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5. Bildgebende Verfahren und „digitale Bilder“

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1895: Film und X-Strahlen

Walter Benjamin definierte den Film als ein völlig neues Bildgeschehen. Zwar entstünden seit dem Holzschnitt des 15. Jahrhunderts diverse Reproduktionstechniken, sie kommen ihm zufolge jedoch erst im Tonfilm zu ihrem Ziel. Erst hier, so Benjamin, gelinge es der Reproduktion sich vom Original abzulösen und zur schier mechanischen Produktion ohne Vorlage zu werden (Benjamin 1974 [1936]a). Und erst jetzt kann ohne Begrenzung Bewegung beliebig oft aufgezeichnet und durch den Schnitt das gewünschte Ergebnis montiert werden. Die so verstandene, mechanisch-apparative Produktionstechnik auf fotochemischer Grundlage lässt sich also mit gutem Grund als ein bildgebendes Verfahren auffassen. Doch obwohl neue Apparate und Techniken den Film materiell und sozial konstituieren (Hake 1993), richtet sich die Rede über Film seither nicht primär an den Verfahren aus. Terminologie wie Betrachtungsweise stammen vielmehr überwiegend aus älteren Traditionen der Ästhetik oder aus der Erforschung von Massenmedien, was Begriffe wie etwa Kunst, Medium, Unterhaltungsindustrie etc. anzeigen.

Vergleichbar verhält es sich mit den unsichtbaren Strahlen, die Conrad Röntgen 1895 zeitgleich mit den ersten Vorführungen des Kinematographen durch die Brüder Lumière und die Brüder Skladanowsky erstmals sichtbar macht. Anders als dem Film wird diesen unbekannten oder X-Strahlen nur selten ein Platz in den bisherigen Geschichten der Bilder eingeräumt, rückte doch statt des bildgebenden Verfahrens die medizinische und wissenschaftliche Bedeutung dieser Entdeckung sofort in den Mittelpunkt. Dieser Umgang begleitet die bis heute anhaltende Weiterentwicklung von Geräten zur Visualisierung des Körperinneren, egal ob es sich um sog. Röntgenbilder, um Ultraschallaufnahmen oder um die Ausgabe des Computer- oder Magnetresonanztomografen handelt: Ihre Wahrnehmung erfolgt hochgradig selektiv. Dem diagnostischen Ziel werden sowohl die sozialen Konstellationen der Macht und Expertise untergeordnet, welche die Herstellungs- und Deutungssituation dieser Bilder prägen (Cartwright 1995), als auch die Vielzahl der Informationen und Bildgehalte, die ganz gezielt übersehen werden (am Beispiel Röntgenbild: Elkins 2000, 34 – 47). Und übersehen werden können sie, weil sich die Betrachtungsweise dieser Bilder, trotz ihrer Andersartigkeit, innerhalb vorhandener Bildkonventionen vollzieht.

Wie der Vergleich mit einer Zeichnung aus Albrecht Dürers Skizzenbuch zeigt, dokumentiert die frühe Röntgenaufnahme das Anknüpfen des neuartigen technischen Bildes an das Bildgedächtnis (Wenzel 2003), das die Schatten interpretierbar macht, die Röntgenstrahlung fixiert (Abb. 2, 3). Das Röntgen-Bild schreibt damit die wissenschaftliche Tradition einer neuzeitlichen curiositas fort, die sich der Aufzeichnung und Vermessung der Welt verpflichtet hatte (Heßler 2006). Bilder, die mittels Apparaten gewonnen werden, sind ebenso wenig neutrale Werkzeuge des Zugangs zur Wirklichkeit wie manuell erzeugte Artefakte. Ihr erkennbarer Realitätsbezug wird im Moment ihrer Wahrnehmung geschaffen, nicht in dem ihrer Produktion.


