitas hatte Maradona die ungeschriebenen Gesetze des Straßenfußballs vollständig verinnerlicht. Auf sie besann er sich auch in einem Spiel gegen River Plate. Dort traf er auf den 37-jährigen Roberto Perfumo, der als bester Verteidiger in der argentinischen Fußballgeschichte galt und ein absoluter Fanliebling war.
Der Journalist Sergio Levinsky erinnert sich: »Perfumo wusste, wie man Gegenspieler von den Beinen holt, er machte es effektiv, aber immer mit Klasse. Er hatte etwas von James Bond, war unerbittlich, dabei saß die Frisur stets wie eine Eins. Maradona kommt auf den Platz und dribbelt, dribbelt, dribbelt. Bei einem Zweikampf tritt er Perfumo auf den Fuß, beide gehen zu Boden und müssen auf dem Platz behandelt werden. Maradona ist als Erster wieder auf den Beinen und fragt Perfumo: ›Marshal, deinem Fuß geht es hoffentlich gut?‹ Es ist sein Respekt vor dem legendären älteren Spieler. Perfumo antwortete: ›Keine Angst, Diego, mir geht es hervorragend.‹« Diego musste lernen, damit zu leben, hart angegangen zu werden, und er beschwerte sich nur selten.
El Pelusa verhalf einer eher unterdurchschnittlichen Mannschaft zum Erfolg, auch wenn er selbst abwiegelte: »Wir gewinnen die Spiele zusammen, alle elf Startspieler und die fünf Mann auf der Ersatzbank. Wenn Ríos nicht trifft, wenn Fren nicht abliefert, dann ist Maradona nutzlos. Es ist respektlos, wenn Journalisten schreiben: Maradona 2, dieses oder jenes Team 0, das verletzt die anderen Spieler.« Seine Teamkollegen äußerten sich ähnlich, doch war die Situation schon ziemlich bezeichnend, und es mutete reichlich sonderbar an, dass Diego von sich selbst in der dritten Person sprach.
Jorge Cyterszpiler brachte Diego dazu, an seinem Medien- und Marketing-Image zu stricken. Diego begann, Pressedossiers über sich zusammenzustellen (wofür er zunehmend mehr Zeit brauchte) und den Journalisten von den Autos zu erzählen, die er sich zulegte, von seiner Leidenschaft für importierte Modeartikel und Parfüms, während er zugleich darüber klagte, dass er nicht in der Lage sei, »zwei entspannte Wochen mit meiner Freundin und meiner Familie zu verbringen«.
»Mir fiel auf, dass seine Beziehung zur Presse schon sehr früh extrem offenherzig war«, resümiert Lalo Zanoni, der Maradonas öffentliches Leben in seinem Buch Living Among the Media unter die Lupe nahm. »Als er für die Cebollitas spielte, führte Horacio del Prado ein Interview mit Diego für die El Gráfico. Del Prado lernte einen 12-Jährigen kennen, der schon sehr reif war für sein Alter, ein sehr freier Geist. Mit 15 spielte er für die erste Mannschaft von Argentinos Juniors, und mit 16 war er bereits ein Mann. Schauen Sie sich nur die Fotos von ihm in der Presse an, er war noch ein Junge, aber seine Haltung, die Art, wie er steht, entspricht der eines Erwachsenen. Wenig später ernannten sie ihn zum Mannschaftskapitän, obwohl die anderen Spieler um ihn herum alle älter waren. Er war der erste argentinische Spieler, wenn nicht sogar der erste weltweit, der einen Agenten hatte, und da war er noch nicht mal berühmt. Björn Borg hatte einen Agenten, aber in den 70ern war das nicht weit verbreitet.«
Zunächst drang die Kunde von Diegos Ausnahmetalent nicht über die argentinischen Grenzen hinaus. Nur wer in Argentinien lebte oder das Land bereiste, erfuhr von seinen Heldentaten. Von dem Jungen, der sich in die erste Mannschaft der Argentinos gekämpft hatte und der, seit er 18 war, wiederholt Torschützenkönig der ersten argentinischen Liga wurde, darüber hinaus des Torneo Metropolitano (1978, 1979, 1980) und des Torneo Nacional (1979, 1980) und der damit der bis dato jüngste Spieler war, der diese Auszeichnung erhielt – und bis heute der Einzige ist, dem dies fünfmal gelang. Mit 17 war Diego bereits Kapitän der Argentinos und ihr bester Spieler. Der herrschenden Militärdiktatur und ihrem auf Menottis Wunsch hin erlassenen Verbot, Maradona an einen ausländischen Verein zu verkaufen, war es zu verdanken, dass er insgesamt fünf Jahre bei diesem eher mittelmäßigen Klub blieb.
Argentinos ist jedoch bekannt dafür, Fußballer hervorragend auszubilden und den Spielern Teamgeist und Führungsqualitäten zu vermitteln. Viele argentinische Mannschaftskapitäne begannen hier ihre Karriere, unter anderem Juan Pablo Sorín, Juan Román Riquelme und Esteban Cambiasso. Für Diego war die Übernahme einer Führungsrolle ganz natürlich, völlig unabhängig von seinem jugendlichen Alter. »Wir sollten in Brasilien spielen«, erinnert sich Mannschaftskamerad Rubén Favret, der wie der Rest unter der Woche an nationalen und internationalen Freundschaftsspielen teilnahm, um das Geld zu verdienen, mit dem man sich den Komfort, der vermeintlich mit dem Ruhm einhergeht, finanzieren konnte. Einen besonderen Spieler in der Mannschaft zu haben, machte in dieser Situation einen bedeutenden Unterschied. »Es war die Ära des Farbfernsehens, und wir wollten alle so ein Gerät mit nach Hause bringen. Aber wir hatten unsere Boni nicht bekommen. Diego, der damals 18 war, sprach für uns alle und erklärte Cónsoli, dem Präsidenten von Argentinos, dass er nicht spielen würde, wenn wir unser Geld nicht bekämen.« In dem neuen Haus der Maradonas leerte Doña Tota ihre Tabaksbeutel noch vor einem Schwarz-Weiß-Gerät. Und dann brachte ihr Diego aus Brasilien endlich einen Farbfernseher mit.
Einen Monat nach der U-20-WM nahm El Pelusa an einem Freundschaftsspiel von Argentinos gegen San Martín de San Juan teil. Für Diegos Team lief es dabei zunächst alles andere als rund. Zur Halbzeit lag Argentinos 3:0 zurück. »Uns bleibt ausreichend Zeit«, sagte sein Teamkamerad Quique Wolff. Und in der Tat, als er wieder aufs Feld kam, war Maradona wie ausgewechselt und riss die gesamte Mannschaft mit. Kurz vor Ende der Partie ließ er fünf Gegenspieler aussteigen und hatte nur noch den Torwart vor sich. Die Chancen, das Spiel doch noch zu gewinnen, standen gut. Maradona sah den besser positionierten Wolff frei im Strafraum und legte ihm den Ball quer. Wolff hätte ihn nur über die Linie drücken müssen. Doch er stand stocksteif da, die Arme erhoben. Der Ball streifte seinen Knöchel und landete im Aus.
»Was ist denn los?«, wollte Diego wissen.
Wolff konnte ihm nicht in die Augen sehen: »Du hast so phantastisch gespielt, kaum zu glauben, was du da gemacht hast. Ich konnte nicht reagieren, konnte nur noch staunen und dich bewundern. Ich bin dein Fan.«