Читать книгу Chroniken der tom Brook - Gunda von Dehn - Страница 27

Kapitel 25 Sturmflut

Оглавление

Wie ein furchtbares Raubtier stürzt die Flut sich auf die drei Frauen. Mit Mühe stemmen sie sich gegen den Sturm. Sind die Wogen haushoch? Nein, sicher noch höher! Spürend, dass ihnen unaufhörlich jemand folgt, schaut Adda sich um. Eine Kuh! Weiß der Himmel, woher die so plötzlich kommt.

Zur Rechten tobt das Meer, Trümmer mitschwemmend. An einen Balken klammert sich ein Mensch. Nein, man kann ihn nicht auf den Deich hinaufziehen. Schon hat eine mächtige Woge ihn verschlungen. - Hinter ihnen tosendes, mächtiges Rauschen, donnernd, rollend. Entsetzt reißt Adda den Kopf herum. Die Kuh ist weg - verschwunden! Ein ganzes Deichstück stürzt zusammen, ein letztes verzweifeltes Brüllen übertönt das Brausen von Sturm und See, dann strömt mit ungeheurer Wucht das Meer durch die entstandene Bracke. - Die fast besinnungslose Alte mit sich zerrend, stürzt Adda vorwärts. Plötzlich fällt ihr die Frauke ein. Frauke! Wo ist Frauke?! Abgestürzt mit dem Deich? Nein, da kommt sie gekrochen, klammert sich an die Grasbüschel, zieht sich mühsam voran. Zurück! Adda muss zurück, muss ihr helfen! Es sind ja nur wenige Schritte! Sie drückt die alte Frau zu Boden. Die krallt instinktiv ihre gichtknotigen Finger in Gras und Erde. Wie weit noch zur sicheren Kirche? Nicht mehr weit und doch unendlich. Licht funkelt von dort herüber, anheimelndes, lockendes, warmes Licht. Beide, die alte und die schwangere Frau, wird Adda dorthin bringen, wenn nicht der Deich vor ihnen bricht; wenn nicht schon irgendwo da vorne eine weitere Bracke gerissen ist, die ihnen den Weg versperrt. Auch damit muss man rechnen. Weiter, nur weiter. Sie muss voran eilen, trotz Angst und Erschöpfung. Endlich hat sie Frauke erreicht, zerrt sie hoch, fasst sie unter. Erneut quälen sie sich vorwärts gegen den mörderischen Sturm. - Zerrissen vom Toben der Gewalten schrillt ein Hilferuf durch die Nacht. Vor ihren Augen spült die hochgehende See das alte Muschelweiblein vom Deich. Rettung gibt es nicht...Vorwärts! Nur nicht hinsehen! Nur nicht aufgeben! Jetzt geht es darum, ihr eigenes Leben zu retten!

Trümmer, Bäume, Hausrat treiben in der klatschenden, tosenden Flut. Wenige Schritte noch und sie sind in Sicherheit. - Immer schwerer scheint Frauke zu werden, hängt bleischwer an Addas Arm wie ein nasser Sandsack. Selbst schon nahezu besinnungslos vor Anstrengung, kann Adda sie fast nicht mehr halten. Der Sturm schlägt ihren wassergetränkten Mantel auf und nieder. - Endlich! Eine Gestalt kämpft sich durch den heulenden Sturm. Man kann nicht erkennen, ob Frau oder Mann. Sicher ein Mann.

Mit ungeheurer Kraftanstrengung zieht Adda die stolpernde Frau mit sich, bohrt bei jedem Schritt den Pattstock in den Grund, um Halt zu finden.

Schon ist der Retter da, packt sie... Halleluja!

Eine neue Woge rollt heran, schlägt donnernd über sie hinweg. Merkwürdig, unter Addas Füßen wird der Boden plötzlich weich; ihr ist, als versinke sie. - Nein, doch nicht! Nur noch wenige Schritte und sie sind in sicherer Obhut.

Addas Hand verlierend, schreit Frauke auf in Todesangst, versucht ihren wehenden Mantel zu fassen. - Vergebens. - Adda wendet sich um, will Fraukes Hand ergreifen. Zu spät. - Wo sie eben noch gestanden hat, beginnt der Deich zu bersten, löst sich die Erde auf zu einem schwimmenden Brei...

