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2. Bilder in Gebrauch

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Bilder begegnen uns als Piktogramme auf Toilettentüren und Straßenschildern, in Büchern zur Mathematik oder zur Biologie. Mit Bildern wurden und werden so komplexe Sachverhalte wie Planetensysteme genauso zur Anschauung gebracht wie der Kreislauf des Geldes oder die Gegebenheiten eines Landstriches auf einer Landkarte. Die Bilder zeigen etwas, das gleichzeitig durch das Bild verschwindet und durch dieses ersetzt wird. Daher sind Bilder, nicht nur die der Kunst, immer Gestaltungen, die jedoch mehr als reine Strukturen enthalten.

Hegemoniale Bilder

Während sich die Kunstgeschichte neben ihrem eigentlichen Untersuchungsgebiet für die Grenze zwischen dem, was unter wechselnden Voraussetzungen als Kunst angesehen wurde und wird, und dem Feld der anderen Bilder interessiert, fokussiert die Bildwissenschaft nicht auf diese Differenzierung. Für sie sind grundsätzlich alle Bilder von gleichem Interesse. Damit wird ein Gegenstandsbereich umrissen, der zugleich die aus einer kunsthistorisch-philosophischen Perspektive getroffene Unterteilung in „starke“ und „schwache“ Bilder problematisch und hinsichtlich historischer, sozialer, regionaler sowie geschlechtlicher Differenz Kultur hierarchisierend erscheinen lässt. In historischer Hinsicht wird damit einseitig ein Akzent auf die Emanzipation der Bilder aus christlich-kultischen Zusammenhängen gesetzt, an die eine vermutete Wirkungsmacht von Bildern früher gebunden gewesen sein soll. Diese Engführung lässt übersehen, dass Bilder in Zeiten vor der Kunst neben kultischen auch andere kommunikative Funktionen erfüllten, etwa auf dem Siegel einer Urkunde als Schutz gegen Fälschungen, als Wegezeichen bei der Suche nach Orientierung oder als mentales Bild beim Memorieren von Texten. Das Gegensatzpaar „stark“ und „schwach“ vermag diesen Funktionen des Bildgebrauchs nicht gerecht zu werden und spricht implizit diesen Bildern eine eigene wirkungsmächtige Bildlichkeit ab, indem sie allein auf ihren Charakter als komplexschwache Zeichen reduziert werden. Dies geschieht auch bei der Unterordnung von schon immer existenten populären Bildmedien. Um bei Beispielen aus der euro-amerikanischen Kulturgeschichte zu bleiben: Die Einblattholzschnitte des 15. Jahrhunderts, propagandistische Flugschriften der Reformationszeit, Wallfahrtszettel der Frühen Neuzeit, Illustrationen zu den im 18. Jahrhundert aufkommenden Journalen, Fotostrecken in Zeitschriften oder die Kinokultur seit den 1920er Jahren sind nur einige prägnante Beispiele, die dem hegemonialen Paradigma der Hochkunst nachgeordnet wurden.

Vernachlässigt man dies, werden so nicht nur mediale Eigenarten übergangen und auf der Ebene von Bildmotiven homogenisiert. Es wird zudem ausgeblendet, dass Bildwirkungen sozial codiert sind und daher ein in einem Zusammenhang „schwaches“ Bild in einem anderen ein durchaus „starkes“ sein kann, etwa dass einst „schwache“ Filmbilder für ein vermeintliches Massenpublikum aus Kindern, Frauen und der Unterschicht heute aufwendig konserviert und in Kunstmuseen wie dem Museum of Modern Art aufbewahrt werden. Oliver Scholz erläutert diese sehr vielschichtige Geschichte in ihrer historischen Dimension (Scholz 2000). Sehr am Rande streift aber auch er nur den Umstand, dass neben den historischen Differenzen der Bildgebrauch in den verschiedenen Regionen der Welt trotz der früheren europäischen Kolonialpolitik kulturell recht unterschiedlich verankert ist (Kramer 2001, 17). So sind chinesische Schriftzeichen Bilder, Chinesisch, Japanisch, Koreanisch bildbasierte Sprachen, deren Bildlichkeit mit den dortigen Lebensbedingungen verbunden ist. So funktionierte das europäische Gefahrenzeichen des Totenschädels mit gekreuzten Balken auf afrikanischen Tretminenfeldern nicht, weil die Menschen darin fatalerweise einladend lächelnde Masken erkannten. So ist in den lateinamerikanischen Gesellschaften Körperbewegung viel aussagekräftiger als ein statisches Bild – sei es ein Kunstwerk oder nicht.

