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ОглавлениеII. Prinzipien der Systematik
1. Kunstwerke in der Geschichte
Was ist ein Bild?
„Was ist ein Bild?“ So lautet der Titel, mit dem Gottfried Boehm 1994 einen Sammelband überschrieb, der seither als Gründungsschrift der Bildwissenschaft im deutschen Sprachraum fungiert (Boehm 1994a). Mit seiner Zusammenstellung von bereits zuvor veröffentlichten, viel diskutierten Texten und Originalbeiträgen vereinigte Boehm hier Antworten auf diese Frage, die mehrheitlich der von Edmund Husserl am Beginn des 20. Jahrhunderts begründeten Philosophie der Phänomenologie verpflichtet sind. Aus Sicht der Phänomenologie ist ein Bild, indem es sich zeigt. In die gleiche Richtung geht der Philosoph Gernot Böhme, wenn er am Beispiel von Leonardos bekanntem Bildnis der Mona Lisa ausführt, dass selbst eine figurative Darstellung keineswegs immer für etwas, sondern auch für sich selbst stehen kann (Böhme 1999, 34 – 43). Damit wird der Annahme widersprochen, das Bild sei ein Zeichen für etwas Abwesendes, das es darstelle, und eine programmatische Gegenposition zu älteren Standpunkten der Zeichentheorie eingenommen, wonach ein Bild ohne Referenz nicht als Bild begriffen werden kann (etwa Eco 1994, 195ff.). Die Annahme, die von einer materialen Objekthaftigkeit des Bildes ausgeht, und diejenige, die dessen Repräsentationscharakter zugrunde legt, stehen einander gegenüber. So variantenreich diese Positionen im Einzelnen auch sein mögen, ihnen ist gemeinsam, dass sie ihre Gegensätze und Argumente am Beispiel von Kunstwerken entwickeln, die ihnen ganz selbstverständlich als die modellhaften Gegenstände für Bildwerke im Allgemeinen gelten.
„Starke Bilder“
Oben war bereits vom besonderen Stellenwert der Kunstgeschichte als derjenigen Wissenschaft die Rede, die sich nicht nur als erste mit dem Bild beschäftigte, sondern die für diese Beschäftigung auch ein Instrumentarium zur Beschreibung, zur Klassifikation und zur Interpretation entwickelt hat. Mit Blick auf die dadurch mögliche Fähigkeit, Strukturen von Bildern und deren Wirkungen analysieren zu können, bezeichnet Steffen Bogen die kunsthistorische Wissenschaft als „ein starkes Bollwerk der Bildkritik gegen Tendenzen der Naturalisierung und Manipulation“ (Bogen 2005, 64). Doch nicht allein aus diesem Grund konzentrieren sich die genannten Autoren auf die Kunst; so spricht Gottfried Boehm wie seither viele andere von sog. starken, bildhaften und sog. schwachen, allein illustrierenden Bildern und meint mit den ersten ausschließlich Kunstwerke (z. B. Boehm 1999). Die Annahme einer eigenständigen nicht-referentiellen, sondern „artifiziellen Präsenz“ (Wiesing 2005a) des Bildes, von der die Phänomenologie ausgeht, ist durch das Konzept einer autonomen Kunst, wie es sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hat, erst möglich geworden. Damit trägt Kunst, genauer: das, was die Gesellschaft als Kunst ausgehandelt hat, wesentlich zu unseren heutigen Möglichkeiten bei, ein Bild zu denken und zu charakterisieren. Die kunsthistorische Arbeitsweise prägt nicht nur, wie Hubert Locher konstatiert (Locher 2007, 7), seit dem späten 18. Jahrhundert unseren Umgang mit denjenigen Objekten visueller Gestaltung, die wir Kunst nennen. Indem diese Arbeitsweise die Voraussetzungen hervorbringt, das Bild als Bild zu denken, steuert sie darüber hinaus die Grundlagen für alles bildwissenschaftliche Arbeiten bei, das keineswegs ausschließlich die Kunst zum Gegenstand hat. Oder anders gesagt: Das Entstehen einer Bildwissenschaft ist ohne das Bildverständnis der modernen Kunstbetrachtung nicht denkbar. Dies erklärt auch, warum die Kunstgeschichte in diesem Feld einen so prominenten Platz für sich reklamiert (etwa Sachs-Hombach 2005) oder warum Martin Schulz zur Einführung in die Bildwissenschaft wie selbstverständlich von der Kunstgeschichte ausgehend argumentiert (Schulz 2005).
