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6. Unsichtbare Bilder
ОглавлениеAußen und Innen
Mit besonderem Interesse verfolgt die Bildwissenschaft, wenn sich die Gehirnforschung der Bilder annimmt und über Prozesse des Sehens und der kognitiven Verarbeitung von Gesehenem Auskunft gibt. Dieses Interesse ist deshalb so stark, weil das Gehirn selbst zwar bei operativen Eingriffen von Beobachtern gesehen werden kann, nicht jedoch, was in ihm vorgeht. Auch in der ersten Person kann das Gehirn in seinem Funktionieren nicht erfahren werden: Das Ich greift zwar auf Ergebnisse der Gehirntätigkeit zu, es kann aber auch diese einem Dritten nicht unmittelbar vorzeigen, sondern wiederum nur vermittelt etwa durch das ,Zeigen auf‘, ,Zeichnen von‘, ,Sprechen über‘ mitteilen. Dass sich die Gehirnforschung bei ihren Experimenten mit Probanden häufig selbst ganz bestimmter Bilder bedient, wenn sie etwa Fotos als Stellvertreter für alle Arten von Bildern vorlegt, und auch ihre Ergebnisse ebenso häufig wieder durch bildgebende Verfahren veranschaulicht, gehört aus Sicht der Bildwissenschaft zu den spezifischen Schwierigkeiten dieser Forschungsrichtung. Denn wie die gesehenen Bilder sind die Visualisierungen der Gehirntätigkeit, die das Sehen dieser Bilder begleitet, Objekte, deren intersubjektive Deutung durch vorwiegend verbale, d. h. kulturell kodifizierte Kommunikation ausgehandelt wird. Was die Medizin eigentlich herstellt, sind somit technische Bilder von mentalen Bildern oder noch genauer: errechnete Bilder von elektrochemischen Zuständen des Gehirns, die simultan mit dem Sehen und den vom Sehen angeregten inneren Bildern messbar sind und die dabei den kulturell bedingten Aufzeichnungssystemen folgen.
Macht der inneren Bilder?
„Wer Augen hat zum Sehen, Ohren zum Hören, eine Nase zum Riechen, Haut zum Fühlen, für den ist die Welt voller Bilder“, schreibt der Neurobiologe Gerald Hüther in seinem populären Sachbuch über Die Macht der inneren Bilder. Bild wird hier als Sammelbegriff für alle Sinneseindrücke verwendet, ja mehr noch als Oberbegriff für einen komplexeren Wahrnehmungszusammenhang, der als „inneres ,Sehbild‘“, „Hörbild“ oder auch „Tastbild“ (alle Zitate Hüther 2006, 22f.) ausgeprägt sein kann. Doch dieser vertraute Beginn mit der Wahrnehmung täuscht über die eigentliche Argumentationsrichtung des Autors hinweg: Ihm geht es um das Gehirn als Produzenten innerer Bilder – als bilderzeugendes, -speicherndes und -abgleichendes Organ – und um deren machtvolle Wirkung. Dabei erweitert er den Umfang des Bildbegriffs nochmals, wenn er etwa von den Visionen der großen Religionsstifter als inneren Bildern spricht. Die Gehirnforschung, von der sich die Bildwissenschaft oft strenge, naturwissenschaftliche Hilfestellung und empirische Absicherung erwartet, leistet in diesem Fall keinen Beitrag zur systematischen Klärung des Bildbegriffes, sondern nimmt eine Erweiterung des Begriffsumfangs auf eine ganze Reihe von auch nicht optischen Phänomenen vor.
Dadurch zeigt sie jedoch, dass es der Bildwissenschaft nicht darum gehen kann, eine Entscheidung darüber zu fällen, welche der konkurrierenden Theorien innerer Bilder die stimmigere und angemessene ist. Vielmehr hat sie die Aufgabe zu rekonstruieren, wie das Phänomen der inneren Bilder jeweils thematisiert, in welche Formationen des Denkens und Wissens es eingebunden und nicht zuletzt, inwiefern es dabei selbst visualisiert wird. Kurz: Es geht darum, welche Vorstellungen und insbesondere visuellen Darstellungen von inneren Bildern wir kennen und was sie jeweils bedeuten und leisten können und was nicht.
