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ОглавлениеI. Einleitung: Bildforschung und visuelle Kultur
1. Bilder in Medien und Wissenschaften
Die Welt der schönen Bilder
Bilder hören? 1973 produzierte der Rundfunk der DDR ein Hörspiel mit dem Titel Die Welt der schönen Bilder. Es geht auf den 1966 veröffentlichten Roman Les belles images der französischen Feministin und Existentialistin Simone de Beauvoir zurück, der 1969 auch in der DDR erschienen war. Beauvoir übt darin Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft im Spätkapitalismus. Die Protagonistin Laurence ist als Werbegrafikerin an der Produktion des schönen Scheins der Warenwelt ebenso beteiligt wie selbst an der Reproduktion der visuellen Symbolwelten interessiert, die für die feinen Unterschiede zwischen und in den sozialen Schichten sorgen. Ihre oberflächliche Lebensweise mit bürgerlicher Kleinfamilie und Liebhaber wird brüchig, als ihre elfjährige Tochter Catherine die Frage nach dem Sinn stellt. Laurence verkörpert einen Lebensentwurf, in dem materielle und soziale Bilder eine eigene Wirklichkeit geschaffen haben. Für ihre Gesellschaftskritik aktualisierte Simone de Beauvoir somit eine bilderfeindliche Tradition, die von Platon über Marx bis in die Gegenwart reicht: Das Bild steht hier im Dienst eines oberflächlichen Sinnenscheins, welcher die Menschen der Erkenntnis des eigentlichen Lebens entfremdet.
1967 spitzt Jacques Derrida, ein Exponent der damals jungen Generation der Poststrukturalisten, zu, was im Roman der Existentialistin schon angelegt war: „Il n’ya pas de hors-texte“ – Es gibt nichts außerhalb des Textes (Derrida 1983, 274). Jeder visualisierung ist auch die Frage nach dem Verhältnis von Bildern und Worten sowie deren Medialität eingeschrieben, die wir als Bild, als Schrift und Laut mit unseren Sinnen wahrnehmen. So waren die Hörer aus der DDR am Radio auf ihre Einbildungskraft angewiesen, was die schönen Bilder aus der Welt der Laurence betraf, die sie mehrheitlich aus eigener Anschauung nicht kannten. Der staatlich gelenkte Rundfunk nutzte eine mediale Eigenart, die schon das erste Hörspiel der Rundfunkgeschichte, die am 15. Januar 1924 von Radio London gesendete Comedy of Danger, fruchtbar gemacht hatte. Die Beschränkung auf das nur Hörbare, das zugleich zur Projektion eines Raumbildes anregt, war dort zur Imagination der Situation vollständiger Dunkelheit in einer Kohlengrube nach einem Unfall genutzt und der Nachteil gegenüber den dominant visuellen Konkurrenzmedien der damaligen Zeit, Illustrierte und Film, so zum Vorzug gemacht worden. Dieser Kunstgriff stellt eine moderne Adaption des in der antiken Rhetoriklehre formulierten Konzeptes von Evidentia dar, wonach Hörern etwas derart anschaulich geschildert werden soll, dass sie es sich selbst geistig ausmalen und vor Augen stellen können (Quintilian 1995, 32). Von Evidenz wird in dieser Einführung noch häufiger die Rede sein, gilt sie doch als ein Spezifikum von Bildlichkeit, wobei ihre Auslegung umstritten ist. Die nicht sichtbaren, nur imaginierbaren Bilder vom kapitalistischen Westen machten die ideologische Stärke des DDR-Hörspiels aus, weil sie die Verführung durch die unmittelbare Anschauung der schönen Bilder verhinderten.