Vernetzungen

Allerdings hängen alle Bilder eng miteinander zusammen und lassen daher die Kennzeichnung verschiedener Segmente nur auf einer theoretischen Ebene zu: Wie die Grenze zwischen Kunst und den anderen nicht-künstlerischen Bildern ständig neu ausgehandelt werden muss, übernimmt die Nicht-Kunst Bildmodi der Kunst und umgekehrt, werden kulturelle Praktiken adaptiert und interpretiert, diese Interpretationen wiederum rezipiert, wie dies etwa das Beispiel des Fetisches zeigt: Als in der Frühen Neuzeit portugiesische Seefahrer an den Küsten Westafrikas anlandeten und gegen die dort ansässige Bevölkerung mit militärischer Gewalt vorgingen, beteten sie vor ihren Beutezügen vor mitgebrachten Kruzifixen oder Reisealtarretabeln. Die einheimische Bevölkerung führte das Kriegsglück der Portugiesen auf diese Artefakte zurück, die die fremden Seefahrer feitiços für ,künstlich‘ oder ,gemacht‘ nannten. Sie imitierten diese in der Hoffnung auf eigene Erfolge. Im Rahmen der Weltausstellungen gelangten in Westafrika produzierte, nun Fetisch genannte Objekte Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts nach Westeuropa und dienten Künstlern auf der Suche nach Grundformen von Kunst als Vorbilder. Die Tatsache, dass die Künstler sich überhaupt für diese Objekte interessierten, war zuvor durch einen länger andauernden Ästhetikdiskurs über den Fetisch vorbereitet worden, dessen Anfänge in die Zeit der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert datieren und der den Gegensatz von Religion und Kunst zum Thema hatte. Heute liefert der Begriff Fetisch bei der Analyse der visuellen Kulturen konzeptionelle Grundlagen für eine psychoanalytisch motivierte Beschäftigung mit lustvollem, ins Bild gesetztem Verlangen (Pietz 2003; Böhme 2006). Ganz verschiedene kulturelle Praktiken und Projektionen haben sich inzwischen dieser Bildpraxis eingeschrieben, in die zudem auch noch durch den transatlantischen Sklavenhandel Bildpraktiken in Amerika eingebunden wurden.

Geometrie als Weltbild

Nicht immer verläuft der Kulturtransfer in derart verschlungenen Bahnen. Abhängigkeiten sind manchmal einfacher und direkter zu entschlüsseln: So wird seit der griechischen Antike das Bild genutzt, um Zahlenrelationen darzustellen. Geometrische Gebilde illustrieren dabei nicht nur, sie kommunizieren komplexe Rechenoperationen und Ergebnisse auf bildspezifische Weise und etablierten damit eine Argumentationsform, die eigenständig Erkenntnisse vermitteln konnte (Heintz/Huber 2001b, 12). Bildliche Vorstellungen von Symmetrie oder einer imaginierten Räumlichkeit fanden als Referenz auf Mathematik Eingang in die Darstellungskonventionen von Kunst, diese wiederum in die Modi des technischen Bildes, wie es sich im 16. Jahrhunderts formierte. Als Johannes Kepler Ende des 16. Jahrhunderts das heliozentrische Weltbild von Kopernikus mathematisch belegte, legte er der Publikation seiner Ergebnisse ganz in der Tradition der mittelalterlich-scholastischen Wissenschaftspraxis eine bildliche Darstellung des von ihm errechneten Planetensystems bei, um so seine Erkenntnisse auf etablierte Weise verständlich zu machen (vgl. Kap. VI.2 Johannes Keplers Planetenmodell).

Bilder-Alltag

Speziell in den modernen Gesellschaften ist es eine künstlerische Strategie, gestalterische Prinzipien der Nicht-Kunst gezielt für die Kunst zu nutzen, um so die Trennung zwischen Alltag und Kunst in der einen visuellen Kultur aufzuheben. In einer seiner Ausstellungsbesprechungen, die als ein Gründungstext moderner Kunsttheorie gilt, knüpfte der Kunstkritiker Charles Baudelaire um 1860 eine Beziehung zwischen der neuartigen Malerei seiner Zeit, die die alltägliche Erfahrung zum Thema gemacht hatte, und Modekupfern in Journalen, die aus der Zeit nach der Französischen Revolution 1789 stammten (Baudelaire 1989 [1863]). Wie diese sollten auch jene die vielen Facetten der gegenwärtigen Gesellschaft zeigen. Wirkliche Massenmedien waren diese kolorierten Kupferstiche noch nicht gewesen. Allerdings gehören sie zur Gruppe der Printmedien, die für eine neue Öffentlichkeit produziert wurde – eine Öffentlichkeit, die mit der Zeit und der Muße der Elite Bilder aus Schaulust betrachtete und damit eine Praxis des modernen Bildkonsums vorbereiten half.

Diagramm und Ornament

Inwiefern allerdings, wie oben angeführt, ein Diagramm oder ein Ornament tatsächlich Bilder sind, ist strittig: Während etwa Lambert Wiesing diesen den Bilderstatus abspricht (Wiesing 2005b), erklärt Hans Belting ornamentale Gestaltungen in der arabischen Kultur in Analogie zum perspektivischen Bildraum in der Kunst des Abendlandes gar zur symbolischen Form (Belting 2008), also zu Bildern, die umfassend das Selbstverständnis einer Kultur erschließen sollen (Panofsky 1998 [1927]; Graevenitz 1994). Gehen wir beim bildwissenschaftlichen Arbeiten davon aus, dass Bildkonzepte und Bildfunktionen durch Konventionen bestimmt sind, muss dieser Dissens nicht stören. Vielmehr zeigt er, dass selbst die Frage, ob etwas ein Bild ist, kulturell beständig ausgehandelt wird.

Einführung in die Bildwissenschaft

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