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4. Die sichtbare Bewegung

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Die Bedeutung des Films

Vor allem der Film sollte schon früh für eine bildwissenschaftliche Theoriebildung zur Bewegung im Bild nachhaltig einflussreich sein. Als im Jahr 1924 das erste Mal systematisch von visueller Kultur die Rede war (Balázs 1924), hatte der stumme Film seinen Höhepunkt erreicht. Werke wie Sergej Ėjzenštejns Bronenossez „Potjomkin“ (Panzerkreuzer Potemkin, UdSSR 1925) oder Friedrich Wilhelm Murnaus Der letzte Mann (Deutschland 1924) entwickelten ihre gestalterischen Mittel so weit, dass die Kinoindustrie nicht nur als erheblicher Wirtschaftsfaktor erscheinen konnte. Vielmehr wurde das Produkt dieser Unterhaltungsindustrie nun zugleich als selbständige Kunstform diskutiert, deren prägende Ausdruckskraft die gesamte Kultur zu gestalten und umzugestalten in der Lage zu sein schien. Aus den filmischen Verfahrensweisen, die das möglich gemacht hatten, ragten die Arbeit der selbst frei im Raum bewegten, ja entfesselten Kamera – maßgeblich entwickelt von Kameraleuten wie Karl Freund – und die Montage am Schneidetisch (Ėjzenštejn) heraus. Sie komplettierten jedoch nur ein Ensemble etablierter eigenständiger Mittel, von denen wiederum die Groß- und Detailaufnahmen die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, weil sie ein Zeigen ermöglichten, das etwa das konkurrierende Theater nicht leisten konnte.

Diese Entwicklungen wurden von grundlegenden Diskussionen zur Theoretisierung des Bildes begleitet, bei denen sich die Kinematographie vom Gegenstand der Tageskritik hin zu einem zentralen Thema der Kulturwissenschaft wandelte, mit dem ganz grundlegende Hoffnungen auf Veränderung in Kultur und Gesellschaft verbunden wurden: So leitete, um nur einige einflussreiche Stimmen zu Wort kommen zu lassen, der Filmkritiker Béla Balázs seine Forderung nach einer Gesellschaftsreform im Zeichen einer Revisualisierung der Kultur von der Durchsetzung von Film und Kino ab. Auch Walter Benjamin wählte als Fluchtpunkt seiner Geschichte der Reproduktionstechniken den Film (Benjamin 1974 [1936]a). Die auf Zelluloidstreifen aufgezeichnete menschliche Bewegung steht damit im Zentrum der ersten Versuche, die visuelle Kultur und nicht das Einzelbild als ein Studienobjekt zu formen.

Film als Bildwissenschaft

Die Erfahrungen mit dem jetzt endgültig etablierten Medium und das aufkeimende Interesse an einer Erforschung der visuellen Kultur hängen also ursächlich miteinander zusammen, beide ruhen auf denselben sozialen, denk- und mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen, die mit der Modernisierung in den westlichen Konsumgesellschaften nach dem Ersten Weltkrieg einher gingen. Daher gilt es hier, die Allianz von Film und Bildwissenschaft in der Moderne zunächst zu entwirren, statt gleich ein bildwissenschaftliches Nachdenken naiv auf den Film als Objekt zu richten.

Wenn um 1920 der Kinematograph und seine Projektionen ein neues Nachdenken über die Bedeutung des Sichtbaren auslösen konnten, dann, weil in diesem Medium die urbane Moderne zu sich selbst zu kommen sucht, sich bespiegelt und sich in diesem Spiegel erkennen will. Spiegel ist dabei durchaus nicht nur eine Metapher: Zwischen dem glänzend spiegelnden Asphalt der Großstadtstraßen im deutschen Straßenfilm (Karl Grune: Die Straße 1923), den reflektierenden und doch transparent bleibenden Schaufensterscheiben in Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder oder Charly Chaplins City Lights (beide 1931) spielen die sichtbaren Oberflächen, die Materialität und die dynamische Veränderung der Stadt sowie die Medien, welche die moderne Stadt erst erschaffen, zentrale Rollen. Dies hatte sich lange vorbereitet.

