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3. Der sichtbare Raum

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Bilder werden immer kulturell codiert. Zugleich reagiert unsere sinnliche Wahrnehmung jedoch auch unmittelbar auf sie: Unsere Sehnerven registrieren mit unterschiedlicher Intensität reflexhaft Farben. Unser Tastsinn löst bei der sichtbaren Materialität eines Bildes Vorstellungen von Haptik aus. Aus unserer Alltagserfahrung heraus imaginieren wir dabei, ob sich etwas weich oder rau, warm oder kalt anfühlt, ob es flauschig oder hart ist. Gerüche wie die nach frischer Farbe oder anderen Materialien tragen zur Strukturierung unserer Wahrnehmung bei.

Orientierung

Eine fundamentale, theoretisch jedoch nur schwer zu greifende Kategorie der menschlichen Welterfassung, die in Bilder überführt wird, ist der Raum. Auch er basiert auf unseren unmittelbaren Körperwahrnehmungen. Menschen reagieren auf Höhe, Weite, Leere, Eingeschlossensein etc. unmittelbar und bestimmen so die Atmosphäre einer Raumsituation. Anders als der abstrakte Raumbegriff, wie wir ihn etwa aus der Geometrie des Euklid oder der Transzendentalphilosophie von Kant kennen, steht die Raumerfahrung in direkter Relation zur leiblichen Befindlichkeit (Certeau 1988, 179 – 238), was besonders intensiv bei der Konfrontation mit plastischen Bildwerken erlebt wird (vgl. Kap. VI.1 Michelangelos David). Aber auch Inszenierungen im Städtebau und in der Architektur machen sich dies zu Nutze, wenn sie etwa Achsen und Straßenbreiten festlegen oder jenseits aller baulichen Notwendigkeiten die Höhe der Sockelzone bemessen, Treppenhäuser und Flure platzieren wie überhaupt mit sogenannten Schauseiten von Gebäuden Hierarchien bei ein und demselben Bau festlegen. Auch die Gestaltung von Innenräumen zielt auf unmittelbares Raumerleben, indem bestimmte Zonen besondere Kennzeichnungen erhalten, von denen man sich eingefangen oder ausgeschlossen fühlen kann bzw. konnte. So kennzeichnete der Baldachin in der abendländischen Kultur den Platz eines Herrschers, der anderen nicht zustand. Auch in Japan diente der Stellschirm, byôbu, der zunächst als Raumteiler genutzt worden war, vom 15. Jahrhundert an bis in die Moderne hinein der Repräsentation von sozialen Unterschieden und Macht. Noch heute kennen wir das Phänomen, dass für bestimmte Personen ein roter Teppich ausgerollt wird, es den Kopf einer Tafel gibt oder ein Teil eines Flugzeuges oder Zuges, der von den Materialien her aufwändiger gestaltet und meist auch gepflegter ist, den Reisenden mehr Sitzfreiheit bietet. Der Körper nimmt dies unmittelbar wahr, wird damit jedoch zugleich in die gesellschaftlichen Regeln eingepasst; sonst hält man den Sicherheitsabstand nicht ein und wird als potentieller Attentäter gefasst oder muss nachlösen, weil man im falschen Teil des Zuges einen Sitzplatz genommen und die sozialen Hierarchien nicht beachtet hat. Raum und die Erfahrung, wie sich der Körper in einem Raum bewegen und erleben kann, gehören zusammen. Damit ist der sichtbare Raum für die menschliche Wahrnehmung niemals bereits vorhanden, sondern muss immer mit dem Vorhandenwerden aktiv erschlossen werden (Schürmann 2008, 103 – 106). Dabei wird er zugleich zum Bild.

