Читать книгу Einführung in die Bildwissenschaft - Gustav Frank - Страница 15
III. Wege der Analyse: Bilder in der symbolischen Praxis
ОглавлениеSystematik
In unseren bisherigen Ausführungen haben wir einen Einblick in die Vielfalt der Bilder gegeben und dabei deutlich gemacht, dass die Rede von dem Bild immer nur als eine Abkürzung verwendet werden darf: Eine Definition für das Bild kann es nicht geben, da das Phänomenspektrum, auf das der Begriff angewendet wird, dazu viel zu divers ist. Die Bildwissenschaft geht, anders als die mit besonderen Aspekten dieser Bilder befassten Einzelwissenschaften, von dieser Vielfalt der Bildlichkeit aus, wenn sie nach den Spezifika von Bildern fragt. In gewisser Weise ist sie somit der Sprachwissenschaft vergleichbar, die einzelne, verschiedene Sprachen unter dem Blickwinkel verallgemeinerbarer Strukturen untersucht, wohl wissend, dass die Rede von der Sprache gleichfalls eine wissenschaftliche Abstraktion zur Analyse eines Phänomens darstellt. Einige für unsere heutigen bildwissenschaftlichen Diskussionen einflussreiche Positionen wie etwa die Wahrnehmungstheorien des Kunsthistorikers Ernst Gombrich, eines „Bildwissenschaftlers vor der Zeit“ (Hoffmann 2005), rekurrieren sogar ausdrücklich auf die Linguistik; im Falle von Gombrich ist es die Sprachtheorie von Karl Bühler (1934). Allerdings impliziert diese Orientierung weder eine Abhängigkeit der Bildstrukturen von denen der Sprache, noch kann die Systematik der anderen Disziplin einfach übernommen werden. Bilder sind anders als Sprache und hängen durch das Sehen unmittelbarer mit der sinnlichen Erfahrung von Welt zusammen. Darin liegt aber auch ein paradoxes Problem begründet: Das Sehen selbst, dem die Bilder zugrunde liegen, ist unsichtbar (Mitchell 2008f, 313)! Eine bildwissenschaftliche Analyse zielt darauf, die Sichtbarkeit dieses Unsichtbaren zumindest soweit herzustellen, dass es beschreibbar wird und die aus ihm resultierenden Bilder im Verhältnis zum Sehen interpretiert werden können.
Wahrnehmung und Ikonologie
Darum geht es seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch der Kunstgeschichte. 1915 hatte Heinrich Wölfflin mit seiner einflussreichen Publikation der Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe eine Art Bildgrammatik vorgelegt, die ausgehend von der visuellen Wahrnehmung Formen bestimmte, sie ästhetischen Konzepten historischer Gesellschaften zuordnete und so eine systematische Klassifikation von Epochenstilen möglich machte (Wölfflin 1915). Wölfflin griff Diskussionen aus der Physiologie und Wahrnehmungspsychologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, die kurz zuvor in den 1890er Jahren auch der Kunstkritiker Konrad Fiedler und der mit ihm befreundete Bildhauer Adolf von Hildebrand ihren Schriften zugrunde gelegt hatten: Beide gehen, bei allen Differenzen, von der Anschauung aus und ebneten so den von Wölfflin weiterverfolgten Weg, die visuelle Bilderfahrung und nicht die intentionale Bildproduktion ins Zentrum der Betrachtung zu stellen. Was Wölfflin, zumindest in den Grundbegriffen, nicht leistete, versuchten ungefähr zeitgleich Aby Warburg und Erwin Panofsky durch die sog. Ikonologie einzulösen: Die Bestimmung der psychischen und der gesellschaftlichen Faktoren bei der Bildwahrnehmung, wobei Warburg mit Interesse für die psychischen Motivationen die Bedeutung der Gedächtnisbilder ins Zentrum rückte (etwa Warburg 2000), während Panofsky, im Gefolge der historischen Schule, schriftliche Quellen zur Ermittlung historischer Seherfahrungen heranzog (etwa Panofsky 1975 [1937]).
Die Genannten gingen, von Seitenblicken abgesehen, von der Hochkunst aus und betrieben so ein Studium der Bilder aus einer kunsthistorischen Perspektive, indem sie Bildschöpfungen immer wieder auf die Kunst bezogen. Aus bildwissenschaftlicher Sicht ist nicht nur diese Hierarchisierung problematisch, weil sie sich tatsächlich nicht aus der Bildlichkeit selbst ergibt, sondern aus einer Übereinkunft in einer konkret bestimmbaren, gesellschaftlichen Situation, was Kunst und was wertvoll ist. Diese Fokussierung, die manchmal sinnvolle Einsichten über Bilder liefern kann, ist zudem dann nur wenig hilfreich, wenn das Bildersehen mit den Bildern selbst verwechselt wird und zudem vielleicht noch Bildwahrnehmung und visuelle Wahrnehmung gleichgesetzt werden. Tatsächlich – und das ist eine Grundannahme bildwissenschaftlicher Fragestellungen – handelt es sich beim Bildersehen vornehmlich um eine mediale Kompetenz im Umgang mit Artefakten, bei deren Gestaltung bereits Einsichten in die visuelle Wahrnehmung zugrunde gelegt wurden.
