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KAPITEL 1 Der Vater – Don Diego
Оглавление»Don Diegos Vater ging barfuß«, sagten die Leute, um die bescheidenen Verhältnisse zu beschreiben, aus denen Diego Armando Maradonas Großvater stammte. Das sagten selbst die, die ihn nicht gekannt hatten. Und es war keineswegs abschätzig gemeint. Vielmehr brachten sie damit ihre Hochachtung vor einer einfacheren Lebensart zum Ausdruck, die sie mit den indigenen Völkern Argentiniens in Verbindung brachten, einem in Vergessenheit geratenen Teil der argentinischen Geschichte. Don Diego Maradona hielt sich aus solcherlei Spekulationen heraus – vielleicht ging sein Vater einst barfuß, vielleicht aber auch nicht.
Tatsächlich weiß man kaum etwas über Don Diegos Vater. Gewiss ist nur: Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und setzte zahlreiche Kinder in die Welt. Von einigen wusste er, von anderen nicht. Sein Leben verlief unkonventionell. Er war zwar Katholik, hatte aber eine ganz eigene Vorstellung vom Leben.
»Anscheinend hatte er indigene Wurzeln«, schrieb Fernando Signorini via WhatsApp. »Das zumindest erzählte mir ein Freund von Diegos Vater aus Esquina, einer Stadt in der Provinz Corrientes.« Das Personenstandsregister von Esquina lässt allerdings keine Rückschlüsse auf diese Spekulation zu. Recherchen in diese Richtung werden zudem dadurch erschwert, dass Don Diego den Nachnamen seiner Mutter, Maradona, annahm, da sein Vater die Familie sehr früh verließ.
Fest steht, dass Don Diego – von seinen Freunden Chitoro genannt – am 12. November 1927 das Licht der Welt erblickte. Sein Nachname ist nicht italienischen Ursprungs – auch wenn er so klingt, vor allem, wenn Neapolitaner ihn mit der Betonung auf dem »n« aussprechen: Mara-do-na. Der Ursprung des Namens scheint in Galicien zu liegen, einer Region im Nordwesten Spaniens, möglicherweise stammen Maradonas Vorfahren aus einem Ort südlich von Ribadeo oder Barreiros, aus Arante, Vilamartín Grande oder Vilamartín Pequeño, wo noch heute viele Maradonas leben.
Ein Francisco Fernández de Maradona, geboren im nordspanischen San Pedro de Arante, wanderte unterschiedlichen Quellen zufolge 1745 oder 1748 nach Nordwestargentinien aus und ließ sich in San Juan de Cuyo nieder. Nach heutigem Kenntnisstand war er der erste Maradona in Argentinien. In den 1920er Jahren war ein Nachfahre von Francisco Fernández, der Ingenieur Santiago Maradona, Gouverneur der Provinz Santiago del Estero. Er war der einzige Maradona, der in Santiago lebte. Verheiratet war er nicht, aber er hatte Kinder, die seinen Namen trugen, darunter auch Chitoros Mutter, Diego Armando Maradonas Großmutter. Einem alten Foto nach zu urteilen, war Don Diego seinem Urgroßvater mütterlicherseits, dem Ingenieur Santiago, wie aus dem Gesicht geschnitten, und auch sein Sohn Diego trug ähnliche Züge. Markante Merkmale sind das runde Gesicht, das hervorstehende Kinn und die Pausbacken.
Ein weiterer Nachfahre des ersten in Argentinien lebenden Maradona schloss kürzlich ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität von Buenos Aires ab. José Ignacio Maradona verriet der Website Enganche mehr über die familiären Hintergründe des Fußballstars:
»Da es nur wenige von uns Maradonas gibt, wissen wir über unsere Herkunft gut Bescheid. Als Diego seinen Durchbruch feierte, wusste allerdings niemand genau, welchem Zweig der Familie er angehörte. Also sprach mein Vater Don Diego einmal während eines Spiels an und fragte ihn danach. Don Diego kannte seinen Vater nicht, seinen Familiennamen hatte er von der Mutter übernommen, die aus Santiago del Estero stammte. Und die war mit ihm nach Esquina in die Provinz Corrientes gezogen, als er noch klein war.«
Es hatte immer geheißen, Don Diego sei in Esquina geboren worden, nun aber ist anzunehmen, dass sein Geburtsort elf Autostunden entfernt lag. Damals dauerte eine Reise von Santiago del Estero nach Esquina freilich um einiges länger, möglicherweise waren Don Diego und seine Mutter tagelang unterwegs gewesen, bevor sie ihr Ziel erreicht hatten. Warum hatten sie diese Tortur auf sich genommen? Waren sie vor irgendwas davongelaufen?