Raumsoziologie

Um die paradoxe Disposition gleichzeitiger Erfassung und Produktion analytisch denken zu können, hat die Raumsoziologin Martina Löw diese Orientierungsleistung in Anlehnung an Performativitätstheorien als zwei miteinander genuin verbundene Prozesse beschrieben, bei denen Menschen zum einen andere Menschen und Dinge miteinander verknüpfen und zum anderen eine Platzierung, auch die eigene, vorgenommen wird. Beides, die Platzierung, die Löw als „Spacing“ bezeichnet, wie die Verknüpfung, von ihr „Syntheseleistung“ genannt, geschieht gleichzeitig: „Tatsächlich ist das Bauen, Errichten oder Platzieren, also das Spacing, ohne Syntheseleistung, das heißt ohne die gleichzeitige Verknüpfung der umgebenden sozialen Güter und Menschen zu Räumen, nicht möglich.“ (Löw 2001, 159) Dieses Wechselverhältnis aus Handeln und Strukturbilden produziert Raumbilder, die aufzeigen, wie Raum geordnet ist. Raumbilder sind einerseits, bedingt durch die Notwendigkeit unmittelbar sinnlicher Wahrnehmung, immer im Hier und Jetzt verortet. Andererseits verdichten sie sich dadurch, dass sie auf Traditionen Bezug nehmen und ihre symbolische Bedeutung durch die Überlagerung oder Schichtung von kulturellem Wissen getragen wird. Raumwissen ist eine Kulturtechnik, die sich in der formalen Gestaltung der Raumbilder niederschlägt.

„Ohne kulturelles Wissen erschließt das Auge überhaupt keine Räumlichkeit.“ (Böhme 2007, 61) Als Johannes Kepler am Ende des 16. Jahrhunderts seine revolutionären Berechnungen zum Sonnensystem publizierte, fügte er seiner Schrift ein Planetenbild bei, das eine harmonische Konstellation der Himmelskörper als ineinander verschachtelte geometrische Figuren in symmetrischer Anordnung zeigt (vgl. Kap. VI.2 Johannes Keplers Planetenmodell). Sein Konzept vom Weltraum, so neuartig es war, nutzte also die seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. von den Pythagoräern etablierte Vorstellung des Schönen, das sich durch optische Symmetrie und akustischen Zusammenklang äußern soll, und konnte so auf mehr Verständnis für die tatsächlich Weltbild umwerfende Feststellung hoffen, wonach die Sonne und nicht die Erde im Mittelpunkt der Anordnung steht. Andererseits konnten die unter spanischer und portugiesischer Flagge segelnden Konquistadoren am Anfang des 16. Jahrhunderts ihre Entdeckungen mit den ihnen geläufigen Methoden der Kartografie nicht adäquat erfassen. Nicht nur berücksichtigten diese die Erdkrümmung nicht, die durch deren bis dahin nicht erkannte Kugelgestalt zustande kommt, so dass zunächst Küstenlinien mit Ankerbuchten falsch verzeichnet wurden und zu Fehlern bei der Navigation führten. Auch als mit den neuen Methoden der Kartografie dieser Missstand im 17. Jahrhundert behoben war, half die korrekte Lokalisierung eines Ortes nicht, die unbekannten Räume zu erschließen (Siegert 2003). Für die ihnen weitgehend unbekannten Landschaften fehlte den Europäern ein System von Relationen. Das Orientierungswissen und die Raumbilder der von ihnen kolonialisierten Völker waren für sie zugleich so fremd, dass sie sie nicht in die europäische Wissenskultur übertragen konnten. Die Kartierung Zentralamerikas durch Alexander von Humboldt am Anfang des 19. Jahrhunderts, die zur ersten Landkarte Mexikos nach europäischem Muster führte, beschreibt sehr gut, dass Raumbilder immer auch soziale Setzungen sind.