Abb. 2: Röntgenaufnahme einer Hand, aufgenommen am 22. Dezember 1895


Abb. 3: Albrecht Dürer, Die linke Hand des Künstlers (1513), Federzeichnung aus dem Dresdner Skizzenbuch

Bildgebende Verfahren

Wie diese Beispiele zeigen, ist der relativ junge Begriff ,bildgebendes Verfahren‘ – zuerst wohl in der Medizin um 1980 verwendet (Krestel 1980; Kleinschmidt 1980) – historisch und systematisch nicht genau abzugrenzen, auch wenn er heute mehrheitlich auf die Bildproduktion in den Wissenschaften angewandt wird. Kaum zu überblicken ist dort die Vielfalt der Bereiche, in denen bildgebende Verfahren eine Rolle spielen. Von der Erdbeobachtung durch Satelliten war im einleitenden Kapitel schon die Rede. Ähnliches gilt für Planetensonden, die Informationen von anderen Himmelskörpern zur Erde übermitteln sollen. Neben der Astrophysik spielen derartige Verfahren auch in der Medizin, der Mikroskopie, der Teilchenphysik und der Quantenmechanik eine oftmals das Forschungsobjekt erst konstituierende Rolle. Allen bildgebenden Verfahren in diesem engen Verständnis ist gemeinsam, dass sie auf Messungen eines von einem Objekt ausgehenden physikalischen Effekts beruhen. Diese Messungen werden dann wiederum mit ganz unterschiedlichen Verfahren in ein oder mehrere Bilder umgewandelt. Der gemessene Effekt wird zumeist durch eine Sondierung erst gezielt hervorgerufen, etwa mit Ultraschall, Radioisotopen oder Magnetfeldern.

Das gängige Schlagwort ,bildgebende Verfahren‘ ist also voraussetzungsreich, weil es implizit die Frage nach der Wissenschaftlichkeit oder der sonstigen Besonderheit von Prozeduren ebenso zu beantworten scheint wie die nach der Beschaffenheit der verwendeten Apparate. Doch Apparate (lat. apparatus, Werkzeug) können alle technischen Hilfsmittel ganz unterschiedlicher Komplexität sein; und technisch (von griech. TÉXVY, Handwerk, Kunstfertigkeit) wiederum können alle solchen Hilfsmittel heißen, ob sie sich auf die antiken und mittelalterlichen Traditionen kunstfertiger Verfahrensweisen beziehen oder auf den modernen Begriff der industriell hergestellten und eingesetzten Maschinen.

Errechnete Bilder

Einen vergleichbaren Qualitätssprung wie Film und Röntgenstrahlen, die erstmals Bewegung und vordem unsichtbares Körperinneres am lebenden Objekt aufgezeichnet haben, stellt die Digitalisierung als neue Produktionstechnik des Visuellen dar. Doch die Digitalisierung und ihre Apparate sind nicht nur als Produktionstechnik ein derart einschneidender Faktor geworden. Sie fungieren zugleich als Schnittstelle und Intermedium für alle bisherigen apparativ erzeugten Aufzeichnungen, die jetzt integriert und aufgrund derselben Speichertechnik ineinander transformiert werden können. Jegliche Art von Daten kann durch Algorithmen visualisiert oder aber auch akustisch repräsentiert werden (Schneider/Strothotte/Marotzki 2003).

Der Qualitätssprung, welcher auch der späten Durchsetzung der Digitalisierung in unserer unmittelbaren Gegenwart zugrunde liegt, ist der Wechsel des bildgebenden Verfahrens. An die Stelle des konstruierten tritt das errechnete Bild. Der Bruch zwischen Geometrie und Algebra, zwischen Optik und Simulation ist jedoch schon erheblich älter als die Verbreitung von Computer, Benutzeroberflächen mit ihren „Windows“ und Internet. Die Voraussetzungen für errechnete Bilder hat wiederum das Interesse an der Bewegung geschaffen, jedoch nicht mehr an ihrer Aufzeichnung und Analyse, sondern an ihrem maschinellen Nachbau, also der Konstruktion und Synthese. 1836 erstellten die Brüder Weber für ihr Buch Die Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge unter Berücksichtigung der Anzahl der Beine, der Anzahl der Gelenke und der Dreidimensionalität jeder Bewegung im Raum Bewegungsgleichungen. Die rein numerischen Lösungstabellen dieser Gleichungen ließen sie dann jedoch wieder in Illustrationen umsetzen und übersetzten somit erstmals Zahlen in Bilder. Sie gaben zudem ihren Lesern den Ratschlag an die Hand, jedes der errechneten Phasenbilder in die Trommel des wenige Jahre früher erdachten, auf dem stroboskopischen Effekt beruhenden Phenakistiskops zu kleben. Errechnetes Bild und Erinnerungsbild tatsächlicher Bewegung sollten so verglichen werden (Kittler 2004).

