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Kapitel 20 Schadhafte Deiche

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Missgestimmt runzelte Lütet Manninga, der Häuptling von Westeel, die Stirn. Gerade die Deichanlage abschreitend, kam er zu dem unerfreulichen Ergebnis, dass wieder einmal dringende Ausbesserungsarbeiten notwendig wurden. Lange Deichstrecken waren von Mäusen zerwühlt. In diesem Zustand konnte der Deich kaum einer Sturmflut trotzen. Manninga wusste das, aber er wusste auch, dass die Bauern sich sträuben würden, Hilfskräfte, Geld und Gespanne zur Verfügung zu stellen. Noch einmal blickte er besorgt zurück, ehe er sich nachdenklich auf den Heimweg machte. Seidenmatt glänzten die grauen, von silbernen Prielen durchzogenen Watten in der Sonne. Der warme Wind trug ihm von dort das fröhliche Lachen der Kinder zu. Bis an die Knie versanken die Kleinen manchmal im Schlick. Die Buben gruben nach Wattwürmern zum Angeln oder sammelten Treibgut. Manche grabbelten im Schlick oder in den Prielen nach dem Butt.

Lütet Manninga hatte das als Junge selbst oft getan. Er erinnert sich noch sehr genau an das Gefühl, wenn der Butt unter dem nackten Fuß zappelt. Man muss die Zehen tüchtig festkrallen, sonst entwischt der Fisch wieder, ehe man ihn packen kann. Ganz fleißige Grabbler bedienen sich nicht nur ihrer Füße und Hände, sondern arbeiten auch mit dem Mund, indem sie den zappelnden, flatternden Butt mit den Zähnen festhalten, um Zeit zu sparen für den nächsten Fang, ehe die Fische in den Weidenkorb wandern. Eklig! Das hatte er nie fertig gebracht. Nur zwei Krabben hatte er einmal geschluckt – lebend! Widerlich war’s! Die vielen kribbelnden, zappelnden Beine – der harte Panzer blieb beinahe im Hals stecken – abscheulich! Aber was tut man nicht alles wegen einer dummen Wette! - Einige kleine Mädchen liefen lachend an ihm vorbei, den Deich hinauf. Ihr Weg führte gewiss zum Muschelweiblein, deren kümmerliche Hütte die Deichkrone zierte. Die Hände voller hübscher, perlmuttglänzender Muscheln, freuten die Mädchen sich schon im Vorhinein auf die hübschen Schmuckketten, die das Muschelweiblein ihnen daraus anfertigen würde. Mädchen lieben so etwas! Jungen schätzen dagegen eher handfestere Dinge, die auch etwas einbringen. Wenn Lütet Manninga so zurückdachte, dann sah er sich selbst den Deich entlang rennen, einen Eimer Wattwürmer in der einen, Wollknäuel und Stock in der anderen Hand. Dann ging’s los! Aale pieren:

Zuerst einmal die Würmer mit der Nadel auf den Wollfaden ziehen, von dem dann ein dickes Knäuel gemacht wird, beschwert mit einem Bleigewicht. Das ganze am Stock befestigt, ergibt die Angel. – Endlich vorsichtig ins Wasser lassen – nicht zu weit, nicht bis auf den Grund – da! – schon hat einer gebissen. Schnell den Kescher her, langsam die Angel hochziehen... vorsichtig – noch ein Stückchen... noch ein Stückchen... jetzt! ... mit Schwung ins Fangnetz. Ha! Ein prächtiger Aal! - Zu kleine Tiere rutschen durch den Kescher gleich wieder zurück ins Wasser, nur die großen, lohnenden bleiben gefangen. Welch ein Spaß! – Ob die Kinder heute auch noch so viel Freude daran haben? Möglich. Vielleicht ziehen sie es auch vor, nur so herumzutollen wie die da drüben, die in den Ruinen der Onninga-Burg spielen und herumklettern. - Die Onninga-Burg haben wir vor zehn Jahren ausdeichen müssen, nachdem der Deich nach der schweren Marcellusflut nicht mehr reparabel gewesen ist, denkt Lütet Manninga. Er bleibt stehen, tritt mit dem Fuß einen Maulwurfhaufen platt. Nicht zuletzt für sie, für die Kinder, muss die Instandsetzung des Deiches umgehend in Angriff genommen werden. Es gibt keine andere Wahl, aber sie werden es nicht wollen. „Wer nicht will deichen, muss weichen!” sagt Lütet laut, und er weiß, dass dies im eigentlichen Sinne nicht eine Frage des Willens, sondern vielmehr der Möglichkeiten des Einzelnen und der Gemeinschaft ist. Selbstverständlich will jeder sein Land geschützt wissen. Aber da gibt es besonders gefährdete Deichstrecken, die mehr Mittel verschlingen als andere. Die Betroffenen wehren sich häufig gegen die harten Deichlasten, suchen manchmal, die Instandsetzungsarbeiten hinauszuzögern, wenn das notwendige Geld fehlt oder das Gesinde für andere wichtige Arbeiten – Hof, Feldbestellung, Ernte – gebraucht wird. Für solche Fälle gibt es das Spatenrecht, das mit Enteignung droht, wenn der Landbesitzer seinen Deichpflichten nicht nachkommt.