Don Diego wurde also in Santiago del Estero geboren, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz am Ufer des Río Dulce im Norden Argentiniens. Maradonas Großvater väterlicherseits hinterließ nur eine undeutliche Spur, und Chitoro konnte nicht helfen, sie zurückzuverfolgen.
Vielleicht, nur vielleicht zählte er zu den Nachfahren eines der indigenen Völker, die schon seit Jahrhunderten auf argentinischem Boden lebten. Die von den Spaniern unterdrückt und christianisiert worden waren. Ausgebeutet. In die Armut getrieben. Missachtet. Und im Zuge der Kolonialisierung nahezu ausgerottet. Ihr natürlicher Lebensraum war von den Siedlern, die über die neu gelegten Bahntrassen einreisten, zunehmend zerstört worden.
Mitglieder indigener Volksgruppen konnten als Holzfäller oder Abbrucharbeiter in den Bergen von Santiago arbeiten, andere Möglichkeiten gab es für sie kaum. Sie hatten ihre eigenen Gesetze. Sie legten keinen Wert darauf, ihre Kinder amtlich erfassen zu lassen, und zogen oft um. Während sie genau wussten, woher sie kamen, war ihnen ihr Ziel ungewiss.
Als Jugendlicher lernte Don Diego in Esquina Doña Tota kennen, die er schließlich heiratete. Das ist der Moment, an dem für ihn alles begann. Über die Zeit vor diesem Ereignis sprach er kaum.
Weit entfernt von Esquina trugen sich Dinge zu, die Don Diegos Welt bald völlig auf den Kopf stellten. 1946 gewann Juan Domingo Perón die Präsidentschaftswahlen in Argentinien. Seinen Machtgewinn verdankte er einer populistisch geprägten Politik. Er beschwor den Beginn eines neuen industriellen Zeitalters herauf und versprach Arbeit für alle. Tatsächlich verbesserte seine Wirtschafts- und Sozialpolitik das Leben vieler Arbeiter und verschaffte dem Staat mehr Einfluss auf die Ökonomie des Landes. Perón und seine Frau Evita setzten sich auch für die Rechte von Aussiedlern ein.
Infolge des aufkeimenden Peronismus wurde Buenos Aires in den 1950er Jahren zu einem Anziehungspunkt für die verarmte Landbevölkerung, insbesondere für Menschen aus dem Norden Argentiniens, die motiviert von Pérons Versprechungen in die Hauptstadt strömten. Unter ihnen auch die Eltern von Diego Armando Maradona. Doña Tota hatte als Jugendliche schon einmal in Buenos Aires gelebt und bei Verwandten gearbeitet. Sie hatte sich dort jedoch einsam gefühlt und war nach einiger Zeit nach Esquina zurückgekehrt, um wieder bei Don Diego zu sein. Als ihre Schwester später nach Villa Fiorito zog, überzeugte sie ihren Gatten, dass sie von changa (Saisonarbeit) und dem kleinen Boot, mit dem Chitoro Vieh und Baumaterial transportierte, auf Dauer nicht würden leben können. Sie beschlossen, sich in Buenos Aires ein neues Leben aufzubauen. Doña Tota reiste zunächst jedoch ohne ihren Mann in die Hauptstadt, um die Lage zu sondieren. Sie nahm ihre Tochter María und ihre Mutter Salvadora Cariolicci mit. Als sie eine Bleibe gefunden hatte, holte sie Don Diego nach.