Adda sieht noch, wie der Retter Fraukes Mantel erwischt, wie er ihr etwas zubrüllt, ehe eine neue Woge über sie hinwegfegt. Mit ganzer Kraft versucht der Mann, die schwangere Frau über die schwankende Bruchstelle zu reißen. - Angstschreie gellen durch die Nacht - wie die eines Kindes - übertönen das Brausen und Donnern von Meer und Sturm. Sich auf den Boden werfend, robbt Adda vorwärts. Hinter ihr die donnernde Flut. Vorwärts, vorwärts, nur nicht umsehen, nicht zurückblicken. „Frauke! Wo ist Frauke?!” Addas Stimme überschlägt sich, Herz und Atem fliegen. Alles dreht sich vor ihren Augen. Trotzdem blickt sie beherzt zurück, sieht irgendetwas schwankend auf sich zukommen; jemand, der sich mit Mühe auf den Beinen hält. Ein Mensch - ein Mensch kämpft sich durch Wind und Wasserberge, schleift etwas Helles hinter sich her. - Frauke! Es muss Frauke sein! In diesem schrecklichen Augenblick muss sie einfach daran glauben, dass ihre Freundin gerettet und nicht mit dem Deich in die Tiefe gestürzt ist, sonst würde sie den Verstand verlieren. Hochgerissen von einer heftigen Windbö fliegt Addas Mantel davon, landeinwärts - irgendwohin in die Schwärze... Alles dreht sich in wirbelndem Strudel, ihr Körper sinkt in den Abgrund... Nein, doch nicht. Jemand hilft ihr auf, stützt sie; jetzt geht es leichter voran.

Herunter vom Deich, durch brausende, rauschende Strudel. Trümmer schlagen schmerzhaft gegen ihre Beine, bringen sie fast zu Fall. Mit ungeheurer Geschwindigkeit steigt das Wasser. Wie aus dem Höllenschlund quellen die Wassermassen hervor, als sei das Weltenende gekommen. Adda sieht nicht, wohin sie ihren Fuß setzt, lässt sich willenlos führen, froh, nicht selbst denken zu müssen. Das brodelnde Wasser reicht schon übers Knie, hindert den Schritt. Eine Puppe schießt an ihnen vorbei. Eine Puppe? Nur eine Puppe? Oder ein Mensch? Ein Kind? Solch ein winzig kleines Kind wie Himas Neugeborenes, das man in das Loch im Deich geworfen und lebendig begraben hat? Vielleicht ist es gar Himas Kind, das die wütende See herausgespült hat aus seinem Grab. Der Fluch! Himas Fluch! Jetzt geht er in Erfüllung!

Ein mächtiger Strom versperrt ihnen den Weg. Mitgerissen, treibt ein blökendes, strampelndes Schaf vorüber. Durch diesen mörderischen Strom müssen sie hindurch? Das geht nicht! Unmöglich! Wohin aber dann? Willenlos folgt Adda dem kräftigen Druck des Armes, der ihre Schulter fest umspannt. Zurück! Umkehren! Adda spürt ihre Kräfte schwinden, aber der Mann neben ihr zwingt sie erbarmungslos weiter. Was ist das? Sie kann es kaum glauben; nur wenige Schritte entfernt steht ein gewaltiger Baum, ja sogar ein Haus! Rettung!