„Bewegung und Zeit konnten gesehen und erfahren, nicht aber abgebildet werden“ (Crary 1996, 45), jedenfalls vor der Erfindung des Films nicht in einer Weise, die eine Illusion von der Vollständigkeit des Bewegungsvorgangs zu erzeugen in der Lage war. Statt dessen existierten andere Formen bildlicher Bewegungsillusion: durch mehrere voneinander unterschiedene Bilder, die wie in Reisegeschichten oder Bildfolgen, wie wir sie von der mittelalterlichen Wandmalerei oder Wandteppichen her kennen, Sequenzen des Raumverhaltens identischer Körper zeigen. Auch durch Mehrfachbelichtung, durch Eintragungen in geografische Karten, durch Notationssysteme für Choreografien wie die Laban-Notation oder durch Anzeichen der Dynamik von Bewegung in statischen Gemälden oder bildhauerischen Arbeiten wie etwa dem gezeigten Muskeltonus. Die Aufreihung von Serienfotografien auf einer Rolle und die hinreichend schnelle Projektion der Einzelbilder stehen an einem spezifischen Punkt dieser Geschichte. Dass das Verfahren dann seit den 1910er Jahren mehrheitlich verwendet wurde, um Geschichten zu erzählen, wie es der im 19. Jahrhundert so erfolgreiche Roman getan hatte und wie die oben erwähnten Filme exemplarisch belegen, gehört ebenfalls zu den historisch signifikanten Entscheidungen in diesem Entwicklungsprozess.

Die Bindung der Bewegungsdarstellung an den Illusionismus, wie sie die Filmgeschichte vollzieht, setzte zunächst dessen Durchsetzung als Norm in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts voraus: Die Aufwertung der sinnlichen Natur erhebt die empirische Welt schließlich zum Maßstab der Darstellung. Empirische Welt und ihre sinnliche Erfahrung werden erstmals so wichtig, dass eine eigenständige philosophische Disziplin entsteht, die sich mit der sinnlichen Wahrnehmung, der Aisthesis, beschäftigt. In den Bereich dieser Ästhetik gehören auch die Künste. Die Aufwertung der sinnlichen Natur befreit auch deren Darstellung von der Verpflichtung auf eine Visualisierung von Ideen, Begriffen und in der Tradition vorgeprägten Mustern und Stoffen und steigert zugleich ihr Ansehen immens. Dieser Prestigegewinn geht so weit, dass sogar eine Autonomie der Künste denkbar wird, die eine Lösung von der Vorherrschaft der voraufklärerischen Theologie oder aufgeklärten Philosophie bedeutete, deren Begriffe und Normen sie bislang anschaulich an Beispielen zu illustrieren hatten. Die ästhetische Debatte der Aufklärung, an deren Ende das Autonomiepostulat steht, wird anhand von Beispielen der antiken griechischen Plastik ausgetragen, deren „edle Einfalt und […] stille Größe“ (Winckelmann 1962 [1756], 21) zum Vorbild gegen die christliche wie die höfische Kunst erhoben wird.

„Laokoon-Ästhetik“

Es ist G. E. Lessing, der 1766 durch seine Auseinandersetzung mit der Laokoon-Gruppe (ca. 1. Jhd. nach Chr., Ausgrabung 1506) zur folgenreichen Unterscheidung zwischen bildender Kunst und Literatur beiträgt. Beide Künste täuschen Lessing zufolge mit ihrer Repräsentation von Abwesendem die Rezipienten, doch unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Semiotik, ihrer Art des Zeichengebrauchs: Die bildenden Künste verwendeten natürliche Körper als Zeichen, während die Literatur auf willkürliche Sprachzeichen zurückgreifen müsste. Die Körperzeichen im Raum, wie sie etwa die Laokoon-Gruppe vermittelt, repräsentieren gleichzeitig nur einen einzigen fruchtbaren Moment aus einem umfangreicheren Zusammenhang, die willkürlichen Zeichen eines Textes repräsentieren diesen Zusammenhang nacheinander in seiner ganzen Ausdehnung in der Zeit. Da sie aus dem Raumverhalten in der Zeit, der Bewegung, den einen Augenblick ausschneiden, statisch festhalten und dauerhaft zur Ansicht ausstellen, will Lessing die bildenden Künste auf diejenigen Gegenstände aus der gesamten sinnlichen Natur einschränken, die schön sind. Dagegen erlaubt er der Literatur aufgrund ihrer Verwendung von nicht-natürlichen Zeichen und der (schnellen) Abfolge der Handlungssequenzen einen weiteren Ausgriff in die Natur und ihre nicht-schönen Aspekte (vgl. Kap. VI.4 Hoffmanns Prinzessin Brambilla). Diese Trennung der Künste und ängstliche Einschränkung der bildenden, die dem Theoretiker Lessing deshalb vorgeworfen wird (Mitchell 1986, 95 – 115; Wellbery 1994), hat beim Theaterpraktiker Lessing keinen Bestand; denn, wie er selbst ausführt, mischt das Theater Körper- und Sprachzeichen, Raum- und Zeitkunst, indem es mit redenden und gebärdenden Schauspielern erzählt (Lessing 1767 / 68). Die Bewegungsaufzeichnung als Handlungsdarstellung ist jedenfalls für die lange Wirkungszeit des Laokoon der als sittlich prekär empfundenen illusionistischen Körperrepräsentation der Bilder entzogen. Erst als die Serienfotografie zum Filmstreifen montiert und mittels dieser Bewegungssimulation dann mit Bildern statt wie in der Literatur mit Schriftzeichen erzählt wird, zerbricht die Vorherrschaft der Laokoon-Ästhetik als eines Bildregimes langer Dauer endgültig (vgl. Kap. IV.1).