Don Diego verkaufte sein Boot und kehrte seinem alten Leben den Rücken, jedoch nicht ohne innerlich ein paar Tränen zu vergießen. Mit seiner und Doña Totas zweiter Tochter Rita legte er die über 1000 Kilometer lange Reise nach Buenos Aires auf einem Boot auf dem Rio Paraná zurück. Sein Gepäck bestand aus zwei Koffern und einer übergroßen Decke, in die er ein paar Kleidungsstücke, Töpfe und Pfannen eingewickelt hatte. Alles andere ließ er zurück.
Chitoro musste schnell erkennen, wie heruntergekommen Villa Fiorito war. Die Straßen waren dreckig und unbefestigt. Die Häuser bestanden aus Pappe, Holz und Wellblechdächern. Es war eine Gegend für Migranten, ein Ghetto für Benachteiligte und Außenseiter. Buenos Aires lag nicht weit entfernt, doch zwischen der Hauptstadt und dem Elendsviertel floss das trübe Wasser des am stärksten verschmutzten Flusses des Landes.
Eigentlich hatten sich die Maradonas ein leerstehendes Haus vormerken lassen, doch als sie ankamen, war es schon an jemand anderen vermietet worden. Nicht weit entfernt, an der Azamor 523, fanden sie ein anderes Haus. Wie die übrigen verfügte es weder über Strom noch über einen Gasanschluss. Es war nicht das, was Don Diego sich vorgestellt hatte, aber er nahm es stoisch hin. Es war nicht der richtige Moment, um »seinen inneren Indianer herauszulassen«, wie seine Freunde es nannten, wenn er gelegentlich wild herumfluchte.
Kurz nach seiner Ankunft in Villa Fiorito fand Chitoro eine Stelle bei Tritumol, einem Chemiebetrieb, in dem Knochenmehl produziert wurde. Um fünf Uhr früh ging er zur Arbeit und kehrte völlig erschöpft nachts um zehn heim. Dennoch reichte sein Gehalt nicht aus, um die Familie zu ernähren. Aber es gab Menschen, die sie unterstützten, wie Doña Totas Schwester oder der geliebte Onkel Cirilo. Don Diegos Bruder wurde aufgrund seiner eher geringen Körpergröße auch Tapón (dt. Stöpsel) genannt. Er war Amateurtorwart und lebte ganz in der Nähe der Maradonas. Jeder teilte hier mit jedem.
Doña Tota und Don Diego haben bereits vier Töchter – Ana, Rita, María Rosa und Lili –, als ihr erster Sohn Diego Armando am 30. Oktober 1960 in der Evita-Poliklinik in Lanús das Licht der Welt erblickt. Die erste Erinnerung, die Diego an seine Kindheit hat, ist, wie er sich in den Feldern am Rande von Villa Fiorito vor seiner Mutter versteckt, als sie ihn zur Schule bringen will.
Das Haus hatte eine Küche, aber kein fließendes Wasser. Es gab ein Schlafzimmer für die Eltern und die Großmutter und eines für die Kinder, die zum Schluss zu acht waren. Wenn es draußen in Strömen goss, tropfte der Regen durch das Wellblechdach, sodass sich auf dem Lehmboden dunkle Flecken bildeten, die wie kleine Käfer aussahen. Diego erzählt: »Mutter rief dann: ›Holt die Eimer!‹, und wir rannten durchs Haus und stellten die Eimer unter die Lecks, bis sie vollgelaufen waren, dann leerten wir sie durch die Fenster aus.«
An manchen Abenden tranken die Eltern nur Tee, überließen die Mahlzeit den Kindern und gaben vor, nicht sonderlich hungrig zu sein.
Diego spielte Fußball, manchmal bis zu zehn Stunden täglich, wenn es sein musste, auch allein. Dann kickte er den Ball gegen den Bordstein oder einen Pflanzenkübel, was auch immer. »Wir spielten von morgens bis abends auf dem potrero, einem Platz ganz ohne Markierungen, wo einem der Dreck nur so um die Ohren flog. Wenn ich nach Hause kam, war ich völlig eingesaut. Ich sah schrecklich aus! Natürlich wollte mir mein Vater ein paar hinter die Löffel geben, so was machte man einfach nicht mit seinen guten Sachen. Dann flüchtete ich vor ihm und schlug Haken – wodurch sich mein Dribbling verbesserte!«
Diego erinnerte sich, dass er mit dem Ball mühelos Dinge veranstaltete, die anderen schwerfielen. »Ich konnte den Ball etwa mit meiner Ferse kontrollieren. Wenn jemand anderes aus der Mannschaft das versuchte, landete er auf den Knien. Mein Vater hat mir das nicht beigebracht, der war ein lausiger Spieler. Mein Onkel sagte immer: ›Sein Fußballtalent hat Pelu gewiss nicht von dir.‹« Pelu ist eine Kurzform für Pelusa, zu Deutsch Fluse, in Anspielung auf das volle Haar, das Maradona reichlich hatte.