Unaufhörlich steigt das Wasser, reicht Adda schon bis zur Hüfte; abgebrochene Äste, Heu, Laub, Getreidehocken, Tierleichen, ein abgerissenes Dach schwimmen darin. Der aufgewühlte Schlamm scheint Addas Körper nach unten zu ziehen, so wie damals, als sie um Haaresbreite im Moor ertrunken wäre. „Ich kann nicht mehr”, keucht sie atemlos. Ob der Mann das gehört hat? Unwahrscheinlich. Die Worte fliegen im Sturm davon, noch ehe sie ausgesprochen sind. Dennoch, der Mann hebt sie auf, schleppt sie weiter. Hatte er gefühlt wie ihr Körper wegsackte? An seinen Hals geklammert, hört sie das Brechen und Bersten von Holz neben sich, nein - über sich. Sie weiß nicht mehr, was sie hört, kann kaum glauben, was sie sieht. Mit mächtiger Faust dreht der Sturm den großen Baum ab, schleudert ihn krachend auf das rettende Haus. Einen Moment schöpft der Mann Atem, setzt Adda ab, starrt auf den zertrümmerten Dachstuhl, dann auf das erschöpfte Mädchen an seiner Seite. Es hilft nichts, sie müssen dort hinauf. Eine andere Möglichkeit bleibt nicht. Ihm selbst wird es zweifellos gelingen. Aber das Mädchen? Soll er es mitnehmen? Oder seinem Schicksal überlassen? Seine Gedanken erahnend, blickt Adda angstvoll zu ihm auf. Da fasst er beruhigend ihre Hand, deutet auf das Dach, zieht sie mit sich zu dem quer darüber liegenden Baum. Über den Baum müssen sie klettern, auch wenn es noch so gefährlich ist; kein anderer Weg steht ihnen mehr offen. Entschlossen löst der Mann seinen Gürtel, schlingt das Leder um Addas Handgelenk durch die eiserne Schnalle, windet das andere Ende um seine Faust. - Eisig umspült die Flut die um ihr Leben ringenden Menschen und auch Addas Füße sind wie Eis so kalt.

Den Baumstamm erklimmend, zerrt der fremde Mann Adda hinter sich her. Sie fühlt das Gewirr der entblößten Baumwurzeln unter ihren Füßen. Da spülen die reißenden Strudel ihr die Beine unterm Leib weg. Sie klatscht ins Wasser, wird von dem Fremden wieder hochgerissen. Prustend speit sie das salzige Wasser aus. Zurück bleibt ein bitterer, ekelhafter Geschmack und Sand, der zwischen den Zähnen knirscht. Adda achtet nicht darauf. Der Mann reißt ihr fast den Arm aus; die borkige Rinde zerfetzt Hände, Knie, Knöchel; in den Wunden frisst beißend das Salzwasser. Schon hat der Mann die Baumkrone erreicht; hievt Adda zu sich hoch, bis er ihre Hand packen kann, befördert sie mit einem Ruck zu sich hinauf in den Wipfel. Noch dürfen sie sich keine Pause gönnen, müssen weiter, müssen das Reitdach erreichen, denn jeden Augenblick kann der Baum von Wind und Wasser heruntergerissen werden. Wie eine Puppe setzt der Mann Adda rittlings auf einen schwankenden, ausladenden Ast, der bis heran an das unversehrte Dachende reicht. Er schiebt sie vorwärts. Blätter und Zweige klatschen ihr ins Gesicht, hinterlassen blutige Striemen. Von der Stirn rinnt ihr Blut ins Auge. Sie kann es nicht fortwischen, braucht ihre beiden wunden Hände zum Festhalten, um nicht vom Sturm in die quirlende Flut geschleudert zu werden. - Endlich! Geschafft! Ihre zitternden Finger verkrallen sich im moosglitschigen Reitdach. Jetzt ist sie an der Reihe, ihrem Retter auf das Dach hinaufzuhelfen. Auch das gelingt. Kaum auf dem First, fegt der Sturm donnernd den Baum herunter; beinahe noch reißt er die beiden Menschen mit seinem Geäst in die brodelnden Fluten.

Wie viele Stunden sind inzwischen vergangen? Zwei oder drei? Mehr oder weniger? Adda kann sich nicht erinnern, hat jegliches Gefühl für Zeit verloren. Schon dämmert es im Osten. Sie fühlt sich schwach und leer, unfähig, ihre Sinne zu regieren. Instinktiv graben sich ihre starren Finger tiefer in das harte Reit. Ihr wird schwarz vor Augen...