Historizität der Wahrnehmungskonzepte
Der Ausgangspunkt für bildwissenschaftliche Analysen stellt sich also auf den ersten Blick komplex, wenn nicht kompliziert dar: Bei der Beschreibung von bildlichen Gestaltungskriterien greift man auf das Instrumentarium der Kunstgeschichte zurück, das ausgehend von der Bildwahrnehmung so etwas wie eine Bildgrammatik entworfen hat. Diese enthält Grundannahmen, die aus den jahrhundertealten, primär in Europa geführten Debatten über Kunsttheorie resultieren und die sich in unsere Rede über die Wahrnehmung von Bildern eingeschrieben haben. Denn, genauer betrachtet, benennt diese Bildgrammatik nicht, wie wir wahrnehmen, sondern: wie wir denken, dass wir wahrnehmen (Foucault 1974). Ein bildwissenschaftliches Vorgehen, das immer auch den Stellenwert seiner Gegenstände ermittelt, fragt daher nach der Konstruktion und Historizität dieser bild-grammatikalischen Parameter und schreibt so eine Geschichte des veränderlichen Wissens über Wahrnehmung, in das unser Bilderwissen stets eingebunden bleibt. Es reicht also nicht aus, etwa die Bedeutung der Perspektive für die räumliche Darstellung auf Bildern oder die Gesetze der Gestalttheorie für die Wahrnehmung von Bildphänomenen zu kennen. Es ist immer auch notwendig, sich den jeweiligen, auch ideologischen Stellenwert von Theoremen für eine Naturalisierung tatsächlich codierten Sehens bewusst zu machen. Ohne Zweifel erweist sich dies in der Praxis als Schwierigkeit, paraphrasieren doch bildwissenschaftliche Bedeutungszuschreibungen, wie zahlreiche Beispiele gerade von Nicht-Kunsthistorikern zeigen, schnell und unreflektiert die für die Kunst gewachsenen Sprachregelungen und Vorstellungen, über deren normative Setzungen sich gerade Kunsthistoriker häufig sehr bewusst sind.
Mit den hier vorgestellten Analysewegen schlagen wir eine Vorgehensweise vor, die sich für den Umgang mit allen Bildern als nützlich erwiesen hat. Zunächst, in diesem dritten Kapitel, fragen wir mit Blick auf die symbolische Praxis von Sehen und Darstellen, wie Bilder zur Erkenntnis und zur Erzeugung der Welt(sicht) beitragen, indem sie als artifizielle Formen auswählen, organisieren und kommentieren. Ihre Materialität und Korrespondenz mit anderen Bildern trägt zur jeweiligen Spezifik ihrer Bildsprache bei. Eine derartige Herangehensweise kann auch diejenigen Praktiken integrieren, die Fundstücke aus der Natur als Bilder kennzeichnen, angefangen von gestalterischen Lösungen vorgeschichtlicher Zeit, wie etwa in den Höhlen von Lascaux, bis hin zum objet trouvé, dem aufgefundenen Objekt, in der Kunstpraxis des 20. Jahrhunderts. Damit geben wir einem weiter gefassten Symbolbegriff, wie ihn Ernst Cassirer (Cassirer 1923 – 29) und Nelson Goodman (Goodman 1968) entwickelten und der von kontextuellen Abhängigkeiten mentaler Prozesse ausgeht, den Vorzug vor dem engeren und heftig umstrittenen Zeichenbegriff der Linguistik (vgl. Kap. V.1). Im nachfolgenden vierten Kapitel stellen wir den davon zu unterscheidenden sozialen Gebrauch von Bildern vor, insbesondere ihre Funktion in und für verschiedene(n) Umwelten. Diese Zweiteilung ist rein heuristischer Natur: Das wissenschaftliche Verfahren trennt quasi sezierend auseinander, was tatsächlich in der alltäglichen Bilderfahrung untrennbar ineinander verwoben ist. So hilfreich diese Arbeitsweise für die Charakterisierung von Bildern ist, so wichtig ist es immer zu bedenken, dass wir es tatsächlich mit einer wechselseitigen Abhängigkeit des Symbolischen und des Sozialen zu tun haben.