Envisat
Nicht immer haben Bilder, die ihren Ursprung nicht zeigen, eine politisch eindeutige Intention, vielleicht aber – wie unser folgendes Beispiel zeigt – eine verdeckte und daher bildwissenschaftlich interessante. Am 28. Februar 2002 schickte die Europäische Raumfahrtbehörde ESA ihren Erdbeobachtungssatelliten Envisat ins All, mit dessen Hilfe unter anderem vitale Daten zur Klimaveränderung und zum Zustand der Meere erhoben werden. Zur Ausstattung des Satelliten gehören neben dem der Temperaturmessung dienenden AATSR das bildgebende Radar Asar und Meris, ein Spektrometer, das die Farbigkeit der Ozeane sowie der Vegetation auf der Erdoberfläche mit einer Auflösung von 300 Metern untersucht. Diese Beobachtungsinstrumente an Bord von Envisat sind zunächst Empfänger, die von der Erde ausgehende Strahlung verschiedener Wellenlängen registrieren. Sie nutzen den Umstand aus, dass alle Objekte und Prozesse auf der Erde – und natürlich auch in der Erdatmosphäre – elektromagnetische Strahlung mit verschiedensten Wellenlängen und Frequenzen aussenden, absorbieren oder reflektieren. Die meisten der Instrumente an Bord analysieren sichtbares Licht und das so genannte „Nahe Infrarot“, d. h. den Wellenbereich, der unmittelbar am roten Ende des sichtbaren Lichts anschließt, sowie Mikrowellen. Die Messung der infraroten Strahlung erlaubt es beispielsweise, Aussagen über die Temperatur der Erdoberfläche sowie in der Atmosphäre zu machen. Damit registrieren die Apparate auch das für das menschliche Auge selbst nicht unmittelbar Sichtbare wie Temperaturveränderungen in unterschiedlichen Schichten der Atmosphäre und Wassertiefen. Sie erbringen also bereits auf dieser Stufe eine Übersetzungsleistung in für das menschliche Auge Sichtbares.
„Zauberkunststücke“
Was zwischen Satellit und Kontrollstation darüber hinaus ausgetauscht wird, sind nun allerdings nicht verbalsprachliche Anweisungen gegen analoge, wenn auch ins sichtbare Spektrum übersetzte Bilder. Stattdessen fließen Datenströme in monoton digitaler Codierung, deren Bedeutung nicht unmittelbar einsichtig, weil nicht sichtbar ist. Diese sehr ausgedehnten Ströme – Envisat liefert mehr als 280 Gigabyte pro Tag – enthalten auch die Ergebnisse der strahlungssensiblen Instrumente, die mehr ,wahrnehmen‘ als optische Instrumente ,sehen‘ könnten. Es ist ein langer Weg von der Datenproduktion zur Nutzung für die Wissenschaft. Dazu müssen die Daten erst in kalibrierte technische Zahlen und dann in überprüfte geophysikalische Produkte umgewandelt werden. Es bedarf wiederum verschiedener Programme, die diese Datenströme interpretieren und in sichtbare Formen umwandeln. Eine solche Form kann die Gestalt einer Tabelle, eines Diagramms annehmen, aber auch die eines sichtbaren Bildes. „Was man am Ende sieht, ist also nur die oberste Zwiebelschale einer ganzen Reihe von Zauberkunststücken, die alle erst einmal erfunden, durchgerechnet und optimiert sein wollten.“ (Kittler 2002, 47) Wir zeigen eine Meris-Datei respektive das östliche Mittelmeer mit Anrainern am 25. 6. 2008 um 8:47:59 (Abb. 1). Es handelt sich um eine Interpretation von Envisat-Daten, deren Qualitätskontrolle sie allerdings als „failed“, als gescheitert, einstufte, weil Daten für einige Segmente des abgetasteten Bereichs fehlten oder korrupt waren. Unseren ,Blick‘ auf das Bild trübt dieser Qualitätsmangel der Daten jedoch nicht, im Gegenteil.