Wie lange war Adda ohne Bewusstsein? Lange Zeit oder nur einen kurzen Augenblick? Der Sturm hatte sich gelegt. Strahlend ging die Sonne auf, stand nun blutrot über einer erbarmungslosen Wasserwüste. Wie geschmolzenes Kupfer schimmerte das Wasser bis in schier unendliche Ferne. Adda zitterte, grauenhaft klapperten ihre Zähne aufeinander. Dagegen half auch der schwere Wollmantel nicht, der auf ihren Schultern hing. Die nassen Kleider klebten eisig an ihrem Leib. - Jemand hielt sie mit einem Arm umklammert. Sie blickte sich um. Ein herbes Männergesicht. Es kam Adda bekannt vor. Sie wollte nach seinem Namen fragen, bekam aber den Mund nicht auf. Die Zunge klebte am Gaumen wie festgeleimt. Durst! Sie verspürte Durst, quälenden Durst! Ein müdes Lächeln zuckte um die gesprungenen Lippen ihres Lebensretters, aufmunternd, gütig. - Wann endlich würde man sie finden? Bald? Oder erst nach Tagen, entsetzlich langen, martervollen Tagen? Wie lange mussten sie hier oben ausharren, warten, kämpfen mit Müdigkeit und Kälte und Hunger und Durst? Ohne ein Stückchen Brot, ohne einen Tropfen Trinkwasser inmitten einer trostlosen Salzwasserwüste? - Addas Magen zog sich krampfartig zusammen. In ihrem Kopf nistete sich Verzweiflung ein: Vielleicht wäre es besser gewesen, mit dem Deich in die Tiefe zu stürzen..., dann wäre mir diese unerträgliche Qual erspart geblieben... Und wo ist Frauke? Ihre Gedanken flogen zu ihrer lieben Freundin, und sie erkannte plötzlich mit grausamer Klarheit, dass Frauke in den Fluten umgekommen sein musste. Sie erinnerte sich ihrer gellenden Schreie, die das gewaltige Donnern und Tosen des berstenden Deiches, das Brüllen von See und Sturm übertönt hatten. Diese Schreie, diese entsetzlichen Schreie! Das war... das war wie das Kind, das man lebendig im Deich begraben hat. - Warum nur musste sie immer wieder an Himas Neugeborenes denken? Sie wollte nicht daran denken! Nie mehr! - Die arme Frauke, vielleicht kann sie niemals in geweihter Erde ruhen. Wie schrecklich! Das erschien ihr furchtbarer noch als der nasse Tod. In Gedanken sprach Adda ein Gebet für die Freundin. Minutenlang starrte sie auf ihre zerfetzten, gefalteten Hände, in deren Wunden mörderisch das Meersalz brannte. Der Ring von Folkmar Allena, ihr Verlobungsring, steckte noch an seinem Platz. Im Licht der höher steigenden Sonne sprühte der Rubin Feuer. Würde sie Folkmar je wiedersehen? Mutlos schüttelte sie den schmerzenden Kopf. Blanke Tränen rannen über ihr schmutziges, zerkratztes Gesicht.

Wann würde die Ebbe einsetzen und wenigstens ein wenig Wasser zurückziehen? Wie lange dauerte es noch? Adda versuchte nachzurechnen. - Es gelang ihr nicht, die müden Gedanken zu sammeln. Ein Schiff, ein Schiff muss kommen, uns aufnehmen, retten, nach Hause bringen! Wo bleibt es nur? Warum kommt es nicht endlich!? Ein Schiff, ein paar Bretter, ein schwimmender Baum... Mein Gott! Schick uns Rettung!

Höher und höher stieg strahlend die Sonne, ließ die nassen Kleider dampfen und wärmte doch kaum die erstarrten Glieder. Bohrender wurde der Hunger, quälender der Durst. Nichts ist schlimmer als Durst! Durst! Alles in den beiden Menschen dort oben auf dem Dachfirst schrie nach Wasser!

Adda fühlte sich versucht, von dem Salzwasser zu ihren Füßen zu trinken. Aber die entsetzliche Steifheit ihres Körpers hinderte sie, sich hinunterzubeugen. Ihre Gedanken keuchten, bettelten, schrieen: Wasser, Wasser! Durst! Herrgott, tränke dein Schaf mit frischem Wasser! Aber der Herrgott lachte sie aus: Siehst du es nicht? Da ist genug Wasser!