Grenzfläche Netzhaut
Reflexionen über innere Bilder sind, wie wir aus Texten zu Visionen wissen, alt. Als sich um 1600 in Europa ein neues, auf Empirie fußendes Wissenschaftsverständnis zu etablieren beginnt, werden sie sogleich als schwer fassbare Phänomene erkannt. Der Astronom und Mathematiker Johannes Kepler, der sich auf der neuen, naturwissenschaftlichen Basis mit dem Sehen beschäftigte, stellte in seinem Buch über die Dioptrik (1611), d. h. die Lehre von der Lichtbrechung, fest, dass durch die Linse des Auges ein seitenverkehrtes und kopfstehendes Bild auf die Netzhaut projiziert wird. Kepler formuliert das daraus erwachsende Grundproblem: „Das Sehen, wie ich es erkläre, kommt dadurch zustande, dass das Bild der gesamten Halbkugel der Welt, die vor dem Auge liegt, und noch etwas darüber hinaus auf die weißrötliche Wand der hohlen Oberfläche der Netzhaut gebracht wird. Ich muss es den Physikern zur Entscheidung überlassen, auf welche Weise sich das Bild oder dieses Gemälde mit den geistigen Sehstoffen verbindet, die ihren Sitz in der Netzhaut und den Nerven haben, und ob es durch diesen geistigen Stoff nach innen in die Hohlräume des Gehirns zum eigentlichen Sitz der Seele oder der Sehfähigkeit gebracht wird, oder ob die Fähigkeit zu sehen von der Seele wie ein Quästor bestellt wird, der aus dem Hauptsitz des Gehirns nach außen zu den Sehnerven und der Netzhaut wie zu den unteren Bänken herabsteigt und diesem Bilde entgegen schreitet. Denn das Rüstzeug der Optiker reicht nicht weiter als bis an diese dunkle Wand, die als erste im Auge auftritt.“ (zitiert nach Lindberg 1987, 351)
Wie die inneren Bilder, die der optischen Projektion auf der Netzhaut nachgeordnet sind, genau zustande kommen und wie sie beschaffen sind, ist bis in die Gegenwart umstritten, weil sie eben unsichtbare Bilder sind. Sie gehören dem psychischen System an, das seine materiale Grundlage in neuronalen Verbindungen und Aktivitäten hat. Eine einflussreiche Grundlagentheorie der Sozial- und Geisteswissenschaften wie die Systemtheorie hält das organische System für nicht wahrnehmbar vom psychischen System und dieses wiederum schlicht für nicht kommunizierbar: „Bewußtsein kann nicht kommunizieren, die Kommunikation kann nicht wahrnehmen“ (Luhmann 1997, 83). Aufgrund solcher Vorbehalte und Schwierigkeiten sind innere Bilder in einer Systematik der Bilder randständig. Die Bildtheorien konzentrieren sich zumeist auf darstellende Bildtypen (Sachs-Hombach 2005,19f.), also Artefakte wie Gemälde, Zeichnungen, Plastiken und Verwandtes (Scholz 2004, 5 – 8). Neben diesen künstlichen finden noch die natürlichen optischen Bilder wie Spiegelungen, Schatten und Abdrücke Aufmerksamkeit, während die inneren, geistigen Bilder als Ergebnis von Wahrnehmung gern wie Wahrnehmungen oder das Wahrgenommene selbst behandelt werden.
Der Wahrnehmung kommt dabei eine bedeutsame Mittel- und Mittlerstellung zwischen innen und außen zu. Entweder ist sie verantwortlich für die Projektion, die aus äußeren Gegenständen eine innere Realität macht, oder für die Produktion einer äußeren Realität der inneren Bilder, so wie Kepler die alternativen Bewegungen von beiden Seiten auf die Netzhaut zu schon beschrieben hatte. Äußere Bilder sind dabei zunächst wahrnehmbare Objekte wie andere Gegenstände auch, innere Bilder unsichtbar wie das gesamte psychische System. Welcher Status äußeren Gegenständen zugeschrieben wird, hängt dabei von den jeweiligen Modellen von Wahrnehmung in Theorien der Erkenntnis ab. Welchen Status innere Bilder im Gesamt der Psyche haben, hängt von den jeweiligen Psychologien ab. Weil die psychischen Bilder nicht sichtbar und nur der Introspektion zugänglich sind, stehen sie im Verdacht, Spekulationen weiten Raum zu eröffnen. Deswegen ist der Rückgang auf das organische System Gehirn, das empirischen Mess- und bildgebenden Verfahren zugänglich gemacht werden kann, verständlich, denn wie immer eine Person ihre mentalen Bilder kommuniziert, ob visuell-abbildend, ob performativ „kunstgebärdend und ,expressiv‘“ (Musil 1983 [1925], 1148) oder sprachlich, es greifen Ausdruckskonventionen. Solchen Konventionen, rhetorischen oder ikonischen Topoi wie codifizierten Wahrnehmungen, wird gerne mit Misstrauen begegnet, weil sie, statt es zu betrachten, vor einem vermeintlich authentischen Bild die „Augen niederschlagen“ (vgl. Jay 1993) würden und es kulturell und sprachlich überformen (vgl. Kap. V.1).