Wir müssen vorsorgen, so bitter die Deichlast den Einzelnen auch treffen mag, denkt Manninga, denn wer besitzt schon Mittel und Kraft genug, einen neuen Deich zu ziehen, wenn der alte von einer Flut fortgeschwemmt ist? Schon bei der Deichschau zu Bartholomeus (24. August) gab es leichte Schäden. Aber jetzt sieht es arg aus!- Die Menschen verdrängen das Leid, das verwüstete Land. Erst gut zehn Jahre ist die Marcellusflut jetzt her, die man die ‚Große Manntränke’ nennt. Ist es zuviel verlangt, dass sich heute noch jemand die Schrecken der Flut als Warnung zu Herzen nimmt? Möglich, man will das Leben genießen, jetzt und heute..., man will nicht jede Münze in die Deiche stecken. Dann bleibt ja nichts mehr übrig für ein einigermaßen angenehmes Leben. Dieser Kampf mit dem Meer ist fast wie Krieg. Immer wieder wird gesagt ‚Nie wieder Krieg!’ und doch dauert es nicht lange, bis der nächste Krieg ausbricht. Ebenso sagt man ‚Nie wieder Land unter!’ und doch versäumt man es, dem mit aller Kraft entgegenzuwirken. Stattdessen freut man sich über die vielen komischen Histörchen, lacht über die Rindviecher, die auf einer Erdscholle irgendwo auf fremdes Land geschwemmt wurden und lustig weiterfraßen als sei nichts geschehen; oder über den Geistlichen, der in einem Jauchefass ganz nach Wangerland abgetrieben worden war. Lütet Manninga seufzte tief. Er sah unausweichlich Auseinandersetzungen auf sich zukommen. Nun denn, die Angehörigen der Deichacht mussten zusammengerufen werden, die Angelegenheit durchzusprechen...

Verärgerung sprang den Häuptling von Westeel an wie ein wütendes Tier. Soeben seine Ausführungen über die Notwendigkeit von Instandsetzungsarbeiten beendend, sah er sich einem wüsten Protestgeschrei gegenüber. Ziemlich respektlos drängten die Deichachtmitglieder gegen seinen Hochstuhl vor, krakeelten lärmend durcheinander. Unwillig gebot Manninga Ruhe und fragte nach Einwänden gegen die erforderlichen Arbeiten.

„Ja, wir haben Einwände!” rief der Schulze. „Seit dem Marcellustag anno 1362 ist keine große Flut mehr gewesen. So schlimm sind die Schäden gar nicht. Da kann man durchaus noch etwas warten. Im Frühjahr, da passt es besser, da kann man gleich die Winterschäden beseitigen und den Deich erhöhen.”

„Hört! Hört! Im Frühjahr! Dann wollt ihr doch eure Felder bestellen!” rief Lütet Manninga und seine Augen funkelten ungemütlich. „Ihr schiebt alles Unangenehme vor euch her. Wollt ihr warten, bis es mal wieder zu spät ist? Ist es so?”

„Jetzt müssen wir uns um die Ernte kümmern, Häuptling! Das leuchtet doch wohl ein, oder? Warum sollte Gott uns wohl gerade in diesem Jahr mit der Sturmflut geißeln, wo er das Kirchspiel doch mit einer besonders reichen Ernte belohnt hat?” Zustimmendes Gemurmel unter den Bauern, dann schrie einer übermütig: „Ja, das meine ich auch! Wir haben Korn in Hülle und Fülle! Wenn wir es dreschen, bleibt mehr Korn als Stroh übrig. Ha, wir könnten gar damit deichen!”