Der Mann ließ Adda los. Soweit die Möglichkeiten es zuließen, bewegte er seine Muskeln, bedeutete ihr, es ihm gleichzutun. Aber Adda schüttelte nur matt den Kopf. Nein, nicht sie, sie konnte sich nicht bewegen. Zu erstarrt der Körper, zu schwach der Wille... Da packte er kurz entschlossen ihre Handgelenke; hob und senkte, beugte und streckte behutsam die steifen Arme. Nach einiger Zeit kehrte das Gefühl darin zurück; Adda spürte ihr zirkulierendes Blut - ein merkwürdiges Gefühl, schmerzhaft und kribbelnd wie Ameisen... aber es tat gut, seine Muskeln zu bewegen. Ah, wenn sie die Beine doch auch nur bewegen könnte. Wie taube Holzklötze hingen sie an ihrem Körper, waren sicherlich blau gefroren. Sie starrte hinunter auf ihre Füße. - Ein Gefühl, als ob sie bald abfallen würden. Das gurgelnde Wasser erreichte sie fast, so hoch stand es. Der rechte Fußknöchel sah merkwürdig angeschwollen aus. Den Blick abwendend, schaute sie über die ruhige, sich leicht kräuselnde Wasserfläche. Hier und da lugte ein Dach aus dem Wasser; Trümmer, Hausrat schwammen darauf, sogar ein Baum, aufrecht stehend auf einer gewaltigen Erdscholle. Alles unerreichbar weit fort! - Den Kirchturm von Westeel konnte man sehen... Aber was schwamm dort? Adda hob die Hand über die Augen, die Blendung der Sonne auf dem glitzernden Wasser abschirmend. Ein Schifflein mit einer leuchtenden Fackel? Es trieb auf sie zu! Geradewegs auf ihr Dach zu! Rettung! Vor Freude überschlug sich Addas Herz. Sie reckte sich in die Höhe, winkte aufgeregt... Aber nein! Nur brennende Trümmer! Niedergeschlagen ließ sie die Hand sinken. Die Enttäuschung trieb Tränen in ihre schmerzenden Augen.

Der Mann hinter ihr hatte ihn auch gesehen, den brennenden Trümmerhaufen. Und er sah noch mehr: es klammerte sich ein Mensch daran. Entsetzen durchzuckte ihn. Die lodernde Insel trieb direkt auf sie zu, näherte sich immer schneller... Das Wrack, würde es angetrieben, konnte ihnen das Dach, ihre letzte Zuflucht in Brand setzen. Dann mussten sie nicht nur mit See und Kälte, Durst und Hunger ringen, sondern auch noch mit Feuer! Ließe sich solch ungleicher Kampf gewinnen? - Unaufhaltsam führte die Strömung das gefährliche Treibgut heran. Jetzt sah man deutlich, dass das Feuer nur einen Teil des Trümmerhaufens - nein, es war der Bug eines zerschellten Bootes - erfasst hatte. Der Schiffbrüchige hob flehend sein Gesicht. - Der Schulze! - Nicht zuletzt ihm verdankten sie ihre verdammte Lage. Wut loderte in Adda auf wie die Flammen jenes Bretterhaufens, an den der Schulze sich klammerte. „Lass ihn ersaufen”, gurgelte Adda, als die Insel ganz nah neben ihrem Fuß gegen das Dach pendelte und an einem heraushängenden Reitbüschel hängen blieb. Züngelnd leckten die Flammen am Strohdach... Es begann zu glimmen...

Schon warf Addas Retter dem Schulzen seinen Gürtelriemen zu. Der suchte ihn zu fassen, verfehlte aber das Leder, sank blubbernd unter Wasser, verlor den Kontakt zu seinem Schiffswrack, das - sich drehend - langsam am Dach entlang trieb, überall orangerote Flammen zurücklassend. Fast schon davon getrieben, verfingen die Trümmer sich erneut an herausragenden Dachsparren. Währenddessen kämpfte der Schulze verzweifelt um sein armseliges Leben, krallte die blutigen Hände ins Strohdach, griff mit letzter Kraft nach dem herunterbaumelnden Leibriemen, zog sich mühsam hoch, jeweils um Fingerbreite nachfassend. Endlich erreichte er den Fuß seines Retters, umklammerte ihn mit beiden Händen. Der Mann packte den Schulzen am Kragen, zerrte ihn zu sich aufs Dach, erwürgte ihn fast dabei.