Eigenleben innerer Bilder
Darüber hinaus stellt sich immer die Frage nach dem Eigenleben der Psyche und damit der inneren Bilder unabhängig vom unmittelbaren Sinneseindruck. Dabei geht es um die Wiederholung der Bilder und das Erinnerungsbewusstsein (Otto 2007) ebenso wie um die Art und Weise der Produktivität der Einbildungskraft (Hüppauf/Wulf 2006). Jenes ist für das kulturelle Gedächtnis als Bildgedächtnis grundlegend, diese ist dafür verantwortlich, dass Neues, das es noch nie gab und das somit niemals wahrgenommen werden konnte, gedacht und erdacht, also imaginiert werden kann. Imagination, Einbildungskraft, ist nicht nur für die Bild- als Kunstproduktion erforderlich, sondern für jegliche Art der Kreativität, die in Gedankenexperimenten sich an der Herstellung von neuen Realitäten versucht. Aber nach welchen Regeln läuft das Gestalten eigener innerer Bilder ab, geschieht es entlang vertrauter Bildkonventionen äußerer Bilder?
Familienähnlichkeiten
Die Mehrzahl der Ordnungsversuche des weiten Feldes der Bilder (vgl. Kap. II.2) drängt also auf eine grundlegende und stabile binäre Unterscheidung, wie sie äußere und innere, reale und imaginäre oder materielle und immaterielle Bilder, Gegenstand und Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung, picture und image oder auch tableau und image zu gewährleisten scheinen. Doch genauer besehen ist es gerade diese elementare Trennung, die sich immer wieder als instabil und nicht konsensfähig erweist (Boehme 2004). Indem er die Extension des Bildbegriffs als eine Reihe zwar familienähnlicher doch heterogener Elemente analysiert – von „Begriffsfamilie“ spricht etwa auch Scholz (2004, 13) – und kritisch nach den Zusammenhängen der einzelnen Mitglieder dieser weit verzweigten Familie fragt, rückt Mitchell gerade die Problematik solcher Trennungen in den Fokus der Bildtheorie (Mitchell 2008a). Er zeigt, wie alle Positionen eine buchstäbliche Kernbedeutung des Bildes von Randbedeutungen unterscheiden wollen, die das Wort Bild nur im übertragenen Sinn zu gebrauchen scheinen. Innere und sprachliche Bilder wären demnach, um in seinem sprachlichen Bilde zu bleiben, illegitime Abkömmlinge der Familie der Bilder im eigentlichen Sinn.
Doch diese Unterscheidung ist anfechtbar. Denn die „eingebildeten“ Bilder im Geist und im Traum sowie die oben schon verwendeten sprachlichen Bilder erweisen sich als so viel oder so wenig dauerhaft, wie die äußeren es auch sind. Wenn die geistigen Bilder als solche selbst der Wahrnehmung entzogen und privat sind, auch der Hirnforschung allenfalls aus Anzeichen ableitbar, dann sind die Worte der intersubjektive Modus, diese inneren Bilder wiederum so öffentlich zu machen, wie es die Gegenstände der Wahrnehmung immer sind. Das ist die Methode, der sich etwa die Psychoanalyse Freuds bedient hat, um Erinnerungsbilder und Träume für den Therapeuten durch Verbalisierung zugänglich zu machen. Dazu ist es jedoch erforderlich, eine ebensolche Relation zwischen mentalen Bildern und Sprache wie zwischen Wahrnehmungsgegenständen und mentalen Bildern anzunehmen. Diese Relation unterliegt nun ganz verschiedenen, ja konträren Interpretationen, wie das in seiner ganzen Komplexität das Beispiel der Psychoanalyse und ihrer kritischen Rezeption verdeutlichen kann.