Zentralperspektive

Während planimetrisch konzipierte Landkarten (Stockhammer 2005; vgl. Abb. 1) und Modelle des Weltraums (vgl. Abb. 13) bildliche Übersetzungen sind, deren Ferne zum sichtbaren Alltag offensichtlich ist, sind zentralperspektivisch organisierte Raumdarstellungen, wie wir sie aus der europäischen Wand- und Staffeleimalerei, der Fotografie und nicht zuletzt der Gestaltung von Monitoroberflächen von Computern kennen, trügerisch. Indem sie so konstruiert sind, dass wir wie beim alltäglichen Sehvorgang unserer Umwelt sofort einen räumlichen Eindruck erfassen, erscheinen sie uns als lebensecht und verschleiern ihre tatsächliche mathematische Grundlage. Die Wahrnehmung dieser Bilder erfolgt wie die Orientierung in der lebensweltlichen Umgebung: Mit einem Blick, auch wenn uns die einzelnen Zeichen nicht immer geläufig sein mögen. Das Bild kann so, trotz seiner Künstlichkeit, als Ausschnitt aus der Wirklichkeit angesehen werden. Diese Bildauffassung etablierte sich seit dem 13. Jahrhundert in der polychromen, d. h. farbigen Bildhauerei und langsam auch in der Malerei zunächst in Italien, später auch in anderen Regionen der von der Papstkirche geprägten Kultur, nachdem bereits zuvor in der Ostkirche die affektive Wirkung von Ikonen rhetorisch neu akzentuiert worden war (Belting 1990). Wie immer, wenn es um Raumkonzepte geht, spielen mehrere grundlegende Faktoren für die Ausbildung dieser Bildform eine Rolle: Neben der Optikgeschichte, die in dieser Zeit antike und arabische Traktate mit scholastischem Wissen zusammenführt (Lindberg 1987, 166 – 261), entwickelten sich mit den neuen Bettelorden neue Praktiken der Glaubenserfahrung, die auf die affektive Wirkung bei den Gläubigen setzten (Krüger 1992). Hatten die Kirchenväter im ersten Jahrtausend n. Chr. noch die Gleichsetzung von Schrift und Bild und das Lesen von Bildern wie eine Schrift propagiert, so führte die Rezeption der aristotelischen Bildauffassung durch Bonaventura und Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert nun dazu, dem Bild eine ganz eigene Wirkung zuzusprechen (Büttner 1998). Durch die konstruierte Perspektive konnte tatsächlich eine Unmittelbarkeit erreicht werden, die im Laufe der darauf folgenden Jahrhunderte als Blickerfahrung so dominant wurde, dass sie trotz ihrer Differenz zur Physiologie des Sehens bis heute als ,natürlich‘ gilt.

Tatsächlich entspricht das solcherart vermittelte Raumbild jedoch nur zu einem kleinen Teil dem Raumeindruck in der Wirklichkeit: Die Zentralperspektive operiert zwangsläufig mit einem feststehenden Betrachterstandpunkt und damit einem still gestellten Körper, während der Mensch real sich den Raum durch Bewegung erschließt. Sie definiert die Dinge im Bild in einem mathematisch berechenbaren Verhältnis zueinander, während die Konstituierung des sichtbaren Raumes tatsächlich von der Raumwahrnehmung des Menschen ausgeht, der die Dinge in eine Relation zu seiner Körpererfahrung bringt. Und sie reduziert Raumwahrnehmung auf die Optik, während in der realen Lebenswelt alle Sinne aktiv zu unserer körperlichen Orientierungsleistung beitragen (vgl. Kap. VI.3 Geruch: Die Blumen der Königin). Eine camera silens, wie etwa in den Installationen von James Turrell, ist als Kunstform nur deshalb möglich, weil „Spacing“ und „Syntheseleistung“ zugleich die lebensweltliche Raumerfahrung ergänzen. Im Leben führt ein derart ruhiggestellter Raum, wie etwa die Isolationsfolter zeigt, zu schweren psychischen Problemen (vgl. Böhme 2007, Anm. 43). Gerade diese Differenz, die in den Bildkulturen häufig ideologisch verschleiert wird, wie ihre Dominanz, die die konstruierte Perspektive daher für unser Bildbewusstsein im Laufe der Jahrhunderte erreichen konnte, macht sie für eine kritische Bildwissenschaft zum prominenten Forschungsgegenstand.

Einführung in die Bildwissenschaft

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