Der Gerettete ächzte, keuchte, spuckte, hing wie ein nasser Sack über dem First, mehr tot als lebendig. Adda sah des Schulzen Augen hervorquellen, das Gesicht blau angelaufen, glaubte schon, er sei hin. Aber sie empfand kein Mitleid mit ihm. An seinen Händen klafften offene Brandwunden. Sicher musste er scheußliche Schmerzen ertragen. Soll er nur! Warum auch nicht! Sollte er nicht leiden; er, der die Deicharbeiten behindert hatte? Er, der die Reparaturen hatte aufschieben wollen bis zum Frühjahr? Er, der Schuldige an Fraukes Tod? Er, der seinen Häuptling auszulachen gewagt hatte? Dafür und für all das Leid, das er hätte verhindern können, hasste Adda in von Herzen!

Nach einer Weile kraftloser Erschöpfung richtete der Schulze sich mühsam auf, setzte sich zurecht, krächzte: „Ich denke, deine sterblichen Überreste baumeln längst am Galgen, Menno Tammena.” Der Angesprochene antwortete nicht. - War das sein Dank? Adda fehlte die Kraft, um etwas zu entgegnen, aber sie würde ihm schon noch Benimm beibringen, diesem eingebildeten, aufgeblasenen Kerl! Verhielt man sich so gegen seinen Lebensretter, wer immer er auch sein mochte, was immer er getan hatte? Am liebsten hätte Adda den Schulzen zurück ins Wasser geschubst! - Sie schaute sich nach ihrem Retter um. Der wich dem forschenden Blick aus. Wie nannte der Schulze ihn? Menno? Ja doch, Menno. Und noch etwas hatte er gesagt, was sie nicht verstanden hatte. - Adda forschte in ihrem Gedächtnis. - Woher kannte sie den Mann? Woher? An sich kein ungewöhnlicher Name. Viele Männer wurden so gerufen. Sie konnte sich einfach nicht erinnern. Ihr Gedächtnis schien wie eingefroren. Schließlich gab sie ihre Bemühungen auf. Es würde ihr schon noch früh genug einfallen, nur eben nicht jetzt; jetzt fühlte sie sich zu müde...

„Er hätte nicht brechen dürfen”, krächzte mit ausgebrannter Kehle der Deichschulze. „Er durfte nicht brechen... der Deich.”

„Ist er aber. Müßig, darüber nachzudenken.” Menno klang ärgerlich.

„Aber er durfte nicht brechen, nicht, nachdem wir das Opfer... den Göttern...”

„Halt’s Maul, Dummbart!” fuhr Menno den Schulzen an.

Adda wandte sich halb nach rückwärts um. Was sagt der Schulze da? Das Opfer? Den Göttern? So stimmt es also, was Hima erzählt hat? Oder spricht er von einem neuerlichen ‚Opfer’?

Zu sehr beschäftigte den Deichschulzen sein eigenes Versagen, als dass er hätte schweigen können. Mit fiebrig glänzenden Augen kicherte er: „Sie hat uns verflucht, uns und den Deich, sonst hätte er gehalten. Ja, das ist es...” Er schüttelte sich vor Lachen. „Warum nur hab’ ich nicht eher daran gedacht! Ha, ha, ha! Das ist es! Sie hat alles auf dem Gewissen, sie, die alte Hex’!” Vor Freude, einen Schuldigen gefunden zu haben, wäre er fast aus Unachtsamkeit vom First gefallen.

„Du kotzt mich an, Schulze! Du kotzt mich an! Meine Geduld währt nicht ewig”, fauchte Menno wütend. „Dies eine Mal noch halte ich dich noch fest! Dies eine Mal! Merk dir das, aber wenn du nicht endlich dein dummes Schandmaul hältst, wird’s dir schlecht ergeh’n.” Menno stieß des Schulzen Kopf ostentativ hinunter zum Wasser. Der suchte irgendwo Halt, ruderte vergeblich mit den Armen, angstvoll aufbrüllend.