Kunstgeschichte liefert jedoch nicht nur vorbildhaft gewordene Umgangsweisen, die auf formale Beschreibungen und Analysen von Bildern zielen. Kunstgeschichte verfügt auch über analytische Perspektiven, den gesellschaftlichen Stellenwert von Bildern und damit deren Einbindung in soziale Kontexte und Praktiken ermitteln zu können. Dabei reflektiert die Disziplin heute ihre eigenen Voraussetzungen, indem sie zeigt, dass das Phänomen, Bildwerke als Kunst zu klassifizieren, historisch gesehen tatsächlich relativ jung und zugleich ein Ergebnis sozialer Konvention ist. Es beginnt im Spätmittelalter in Italien mit der langsamen Emanzipation derjenigen Handwerker, die Figuren aus Stein, Holz oder Metall fabrizierten, die auf Wände oder transportable Untergründe malten, die zeichneten und Entwürfe lieferten. Angeregt durch das Interesse von Gelehrten und Literaten an einer Konkurrenz mit antiken Autoren, wuchs vor allem in humanistisch gebildeten Kreisen in der Toskana mit dem Zentrum Florenz ein theoretisch reflektiertes Interesse an den Möglichkeiten, Bildwerke bewusst in der Tradition der Rhetorik als eigene Kommunikationsform mit überzeugender Wirkung zu verwenden. Die Bildermacher, die in der Regel männlich waren, nutzten dazu bildeigene Strukturen, indem sie Materialien und Formenwahl gezielt so einsetzten, dass die künstliche Gestaltung, die Medialität, offensichtlich und damit in ihrer Eigenart erkennbar war (vgl. Kap. VI.1 Michelangelos David). Diese Praxis war im Handwerk auch zuvor schon angewandt worden. So leiteten etwa die christlich-religiösen Bildwerke des Mittelalters ihre Berechtigung gerade aus der Künstlichkeit ihrer Erscheinung ab. Sie zielte dort jedoch auf einen kunstfremden Zweck, bei Sakralobjekten etwa auf Inhalte der Religion und des Glaubens. Im 15. Jahrhundert beginnt diese Form von ,Fremdbestimmung‘ durch einen theologischen Kontext sukzessive in den Hintergrund zu treten und stattdessen eine Kunstfertigkeit sich als Kunst zu etablieren, die ihre Künstlichkeit selbstbewusst zur Schau stellen kann und vom entsprechend gebildeten Publikum deswegen geschätzt wird.
Kunst als soziale Praxis
Das alles wird letztlich erst durch die Institutionalisierung eines Kunstbetriebs möglich, der sich eigene Instanzen für die Diskussion und Bewertung dieser Artefakte schuf. Zu ihnen gehört das Mäzenatentum – ein prominentes Beispiel ist die Familie Medici in Florenz – und die Etablierung eigener, vom Handwerk losgelöster Ausbildungsstätten – die ersten werden im 16. Jahrhundert gegründet, die erste staatliche Akademie wurde 1648 in Frankreich eröffnet – genauso wie die Entstehung von Kunsttheorie und Kunstkritik und eines Sammlungs- und Ausstellungswesens. Dieser komplexe Prozess, der sich allmählich im Verlauf der Frühen Neuzeit vollzieht, integrierte retrospektiv auch diejenigen Werke in den Kanon der so erst entstehenden ,Kunst‘, die wie die mittelalterlichen Objekte oder die frühen Druckgrafiken noch gar nicht als solche gedacht gewesen waren. Hatte die ältere Kunstgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts diese Artefakte in ihren Kanon einbezogen, so ist inzwischen dieses nachträglich zur Kunst erklärte ,Bild vor der Kunst‘ (Belting 1990) als Gegenstand der Disziplin nicht mehr wegzudenken.
In der Kunstgeschichte wird heute über diese fachhistorischen Phänomene reflektiert. Darüber hinaus werden auch, mit Blick auf die Konstellationen in der Vergangenheit, Fragen nach den Differenzierungsprozessen zwischen ,Kunst‘ und den anderen Bildern gestellt, die offenkundig mit bildspezifischen Wirkungsweisen zusammenhängen. Zwar wurde das, was als Kunst ausgehandelt worden war, von Beginn an auch als ein Distinktionsmittel eingesetzt, mit dem sich Sammler und Mäzene als eine Elite kennzeichnen konnten, selbst wenn diese Elite, wie in der frühkapitalistischen Gesellschaft der nördlichen Niederlande des 17. Jahrhunderts, bereits eine breite Basis hatte.
,Kunst‘ wird aber auch von Beginn an in der ihr eigenen Wirkungsmacht zu propagandistischen wie erzieherischen Zwecken eingesetzt – bis hin zu den kunstpflegerischen Aufgaben in den modernen Gesellschaften. Dies war und ist nur möglich, weil Kunstwerke ihnen eigene Wahrnehmungen bedingen. Zwar wird die Ansicht vertreten, dass diese tatsächlich auf Konstruktionen beruhen, die an die Bildwerke erst herangetragen werden. Indem mit Blick auf diese Praxis in der Kunstgeschichte jedoch analysiert wird, was ,Kunst‘ zur Kunst macht(e), lässt sich ermitteln, welche Kriterien historisch durchgängig als bildeigen angesehen und funktionalisiert werden. Es lässt sich aufzeigen, wie Bildproduktion und Bildrezeption durch etablierte Übereinkünfte und ihre Übertretung einander bedingen. Mit Hilfe der Kunstgeschichte lässt sich dies als historisch gewachsen und konsolidiert beschreiben. Die Bildwissenschaft darf jedoch nicht allein auf die Kunst bezogen bleiben. Hier muss ein zunächst unhierarchisch gedachter Begriff vom Bild zugrunde gelegt werden, um dann in der Theoretisierung den diversen Bildern aller Zeiten, Kulturen und Techniken gerecht werden zu können. Einen Ansatzpunkt hierzu bietet die Analyse der Visualität, die als eine Verschränkung von körperlichen Voraussetzungen des Menschen und seiner sozialen Umwelt verstanden werden kann (Mitchell 2008f, 325). Wie Eva Schürmann ausführt, ist zwar das Sehen eine performative Praxis, die in ein Zusammenspiel von Deutungen und Normen eingebunden ist. Diese setzen jedoch die Existenz von etwas, dem Bild, voraus, das in diesem Zusammenspiel jeweils interpretiert werden kann (Schürmann 2008, 37). Gerade die historischen Prozesse, die mit der Kunstwerdung verbunden sind und nachhaltige Verschiebungen in den visuellen Kulturen bedingen, liefern daher wertvolle Aufschlüsse für unsere Diskussionen über das Bild an sich und dessen Definition.