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2. Das Projekt Bildwissenschaft

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Seit der Neuzeit haben westliche Gesellschaften beständig neue Netze des Wissens über die Welt gelegt. Ihre Auseinandersetzung mit den nichtmenschlichen Sachverhalten, mit den Menschen, den anderen Kulturen und Gesellschaften sowie ihre Selbstverständigung löste sich dabei zunehmend, wenngleich nicht immer eindeutig zielgerichtet, aus theologischem Denken. Das Ensemble der Wissenschaften, das heute an Universitäten und Forschungsinstituten seinen sichtbaren Platz hat, spiegelt also nicht eine vorgegebene Struktur der Welt wider, deren einzelne Elemente der Mensch nur nach und nach erst hat entdecken und ihnen jeweils eine Wissenschaftsdisziplin hat widmen müssen. Es ist vielmehr das – vorläufige – Ergebnis komplexer sozialer Interaktionen, die immer wieder zu Verschiebungen des Erkenntnisinteresses geführt haben und auch zukünftig führen werden.

Disziplinlosigkeit

2010 ist der Stand in diesem Prozess, dass ein Projekt „Bildwissenschaft“ sich im deutschen Sprachraum zu behaupten versucht. Längst erfüllt es noch nicht alle Kriterien einer vollgültigen Wissenschaft: Zwar gibt es eine exponentiell wachsende Zahl an Veröffentlichungen, neben Aufsätzen und Sammelbänden auch schon Monografien und Einführungen, sowie Studiengänge und Forschungsschwerpunkte. Doch noch existieren keine entsprechenden Universitäts- oder Forschungsinstitute, die eine dauerhafte Verankerung verbürgen. Diese Situation prägt nicht nur die Ebene der Institutionen, sondern das gesamte Projekt entscheidend: Daraus gewinnt die Bildwissenschaft ihre momentane Vielfalt, die sie gar nicht haben könnte, wenn es ein kohärentes und enges Set an Theorien, Methoden und Gegenständen schon gäbe, so dass eine Person das „Fach in seiner ganzen Breite in Forschung und Lehre“, wie es in entsprechenden Stellenausschreibungen immer heißt, repräsentieren könnte. Auch international ist eine solche Kanonisierung und Verengung gegenwärtig keineswegs absehbar. Das mag man beklagen oder die ,Disziplinlosigkeit‘ gerade schätzen. Auf jeden Fall lohnt sich ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte; denn deren treibende Prinzipien scheinen gerade in der Selbstverständigung der angloamerikanischen Visual Culture Studies wieder hervorgekehrt zu werden: Ihnen geht es um eine Neugier, um das „curious eye“ (Rogoff 1998, 17), das nur dann durch neue Einsichten befriedigt werden kann, wenn es gelingt, wenigstens zeitweise das Gängelband der auf Besitzstandswahrung bestehenden Disziplinen abzustreifen. Das Studium der visuellen Kultur wird also ermutigt durch eine Denkfigur von ebenfalls bereits ehrwürdigem Alter: durch die grenzüberschreitende, ketzerische und heterodoxe curiositas, die in der Frühen Neuzeit am Beginn der Naturwissenschaften stand (Blumenberg 1984). Dazu kann es weder genügen, das statische Kunstwerk als hinreichend komplexes Modell für das Verständnis der visuellen Kultur anzupreisen, noch im Umkehrschluss die vorhandenen Bildkompetenzen der Kunstgeschichte, Philosophie und Medienwissenschaften ungeprüft zu verwerfen. Dennoch muss Bildwissenschaft mehr sein, als eine hierarchische Reihung oder eine Summe dieser Einzeldisziplinen. Das Interesse am Bild der vergangenen 20 Jahre zeigt, dass die damit verbundenen, hoch kontroversen Forschungsdiskussionen eine eigene Spezialisierung erfordern.