„Du entschuldigst dich bei mir, sonst lasse ich dich fallen, Hund... sofort... meine Kraft ist bald erschöpft”, zischte Menno.

„Entschuldigen? Wofür? Was hab’ ich dir getan, Menno Tammena?” stammelte sinnlos der Schulze daher.

„Du kannst dein Maul nicht halten!” schrie Menno. - Hassverzerrt der Mund, angeschwollen die Adern am Hals. Seine sehnige Faust lockerte den Griff, ließ den Schulzen Wasser schlucken.

Prustend und hustend winselte der um Erbarmen, bat um Vergebung für alle Sünden der Welt, als halte ihn der Herrgott am Schlafittchen gepackt, der ihn jeden Augenblick zur Hölle schicken konnte. - Endlich riss Menno Tammena den Gepeinigten zurück aufs Dach. Adda blickte über ihn hinweg in Mennos befriedigte Miene, und dann bemerkte sie plötzlich das Feuer am hinteren Dachende. - In stummem Entsetzen starrte sie darauf; namenlose Angst in den aufgerissenen Augen. - Ihr Lebensretter wusste es längst, hatte das Knistern gehört, den üblen Qualmgeruch wahrgenommen und deshalb den jammernden Schulzen auf den Dachfirst gezogen. Er zuckte gelassen die breiten Schultern, verlangte seinen Mantel von ihr zurück, durchtränkte das gute Stück mit Seewasser, kroch rittlings dem Brandherd entgegen. Die hochschlagenden Flammen schreckten ihn nicht. Damit wollte er wohl fertig werden. Wenn der dumme Schulze nur seinen Namen nicht genannt hätte! Diese Tatsache bereitete ihm weitaus mehr Kopfzerbrechen als das Feuer, das er mit seinem nassen Mantel erstickte.

Beruhigt wandte Adda sich ab. Welch außergewöhnlicher Mann! Kämpft eiskalt gegen Feuer, Wasser und sämtliche Naturgewalten und gerät in heiße Wut bei dem dummen Geschwätz eines Menschen, der zweifellos seine Sinne nicht mehr beisammen hat.

Der Wasserspiegel sank etwas ab. Adda achtete nicht darauf. Apathisch stierte sie auf den zertrümmerten Dachstuhl. Das Wasser klatschte gegen die aufragenden Stümpfe zersplitterter Balken, wirbelte in den zerfetzten Resten von Reit. Manchmal gluckerten von unten Luftblasen an die Oberfläche.

Die untergehende Sonne ließ die Luft sich abkühlen. Wie ein gewaltiger Tiegel geschmolzenen Zinns wirkte das überschwemmte Land.

Hunger nagte in Addas Gedärm. Ihre Kehle brannte von Durst und Salzwasser; das sie unfreiwillig geschluckt hatte. In ihren Wunden fraß das Salz. Ihr Kopf schmerzte; vor ihren Augen flimmerte alles unerträglich.

Die brennenden Lider schließend, döste sie ohne Hoffnung vor sich hin... Mit einem Mal bemerkte sie Bewegung hinter sich. Warum wedelten die Männer so ungestüm mit den Armen? Suchend blickte sie über das Wasser und sah... Ein Kahn! Oh Gott - ein Kahn! Mit geblähtem Segel steuerte ein kleines Schifflein geradewegs auf sie zu. Da nahm Adda all ihre Kräfte zusammen, riss die Arme hoch und schrie und winkte wie verrückt. Aber es war nur ein kurzes Aufflackern, gelenkt von dem übermächtigen Wunsch, gerettet zu werden. Schon bald erlahmten ihre Kräfte, und ihre Stimme verfiel in heiseres Krächzen. Zum Glück waren weitere Anstrengungen überflüssig. Längst hatte man auf dem Boot die verzweifelt winkenden und schreienden Menschen gesehen. - Gerettet!

Chroniken der tom Brook

Подняться наверх