Dagegen lässt sich einwenden, dass die äußeren Gegenstände durch eine doppelte Mittelbarkeit sehr weit von der Sprache, die uns die innere, ,geistige‘ Welt erschließen soll, getrennt sind – nämlich durch die Differenz zwischen optischer Wahrnehmung und innerem Bild und zudem durch die Willkürlichkeit und Zufälligkeit der sprachlichen Darstellung dieser inneren Wahrnehmungsbilder.
Sprache und inneres Bild
Tatsächlich handelt es sich bei der Verknüpfung von Sprache und inneren Bildern um einen historischen Vorgang in den europäischen und eurozentrischen Gesellschaften. In den Wahrnehmungsmodellen des 18. Jahrhunderts wurden äußere Gegenstände inneren Bildern zu- und nachgeordnet, was zu einer , Verinnerung‘ der Sprache führte. Diese Wahrnehmungsmodelle dienten der Durchsetzung einer neuen, bürgerlichen Öffentlichkeit, die jeder Art äußerer Schaustellung orthodoxer religiöser und absoluter politischer Macht mit Skepsis begegnete. Sprache, abstrakter Begriff und Vernunft wurden so eng miteinander verknüpft und der sinnlichen, sichtbaren äußeren Welt entgegen gestellt. Diese Konzepte der Wahrnehmung verdanken sich ideologischen Bedürfnissen, die zugleich auch nach einer Begrenzung des aufklärerischen Programms einer Rehabilitation der Sinneswahrnehmung, Aisthesis, und Autonomie der künstlerischen Produktion verlangten (vgl. Kap. II.4).
Ekphrasis, Metapher, Emblem
Dagegen lässt sich aus heutiger Sicht für die ,Äußerlichkeit‘ und Öffentlichkeit der Sprache und der inneren Bilder plädieren. Denn tatsächlich ist die Sprache nicht ausschließlich geistig, also unsichtbarer Teil des psychischen Systems, sondern hat eindeutig wahrnehmbare sinnliche Qualitäten. Wir besitzen sie überhaupt nur, weil sie als Stimme hörbar wird, und sie erbringt ihre kulturellen Leistungen nicht zuletzt, weil sie als Schrift sichtbare Spuren hinterlässt, die jedoch nicht zwangsläufig als bildhaft wahrgenommen werden müssen. Barocke oder moderne Bildlyrik, deren Erscheinungsbild zwischen Schrift und Grafik oszilliert (Elkins 1999, 95 – 119, 195 – 212), sind die bekannten Sonderformen eines weiten Reiches von grafischen Notationssystemen und Pseudo-Schriftlichkeit (vgl. Kap. V.1). Deshalb handelt es sich um eine Verkürzung der Bildlichkeit der Sprache, wenn sie als selbst nur metaphorisch-uneigentlich aufgefasst und auf einen täuschenden Effekt sprachlicher Mittel, eine Art verbal produzierter Anschaulichkeit, eingeschränkt wird (Willems 1989). Und eine Verkürzung ist es auch, wenn nur die literarische Sprache und die Literatur als der einzige Ort betrachtet werden, an dem der Ausnahmefall bildlicher Sprache zugelassen ist. Genauer besehen treiben Literatur und literarische Sprache nur allgemeine Beziehungen zwischen Sprache und Bild auf die Spitze, was die drei meistbeachteten Fälle verdeutlichen (Frank 2009): So steht die Ekphrasis, die Kunst der Bildbeschreibung, für das Interesse an den Beziehungen zum wahrgenommenen gegenständlichen oder ,eingebildeten‘ Vorstellungsbild außerhalb der Sprache. Die Metapher steht für das Interesse an den Ähnlichkeitsbeziehungen, die eigentlich als ein Grundprinzip visueller Repräsentation gelten. Und das Emblem schließlich steht stellvertretend für die Vielzahl der kompositen Mischklassen von Bild und Sprache, der image-texts (Mitchell 2008c, 145ff.), welche auf die Nahtstelle zwischen beiden hindeuten und damit den Schleier von der Verflechtung der verbal-geistigen und visuell-materialen Anteile ziehen, welchen die jeweiligen Verfahren über die Gemachtheit von Bild und Text legen.