Dröhnendes Gelächter! - Ungeduldig schlug Manninga mit der Faust auf die prächtig geschnitzte Armlehne seines Häuptlingsstuhles: „Das ist Anmaßung! Ihr sitzt geruhsam auf eurer Scholle und wartet, bis sie euch wegschwimmt, mit allem was darauf ist. Habt ihr die Große Manntränke vergessen? Habt ihr euren Schwur vergessen, es nie wieder soweit kommen zu lassen? Habt ihr das Leid und die Not vergessen? Seid ihr Tiere, die nur fressen und saufen und schlafen können? Die warten, bis sie geschlachtet werden? Denkt an eure Familie, euer Haus, das Land, das Vieh! Ihr seid in der Pflicht! Verpflichtet, sage ich, seid ihr, das alles zu schützen vor der drohenden Gefahr! Und denkt daran, der Deich ist nur so stark wie seine schwächste Stelle!”

„Seine schw... schwächste St... Ste... Stelle! Wo ist die de... denn. Wo? Kein Me... Mensch weiß wo... wo... wo die ist!” stotterte einer vor Aufregung. „Weil’s k... ka... ka... keine gibt!”

„Ha, Lütet! So rabenschwarz wie du es ausmalst, ist es sicher nicht. Du übertreibst immer so. Das kennt man ja schon. Das Land ist fruchtbar und gut. Als ich gestern zum Deich ging, wurden mir die Füße gelb von Klee. Ja, auch ich habe mir die Deichanlage angesehen, Lütet, und ich verstehe was davon. Wird wohl keiner bestreiten, nicht mal du! Schließlich bin ich nicht grundlos zum Deichrichter gewählt. Du übertreibst mächtig! Und das auf unserem Buckel. Ein paar harmlose kleine Wühlmäuschen lassen...”

„...da sind keine Wühlmäuse! Du lügst!” unterbrach ein anderer wutschäumend.

„Sei still, du alter Geizhals! Sicher gibt’s da Wühlmäuse! Aber die lassen den Deich nicht gleich zusammenstürzen!”

„Jan hat Recht! Gestern klagte mir eine Magd, dass sie die Wülste, worauf sie die Milcheimer trägt, nicht wiederfinden konnte. Und wann hatte sie die verloren? Na? Letzte Woche?” Man rief ihm ein halbes Dutzend Wochentage zu. „Nein, nein, nein, alles falsch... Das glaubt ihr nie! Am Vortag hatte sie die verloren, am Vortag! So schnell wächst das Gras!”

„Dummkopf! Deine Magd lügt! Und dazu noch nicht einmal besonders gut. Darauf bist du wohl noch nicht gekommen?!” Gelächter – Gemurmel – Mutmaßungen über das Treiben einer Kuhmagd, größte Heiterkeit auslösend. Lütet Manninga schlug sofort in die Kerbe: „Wenn bei dir das Gras so schnell wächst, Ommo, so kannst du mit Leichtigkeit Grassoden für den Deichbau hergeben!”

„Ich? Soden hergeben? Du bist nicht recht gescheit! Lieber kannst du mir soviel Haare von Kopf reißen wie du Soden haben willst!” Die Männer brüllten vor Lachen, dass tatsächlich die dünne Bretterwand zum Flur wackelte; zumindest deren Vertäfelung erbebte.

„Bei deiner Glatze würden wir damit nicht weit kommen!” fauchte Manninga, ganz und gar nicht amüsiert.

„Eben drum! Von mir kriegst du nicht eher Grassoden, als bis mein Land einen Spieß hoch unter Wasser steht!”

Da hätte Lütet Manninga dem Ommo doch am liebsten die Faust ins Lästermaul gestopft. Verärgert presste hervor: „Und wenn ihr euch noch so sehr sträubt, und wenn ihr lacht, dass die Decke hier einstürzt, das schwöre ich euch: Gedeicht wird! Ich habe hier niedergeschrieben...”, er bohrte seinen Zeigefinger in das auf seinen Knien liegende Pergament, „ich habe hier jedem die zumutbaren Deichlasten auferlegt. Ich werde Mittel und Wege finden, dies durchzusetzen, verlasst euch darauf. So wahr ich euer Deichgraf bin und so wahr mir Gott helfe!”