An dem Tag, an dem Francis Cornejo bei den Maradonas vorsprach, um Diegos Alter zu überprüfen, war der Vater auf der Arbeit. Es war ein Samstag, aber er sagte nie Nein, wenn er etwas dazuverdienen konnte. Cornejo lernte Don Diego erst kennen, als der mit seinem Sohn zum Training kam – die beiden hatten den Zug und mehrere Busse nehmen müssen, um dorthin zu kommen. »Mein Vater brachte mich mit dem Bus zum Zug und war völlig erschöpft«, beschrieb Diego die Szene. »Er hielt sich am Handlauf fest, und ich stand unter seinem Arm und stützte ihn auf Zehenspitzen stehend, weil er im Stehen einschlief. So kamen wir gemeinsam voran, indem wir einander stützten.«
Cornejo schildert Don Diego als einen Mann, der nicht viel Worte machte, aber starke Überzeugungen hatte. Er und auch Doña Tota begleiteten Diego zu all seinen Spielen. José Trotta holte sie mit seinem Pick-up ab. Die Eltern saßen bei ihm in der Fahrerkabine, während Trainer Francis bei den Jungs auf der Ladefläche mitfuhr. Es waren willkommene Ausflüge für die Familie. Sie überquerten die Alsina-Brücke, wenige hundert Meter von ihrem Haus entfernt – durch die hölzernen Planken sah Diego das schlammige Wasser –, und befanden sich auf der anderen Seite auf dem Markt von Pompeya mit seinen Verkaufsständen für Spielwaren und Schuhe und T-Shirts (»Da gab es Shirts, die meine Schwester haben wollte, und Shirts, die ich haben wollte«, erinnert er sich).
Die Maradonas gingen selten shoppen, und wenn, waren die einzelnen Familienmitglieder reihum an der Reihe. »Heute kann sich María ein Paar Schuhe kaufen, das nächste Mal bist du dran, Pelu. Was hättest du gerne?«
»Ein kleines Holzpferd.«
»Mach dich nicht lächerlich, du brauchst etwas zum Anziehen.«
»Oh, papi, dann ein T-Shirt.«
»In Ordnung.« Dasjenige, das sie dann auswählten, blieb für immer in der Familie, ein Kind vererbte es dem nächsten, bis es schließlich als Putzlappen diente.
Gelegentlich musste sich Diego auch eine Unterhose vom Vater leihen. Der Journalist Diego Borinsky wollte einmal von ihm wissen, ob er nie versucht gewesen wäre zu stehlen, wie es so viele seiner Altersgenossen taten. »Oh nein, mein Vater hätte mich grün und blau geschlagen. Er hat mir die für seine Verhältnisse bestmögliche Erziehung zukommen lassen. Ganz gleich, welche Fehler ich später begangen habe –, mein Vater trägt keine Schuld daran.«
Als Diego noch bei den Cebollitas spielte, bevor er mit 15 zur Jugendmannschaft der Argentinos kam, putzte und polierte sein Vater seine Fußballschuhe so lange, bis sie wie neu aussahen. Selbst als Diego mit 18 zum Hauptversorger der Familie wurde und seinen Vater bat, nicht mehr arbeiten zu gehen, blieben seine Eltern für ihn tonangebend. Diego brauchte das, er benötigte seit jeher Führung und einen festen Bezugspunkt, an dem er sich klar orientieren konnte.