Egal ob Definition (Belting 2001; Schulz 2005; Boehm 2007; Bruhn 2009), selbstkritische Zweifel (Bal 2003) oder Minimalkonsens (Sachs-Hombach 2003): Alle Versuche, die Vieldeutigkeit des Bildbegriffs, die er seinem breiten kulturellen Gebrauch verdankt, zu beschränken, wollen durch wissenschaftliche Autorität eine gesellschaftliche Praxis eindämmen. Stattdessen wollen wir hier diese Praxis zur Grundlage dafür machen, die Schwierigkeiten mit dem Bild(-Begriff) bzw. den Bildbegriffen nachzuzeichnen und fruchtbar zu wenden. Viel mehr als jede Geste der Auslöschung der Disziplinen, die allenfalls ihre eigenen Voraussetzungen zu verleugnen versucht, verspricht heute das unvoreingenommene Gespräch über die Fachgrenzen hinweg. Solche „Undiszipliniertheit“ (Mitchell 2008e, 265) ist der Schwierigkeit geschuldet, dass sich die soziale Komplexität der visuellen Kulturen nicht länger allein mit hochspezialisierten disziplinären Fertigkeiten und Wissensbeständen bearbeiten lässt (Responses to Bal 2003).

Unser Buch wird also nicht in eine bereits vorhandene und in ihren Grenzen abgesteckte wie akzeptierte Bildwissenschaft einführen. Es soll jedoch die Neugier auf die Phänomene der visuellen Kulturen herausfordern und kann die Untersuchungsgegenstände gegenwärtiger Disziplinen in einem vielfältigeren Licht erscheinen lassen. Wie wiederum die frühneuzeitliche Wissenschaftsgenese lehrt, ist die Ausgangssituation keine tabula rasa, sondern das disziplinäre Vorwissen prägt der Auseinandersetzung mit den Bildern und um die Bilder immer seinen Stempel auf. Wir selbst argumentieren mit den Disziplinen Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft im Hintergrund, die Fragen nach dem Bild auf ganz unterschiedliche Weise stellen und dementsprechend häufig, aber nicht immer, unterschiedlich angehen. Mit dieser Einführung wollen wir auch aufzeigen, wie solche Differenzen auf einer gemeinsamen Ebene der Bildwissenschaft, nicht zuletzt auch zum Nutzen anderer Disziplinen, produktiv gemacht werden können.

Bild – Medium – Kultur

Mit dem Begriff Bildwissenschaft folgen wir ohne weitere Definition der Terminologie, die sich als gangbare und historisch sicher richtige Abkürzung für alle Forschungsaktivitäten zur visuellen Kultur im deutschen Sprachraum eingebürgert hat. International, etwa übersetzt in die lingua franca der globalen Forschung als image science, ist der Begriff unbrauchbar. Das anglo-amerikanische Forschungsprogramm charakterisiert sich als Visual Culture Studies (Elkins 2003; Mirzoeff 1999; Evans/Hall 1999). In Frankreich hat Régis Debray Vorschläge zu einer Médiologie unterbreitet (Debray 1996 u. 1999). Obwohl das Studium der Bilder ein internationales Anliegen ist, deuten die programmatischen Unterschiede, die in diesen Bezeichnungen auch zum Ausdruck kommen, darauf hin, dass kaum eine wechselseitige Rezeption zwischen den sprachgebundenen Wissenschaftstraditionen stattfand. Selbst der „pictorial turn“ (Mitchell 1992a/2008b) hat im deutschen Sprachgebrauch mit dem „iconic turn“ (Boehm 1994b, 13) eine inhaltlich allerdings nicht übereinstimmende Entsprechung. In jüngster Zeit zeichnet sich hier eine Veränderung ab, wenn Übersetzungen mit der editorischen Programmatik veröffentlicht werden, Texte im Wissenschaftsdiskurs besser zugänglich zu machen (z. B. Mitchell 2008, Trivium 1 / 2008). Auch wir wollen nach Kräften allen Diskussionsbeiträgen Gehör verschaffen. Dazu sollte man wissen, dass eine praktikable Bezeichnung wie Bildwissenschaft abkürzend für die wissenschaftliche Auseinandersetzung außer mit Bildern im Speziellen auch mit den visuellen Kulturen im Allgemeinen steht, ohne die mediale und materielle Gestalt des Visuellen auszublenden. Somit versteht sich diese Einführung als eine Anleitung für die ersten professionellen Schritte in die visuellen Kulturen, denen weitere eigenständige folgen müssen. In den einzelnen Kapiteln führen wir schlaglichtartig in die Konzepte, Modelle und Argumente ein, die trotz offener Programmatik in den Debatten immer wiederkehren. Die Analysebeispiele am Ende des Buches sind so gewählt, dass verschiedene Themen und Facetten das curious eye stimulieren sollen, mit dem Erlernten selbst neue Beschäftigungs- und Forschungsfelder zu erschließen.

Einführung in die Bildwissenschaft

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