Schreibende Körper

Lessing hat den bewegten Körper als theoretisches Objekt von höchstem Rang etabliert, zugleich aber dem Einbruch der Empirie von Sinneswahrnehmung dabei enge Grenzen gezogen. Erst das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts beginnt diese Einschränkungen aufzuheben und sich für die Sichtbarkeit der Bewegung und die visuelle Repräsentation der Bewegung wieder verstärkt zu interessieren. Hier beginnt die Kritik der Kultur als Kritik an der Sprache, die jetzt als die Form der Versteinerung des Lebens in gesellschaftlichen und intellektuellen Konventionen empfunden wird. Das führt zu einer Bevorzugung von Tanz und anderen niederen, etwa akrobatischen und circensischen Künsten, die „stumm ausgeübt“ (Hofmannsthal) werden (Goellner/Murphy 1995). Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht sprachlich fixiert werden können, weil sie sich nicht an hergebrachte Bewegungscodes wie noch die Schrittfolgen der danse d’école halten (Ducrey 1996; Montandon 1999). Als unkonventionelle und ephemere Bewegungsereignisse, als „écriture corporelle“ (Mallarmé 1998, 170), als ein Schreiben mit dem Körper, können sie sich zu einer ebenso unkonventionellen, neuen poetischen Sprache verbinden, die ihr Schreiben selbst dann buchstäblich als eine Form des Tanzes der Wörter und schließlich der einzelnen Buchstaben auszugestalten versucht (vgl. Abb. 26, dazu weiter unten Kap. VI.6 sowie Guillaume Apollinaire: Calligrammes, 1918; vgl. Kap. V.6 Denk-Bild-Theorie: Walter Benjamin: VEREIDIGTER BÜCHERREVISOR (1928)). Verbinden können sie sich aber auch mit ebenso neuen Formen der Bewegungsaufzeichnung durch Notation oder Fotografie.

Die neuen technischen Möglichkeiten der Moment- und Serienfotografie, die Eadweard Muybridge, Étienne-Jules Marey und Ottomar Anschütz entwickeln, erweitern den Bereich des Sichtbaren weit in das Feld der Bewegung hinein. Physikalische, berechenbare Phänomene, die wie Geschossbahnen oder stellare Bewegungen seit der Frühen Neuzeit bekannt, aber unsichtbar waren – erwähnt seien nur die Experimente Leonardos und Galileos sowie Keplers mathematische Dokumentationen der Himmelsbeobachtungen Tycho Brahes – konnten nun mittels der neuen Apparate zur Anschauung gebracht werden. So gelang Ernst Mach im Sommer 1886 mit Aufnahmen im Bereich der Hochgeschwindigkeit fliegender Projektile die Erforschung von technisch hervorgebrachten Bewegungen, die weit jenseits der Differenzierungsschwelle des Auges liegen. Seither gehört es zu den Grunderfahrungen, „daß es eine andere Natur ist, die zu der Kamera als die zum Auge spricht“ (Benjamin 1974 [1936]a, 461). Die Aufzeichnung der Bewegung durch Serienfotografie zusammen mit Studien zur Physiologie des Auges und zur Psychologie des Sehens schaffen die Grundlagen für die Bewegungsillusion durch hinreichend schnelle Bewegung der Bilderserien selbst, die der Kinematograph projiziert. Bis weit in die 1930er Jahre ist die theoretische Diskussion des Kinos von der Bewegungswahrnehmung und den Bewegungssensationen geprägt, die der Film ermöglicht. Diese Diskussion um die mediale Aufzeichnung des bewegten Menschen, die sein Ausdrucksverhalten als „Pathosformel“ (Warburg 2000) – oder auch Pathologie (vgl. G. W. Pabst: Geheimnisse einer Seele, 1926, oder Charlie Chaplin: Modern Times, 1936) – des „sichtbaren Menschen“ (Balázs 2001 [1924]) beobachtbar macht, und um die visuelle Kultur der urbanen Oberflächenphänomene (Kracauer 1998 [1927]) und Reproduktionstechniken (Benjamin 1974 [1936]a), in der er sich bewegt, steht am Anfang der bildwissenschaftlichen Bemühungen, an die seit etwa 20 Jahren mit großer Intensität wieder angeschlossen wird.

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