Mit seiner eher schweigsamen Art überließ Don Diego normalerweise seiner Frau das Reden, bis er keine Lust mehr hatte zuzuhören oder ihm etwas auf der Seele brannte. Obschon klein von Statur, konnte er zu einem wahren Riesen anwachsen, wenn er sich Gehör verschaffen wollte. Oder er Doña Tota zum Schweigen bringen musste. Manchmal reichte dazu auch nur ein Blick. Wenn Diegos Fitnesstrainer Fernando Signorini seinen Schützling zur Ordnung rufen musste, holte er oft Don Diego zu Hilfe. In seiner Gegenwart hatten die Albernheiten seines Sohnes schnell ein Ende.
Er ging ihm nicht darum, Angst zu verbreiten, sondern Respekt einzufordern. Die Furchtlosigkeit, die er im späteren Leben an den Tag legte, wenn er die Reichen und Mächtigen hinterfragte oder sich über sie lustig machte, gründete nicht in einer grundsätzlichen Abneigung gegenüber Autoritäten, vielmehr protestierte er damit gegen alle, die ihre Macht missbrauchten und ihre Augen vor den Nöten jener Menschen verschlossen, die – wie einst er und seine Familie – eng zusammengepfercht in Villa Fiorito und den etwa 800 ähnlichen Siedlungen rund um Buenos Aires lebten.
Als Kind war Maradona einfühlsam, höflich und aufmerksam, wenn auch ein bisschen frech. Einmal fand Doña Tota heraus, dass sich seine Schulnoten nur deshalb wie von Zauberhand verbessert hatten, weil er einen Lehrer bezirzt hatte. Sie sprach mit ihrem Mann darüber, und Don Diego verbot seinem Sohn fast zwei Wochen lang, zum Training zu gehen. Chitoro ärgerte sich über jeden, der sich nicht an die Regeln hielt. Er war sehr gewissenhaft und pedantisch. Wenn er sagte: »Morgen früh um fünf fahren wir nach Corrientes zum Fischen«, saß er Punkt fünf im Wagen und wartete auf niemanden. Es war die einzige Möglichkeit, in eine chaotische Welt aus Wellblechdächern und Pappkartonwänden wenigstens den Anschein von Ordnung zu bringen.
Nachdem sie zwischenzeitlich in einem Haus nahe der Heimspielstätte der Argentinos Juniors gewohnt hatten, zogen Don Diego und Doña Tota in eine Wohnung, die ihr Sohn ihnen gekauft hatte. Sie lag in Villa Devoto, einem der besseren Wohnviertel von Buenos Aires, und verfügte über einen großen Innenhof, einen Fernseher, der fast immer lief, und natürlich einen Grill, über den Don Diego herrschte, stets mit einer Zigarette im Mund. Es war leichter, Diego vom Fußballfeld zu locken, als seinen Vater von seinem Grill loszueisen.
Auch in späteren Jahren, lange nach seiner Zeit bei den Cebollitas, kamen die Eltern zu Diegos Spielen, ob er nun für die erste Mannschaft der Argentinos auflief, für die Boca Juniors oder auch den FC Barcelona. Das Haus der Maradonas in der katalanischen Hauptstadt lag hoch oben auf einem der Stadthügel. Es verfügte über eine riesige Küche, in der Doña Tota stundenlang Speisen für die vielen Gäste zubereitete, die oft spontan bei ihnen vorbeikamen. Don Diego beobachtete dieses Treiben aus der Ferne, er blieb unsichtbar, war aber dennoch omnipräsent. Die Zuneigung, die die Eltern für ihren Sohn empfanden, war grenzenlos. Je länger sie mitansahen, wie er sich in sein künstliches Paradies zurückzog, und je bewusster ihnen seine Schwächen wurden, desto tiefer wurde die Loyalität, die sie ihm gegenüber empfanden. Aber sicherlich lasteten der Druck der Verantwortung, die fehlende Kontrolle und das Zusammenleben mit einem Menschen, der so anders war als alle anderen, sehr auf ihnen.
Immer, wenn Chitoro gefragt wurde, wie es war, Diegos Vater zu sein, rang er um Fassung. »Wenn ich über die Straße gehe, werde ich von allen angesprochen: ›Glückwunsch zu ihrem Sohn‹, sagen sie. Und ich weiß gar nicht, was ich darauf antworten soll«, hier begann seine Stimme zu brechen. »Ich weiß, dass er der Beste ist, aber ich kann Ihnen versichern, dass er als Sohn noch weit besser ist denn als Fußballer.« Danach kamen ihm die Tränen.