Abb. 1: Das östliche Mittelmeer mit Anrainern am 25. 6. 2008 um 8:47:59. Meris-Datei >http://mrrs-ma.eo.esa.int/mrrs/images/2008 / 06 / 25/MER_FR__0PNPAM20080625_083108_000003672069_00422_33041_241.N1_4862063F_image_0260.jpg<
Datenströme werden zusammengefasst und verdichtet ,auf einen Blick‘ sichtbar in einer Abbildung, die in einem rechtwinkligen Rahmen verschiedenfarbige Flecken nebeneinander lagert. Wem die Bedeutung der unterschiedlichen Farben, die man hier nur erahnen kann, bekannt ist, der wird diese Form der Daten als Zeichen für anderes erkennen, etwa für die Temperaturverteilung der geografischen Einheit eines Ozeans. Den noch ungeschulten Betrachtern müssen diese Zeichen jedoch mit vielen Worten erklärt werden. Technik und Wissenschaft werden ganz bewusst ,ins Bild gesetzt‘, einer überzeugenden Rhetorik und dramatischen Inszenierung unterworfen. Der technische und daher auch ökonomische Aufwand, den Wissenschaft verlangt, bedarf nicht zuletzt ganz eigener Ästhetisierungsstrategien, um Verständnis und Anerkennung der Arbeit, auch in Hinblick auf politische Konsequenzen – Stichwort Klimaschutz – zu sichern. Dabei wird längst nicht immer verbal oder in theoretischer Rede eingeholt, was an visuellem Mehrwert geschaffen wurde. Im Bild können nicht nur ästhetische Qualitäten, sondern darüber hinaus weitere wissenschaftlich relevante Beziehungen sichtbar werden, die in der Datenbasis nicht berechnet worden sind. Der Blick sieht mehr als die Messung, die Berechnung und ihre Interpretation. Bilder erweisen sich damit nicht nur als bedeutsame Kommunikations- und Legitimationsmedien, sondern auch als hochgradige Erkenntnisinstrumente in der neuzeitlichen Wissenschafts- wie in der modernen Wissensgesellschaft (vgl. Bredekamp 2007b; Voss 2007). Dem Betrachter ohne das Wissen um Ort und Zeit und den vereinbarten und eingestellten Zeichencharakter der Farben kann die vorliegende Abbildung als ästhetisches Objekt erscheinen, das nicht auf einen Realitätsausschnitt verweist, sondern selbst einer ist. Artefakt, mit/durch Kunst(fertigkeit) gemacht, ist das Bild in beiden Fällen.
Bilanz
Projekt der Bildwissenschaft, so lässt sich einleitend bilanzieren, ist es, Herstellung, Verbreitung und Gebrauch aller Arten von visuellen Artefakten, in ihren historisch veränderlichen kulturellen Kontexten zu erforschen, zu beschreiben und zu reflektieren. Dazu gehören nicht zuletzt auch das Ausbleiben und die Negation des Visuellen. Die differentia specifica der Bildwissenschaft besteht darin, dass sie über die Grenzen der Fachwissenschaften hinaus nach den kulturellen Zusammenhängen von natürlicher und technisch-instrumenteller optischer Wahrnehmung sowie menschlicher und technisch-instrumenteller bildlicher Darstellung fragt. Gleichermaßen stellt sie auch die „außervisuellen Teile der Kultur ebenso wie die außerkulturellen Teile des Visuellen in Rechnung“ (Mitchell 2008d, 241). Dabei interessieren sie nicht nur die veränderlichen Konzepte von Wahrnehmung, sondern gerade auch der Zusammenhang mit den jeweiligen Praktiken der bildlichen Darstellung, den Konstruktionsprinzipien des Sichtbaren (Heßler 2006). Da diese genau wie die Wissenschaften in die ideologischen Dimensionen der symbolischen Ordnung eingebunden sind, eröffnet der transdisziplinäre Zugang der Bildwissenschaft die Möglichkeit, Selbstgewissheiten zu durchkreuzen, ohne dabei fachspezifische Stärken wie methodische Zugriffe und Sachwissen aufgeben zu müssen.
Gegenstand der Bildwissenschaft ist nicht ,das Bild‘, sondern ein umfangreiches Konglomerat von Artefakten (z. B. Kunstwerken, Gebäuden, Tele- und Mikroskopen, Land-, See- und Sternenkarten), sozialen Praktiken (z. B. neurowissenschaftlichen Versuchsanordnungen, Denkmälern, Museen, Rundfunk- und Fernsehsendungen) und kulturellen Redeformen (z. B. philosophischen, kunsthistorischen, kunstkritischen, medienwissenschaftlichen). Am besten ist Bildwissenschaft als Tätigkeit in einem Feld zu bezeichnen, auf dem mit interdisziplinären Verfahrensweisen die Objekte einer visuellen Kultur erst konstruiert, dann analysiert und interpretiert werden.
Disziplinen verfügen über eine wenn auch große, so doch begrenzte Anzahl kanonischer Gegenstände, zu denen sie immer wieder zurückkehren. Sie haben Verfahrensweisen, die ihre Vertreter als wissenschaftlich und diesen Gegenständen angemessen akzeptieren. Die Bildwissenschaft ist derzeit dabei, all dieses zu entwickeln. In den folgenden zwei Abschnitten wollen wir Anknüpfungspunkte für dieses Projekt aufzeigen.