Algebra und Statistik

Wenn heute bei einem internationalen Tennisturnier die Spieler eine Entscheidung der Linienrichter in Zweifel ziehen und das Recht haben, das hawk eye zu bemühen, dann werden dabei Aufnahmen von mehreren Kameras mit Hilfe eines speziellen Computerprogramms zum Bild einer näherungsweise berechneten Flugkurve des Balles synthetisiert, die mit hoher Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Bahn entspricht. Es handelt sich bei den nur sogenannten digitalen Bildern eigentlich um errechnete Bilder, hinter deren sichtbarer Oberfläche sich Zahlenverhältnisse und Rechenoperationen verbergen. Digitale Bilder/Bilder des Digitalen im strengen Wortsinn gibt es nur dort, wo die digitale Codierung selbst in geschriebenen/gedruckten Zahlenkolonnen sichtbar gemacht wird, ganz ähnlich den Ergebnistabellen der Brüder Weber. Die Ausgabe dieser Zahlenverhältnisse als Bild ist dabei das nicht notwendige Ergebnis einer Entscheidung für die visuelle anstatt einer anderen Darstellung. Dieser Entscheidung können verschiedenste Erwägungen zugrunde liegen: die Ökonomie, also Übersichtlichkeit und Kompaktheit, der Informationsdarbietung, die ästhetische Anmutung, die Überzeugungskraft innerhalb der Kommunikation zwischen den Wissenschaftlern oder bei der Popularisierung wissenschaftlicher Ergebnisse in der Öffentlichkeit (vgl. Heintz/Huber 2001a).

Wie bei den medizinischen Verfahren seit Entdeckung der Röntgenstrahlen wird hierbei besonders deutlich, dass bildgebende Verfahren und errechnete Bilder immer auch einen Überschuss an Darstellungsqualitäten und Informationen aufweisen können, die schließlich auch mehr und anderes an Bedeutung produzieren, als das ihnen zugrunde liegende Material selbst enthält. Bilder stellen hier nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse nachträglich dar, sondern können ebenso am Beginn eines Produktionsprozesses wissenschaftlicher Einsichten stehen: „Am Anfang war das Bild“, um Faust zu variieren.

Simulacrum und Simulation

Die Stärke des errechneten Bildes beruht in der Fähigkeit der unbegrenzten Formveränderung, als deren Ergebnis etwa auch scheinbar vertraute Bilder des Niegesehenen ebenso auftreten können wie befremdliche Bilder des Vertrautesten. Das ermöglicht eine Kreativität, welche die Konventionen und die Begrenzungen sprengt, die das geometrische Sehen bis hin zu Foto und Film der Visualität auferlegt hatte. Weil sie dessen Erscheinungsformen teilen, wird durch das errechnete Bild zugleich auch die vermeintliche Objektivität und Authentizität der bisherigen Aufzeichnungstechniken erschüttert. Damit erwirbt das errechnete Bild Merkmale, die vor allem dem Bild in der Kunst seit der Moderne zugeschrieben werden (Mitchell 1992b). Heute ist es die Kunst, die solche bildgebenden Verfahren verwendet, um deren Schwierigkeiten sowie die aktuellen Schwierigkeiten mit dem Bild überhaupt sichtbar und verhandelbar zu machen (Gamm/Schürmann 2007). Indem durch die Nutzung von (digitaler) Medientechnik Kunst, Wissenschaften und Unterhaltungsindustrie ineinander transformierbar werden, erweist sich ihre klare Abgrenzung gegeneinander zunehmend als problematisch (vgl. Kap. VI.7 Medium und Geschlecht: VALIE EXPORT vs. Madonna). Die Bildverhältnisse der Gegenwart sind damit jeglicher Selbstverständlichkeit entkleidet.