Abschätziges Gemurmel. Als „Deichgraf“ betitelte Lütet Manninga sich, das hörte man nicht gern. – Deichvogt war in Ordnung, aber Deichgraf schien den meisten Leuten denn doch reichlich anmaßend.

Nanu? Versammlung schon beendet? Wie ging’s?” Adda war verblüfft, ihrem Onkel Lütet zu begegnen. Keine Stunde hatte die Zusammenkunft mit den Deichachtmitgliedern gedauert, und dabei hatte er doch gesagt, dass man nicht mit dem Abendessen auf ihn warten solle. Seine düstere Miene verhieß nichts Gutes. Er schloss gerade die Tür zum Prunksaal hinter sich, als ihm einige Pergamentrollen unter dem Arm wegkullerten. Adda half beim Aufsammeln. Da waren Zeichnungen drauf vom Verlauf der Deiche und Schraffierungen. Adda fragte, ob das die kaputten Stellen wären.

„Ach, frag mich nicht. Die sitzen auf ihren Höfen und denken nur daran, die Scheuern möglichst vollzustopfen. Alles andere ist ihnen gleichgültig. Der Schulze, alle sind sie gegen mich. Allein kann ich nichts ausrichten, das wissen die Swienegels. Zwar untersteht mir die Deichacht, aber in der Gewalt habe ich sie nicht, nicht wirklich. Trotzdem, ich muss sie zwingen! Sie haben mich ausgelacht, Adda. Hast du’s nicht gesehen, wie sie mit grinsenden Gesichtern von dannen gezogen sind? Stell dir vor, sie führen frevelhafte Reden, diese Holzköpfe! Vorerst haben sie gesiegt, aber das ist ein verderblicher Sieg, sage ich dir... Wenn es zu spät ist, dann ist das Klagen groß. Aber noch gebe ich mich nicht geschlagen, so rasch gibt ein Manninga nicht auf!”

„Aber Onkel, was willst du tun?”

Grübelnd zuckte er die Achseln, machte ein bitteres Gesicht. „Ja, wenn ich das wüsste, dann wäre ich schon ein Stück weiter. Ich muss mir wohl was Kluges einfallen lassen! Vielleicht sollte man rigoros die Deichabgaben erhöhen. Aber nein, das geht ja nicht, da ist die Deichacht davor… Und das nützt auch nichts. So viel Geld kommt eh‘ nicht zusammen, dass ich fremde Arbeiter aus Holland bezahlen kann, ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, die Arbeiter so schnell anzuwerben. Nicht genug, dass ich die größte Deichlast trage; nicht genug, dass es mich das meiste Geld kostet, muss ich mich auch noch verhöhnen lassen! Habe ich das nötig?”

Die unverblümte Absage der Deichacht trug nicht gerade dazu bei, Lütets Laune aufzubessern. Er schaute Adda an, als erwarte er eine Antwort, einen guten Rat vielleicht. Das weitere Vorgehen, mit Deichschau und Zusammenkünften war Adda hinreichend bekannt. Was also sollte sie dazu sagen? Ausschalten konnte man die Deichacht nicht, und etwas gegen ihren Willen durchzudrücken, war ebenfalls fast unmöglich. „Man muss Geduld haben und warten können”, erwiderte sie schließlich.

„Warten können! Geduld haben! Liebes Kind, wir haben keine Zeit zu verlieren. Darum geht es doch.” Er wollte sich abwenden, aber da sagte sie rasch: „Ja, schon, aber ich denke, ein paar Wochen wird es schon noch dauern, ihre Meinung zu ändern.” Da blieb Manninga nachdenklich stehen, schaute ihr forschend in die Augen und fragte misstrauisch, ob sie ihn wohl veräppeln wolle. „Aber nein! Ich habe nur gerade eine prächtige Idee. Wenn das gelingt, und das wird es ganz bestimmt, dann wird bald gedeicht.” Solch vage Andeutungen überzeugten Lütet natürlich nicht und so höhnte er, ob sie die Leute mit Waffengewalt zu ihrem Glück zwingen wolle.

Nein, mit List wolle sie siegen, mit List.

„Hört sich gut an. Und was willst du tun?”

„Lass mich nur machen. Vertrau mir. Es wird bestimmt gelingen!” Lachend ließ sie ihn stehen und eilte davon, ohne sich näher zu erklären.

Chroniken der tom Brook

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