»Er ist eine Heulsuse«, sagte Diego oft, kämpfte dabei aber selbst gegen seine Tränen der Rührung an. »Ich hätte gerne nur ein Prozent von dem, was er ist. Er ist großmütig und würdevoll. Ein ganzes Leben lang hat er darum gekämpft, uns durchzubringen. Als ich klein war, wollte ich so werden wie er, und jetzt als Erwachsener will ich das immer noch. Nur eine Stunde lang möchte ich die Ruhe erleben, die ihm zu eigen ist. Dann kann ich glücklich sterben.«
Es ist der Lauf der Dinge, dass unsere Väter eines Tages aus unserem Leben scheiden. Don Diego, der lange unter Atemwegs- und Herzproblemen litt, fand seine letzte Ruhe mit 87 Jahren nach einem einmonatigen Aufenthalt im Hospital Los Arcos in Buenos Aires.
Guillermo Blanco, der Maradona noch aus Teenagertagen kannte, reiste nach Buenos Aires, wo er sich mit Fernando Signorini verabredet hatte. Zusammen machten sie sich auf den Weg zu Don Diegos Totenwache. Um den Medien aus dem Weg zu gehen, wählten sie dafür bewusst die frühen Morgenstunden, aber es waren trotzdem eine Menge Menschen vor Ort. Der extrem übergewichtige Diego hatte sich hingesetzt, er war gerade aus Dubai gekommen, wo er zu jener Zeit wohnte.
»Diego, El Profe und Guille sind hier«, verriet ihm seine Sekretärin. Guillermo blickte dem gealterten Fußballer tief in die Augen und suchte darin nach dem wahren Maradona. Blanco fiel sofort auf, wie müde Diego nach fünf Jahrzehnten voller Abenteuer wirkte.
Es waren Jahre vergangen, seit sich die Männer zum letzten Mal gesehen hatten. Diego erhob sich langsam von seinem Stuhl. Seine Leibesfülle war ihm im Weg, der traurige Ausdruck in seinem Gesicht sagte alles. Wiederholt schlug er Signorini gegen die Brust. Zwischen jedem Klaps schien eine Ewigkeit zu vergehen, man hatte das Gefühl, der Szene eines Theaterstücks beizuwohnen. Hier agierte Maradona, die Kunstfigur, nicht Diego, der Junge. Er versuchte seine Trauer mit großen Gesten unter den Teppich zu kehren. Erst wenn er allein war, würde Diego sich daran erinnern, wie sein Vater seine Fußballschuhe gewienert hatte, wie er in dem Bus, mit dem sie zum Training gefahren waren, eingeschlafen war. Die Trauer und der Verlust würden ihn übermannen. Aber hier, bei der Totenwache, spielte Maradona eine Rolle und zögerte den Zeitpunkt, an dem ihn der Schmerz mit voller Wucht überwältigen würde, hinaus.
»Ich habe heute an dich gedacht, du Hurensohn«, sagte er zu Signorini. »Erinnerst du dich noch an den Tag, als wir gegen Rom spielten, damals, in unserem ersten Jahr in Neapel? Ich konnte nicht schlafen und bat dich, zu mir aufs Zimmer zu kommen. Wir setzten uns auf den Boden. Ich erzählte dir, dass ich lieber selbst sterben würde, als meine Mutter oder meinen Vater sterben zu sehen. Weißt du noch, was du mir geantwortet hast?«
Signorini versuchte zu lächeln: »Ich sagte, du seist ein Waschlappen, da das nun mal der natürliche Lauf der Dinge ist. Du solltest dir niemals wünschen, das Leid deiner Eltern gegen dein eigenes eintauschen zu können.«
Don Diegos Totenwache dauerte die ganze Nacht, und gegen Mittag machten sich die Männer auf zu der Trauerfeier auf dem Friedhof Jardín Bella Vista am Stadtrand von Buenos Aires.
Diego Armando Maradona war im Alter von 55 Jahren eine Waise geworden.