Dem errechneten Bild geht nicht nur kein Originalkunstwerk, sondern auch keine Realität mehr notwendig voraus. Wie der Film bildet es nicht nach, es bildet aber auch nicht mehr ab, wie es die Fotografie nach den optischen Prinzipien der Perspektive noch getan hatte und als sog. analoge Fotografie immer noch praktiziert. Wenn es überhaupt noch auf eine möglich scheinende Realität verweist, ist seine Nachahmung (Mimesis) immer schon Mimese oder Mimikry, also eine Anpassung seiner äußeren Erscheinung an konventionelle oder analoge Bilder und gleichsam eine Form der Tarnung oder Vortäuschung. Medienkritik und Medientheorie haben dies mit den vielschichtigen Begriffen des Simulacrums (lat. Bild, Abbild, Gebilde, Statue, Götterbild, Spiegelbild, Traumbild, Schatten, Gespenst, Trugbild, Phantom) und der Simulation (Baudrillard 1976) zu beschreiben versucht. Die Mehrzahl dieser philosophisch-kulturkritischen Ansätze diagnostiziert eine Beeinflussung bis hin zur Ersetzung der Wirklichkeit durch medienspezifische Bilder, welche insbesondere die Massenmedien zirkulieren lassen.

Computervisualistik

Für das Errechnen von Bildern hat sich aufgrund ihrer Bedeutung in den Wissenschaften ebenso wie für die Wirtschaft eine eigene Teildisziplin der Informatik herausgebildet. Die Computervisualistik (Schirra 2005) beschäftigt sich heute darüber hinaus mit bildverstehenden Systemen, die ein maschinelles Sehen (Mustererkennung) und eine automatisierte Verarbeitung optischer Informationen, die im Bereich der Künstlichen Intelligenz Prozesse des menschlichen (Bild-)Verstehens nachahmt, ermöglichen.

Hierbei handelt es sich jedoch nicht nur um neue Felder, auf denen Bilder anzutreffen sind, und nicht nur um neue Anwendungsbereiche. Das Ensemble aus bildgebenden Verfahren und errechneten Bildern führt vielmehr zu grundsätzlichen Fragen, die zentrale Merkmale von Bildern angehen. Wenn etwa vorausgesetzt wird, dass Bilder immer als Stellvertreter für etwas Abwesendes fungieren, kommen klassische Theorien der Repräsentation dadurch an ihre Grenzen (Elkins 2008a).

Vielzahl wissenschaftlicher Bildverfahren

Einseitige Fixierung auf den engumgrenzten Bereich der bildgebenden Verfahren wird der Relevanz verschiedenster „visueller Praktiken“ für die Mehrzahl der Wissenschaften bei Weitem nicht gerecht (Elkins 2007a), sondern reproduziert vielmehr die Faszination – bezeichnenderweise ein Begriff, der im Lateinischen Verhexung, Verblendung bedeutet – durch undurchschaubare großtechnologische Anlagen oder Rechner-hardware. Andere Formen von Bildherstellung und -gebrauch sind ebenso in den Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, bei Geologen und Archäologen, Zoologen und Ethnologen an der Tagesordnung. Ihre konstitutive Rolle bei der Wissensproduktion, -speicherung und -verbreitung interessiert die Bildwissenschaft ebenso wie diejenigen Formen der Argumentation (Mersch 2006), die Ausdruck einer bildspezifischen Logik sind (Heßler/Mersch 2009).

Einführung in die Bildwissenschaft

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