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III. Stufen der Moderne

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Damit sind wir auch bei der Ausgangsfrage dieser Sammlung von Aufsätzen aus den letzten zehn Jahren angelangt. Sie alle umkreisen eine Problemstellung, die dem Autor seit dem Schlusssatz seiner Dissertation aus dem Jahre 1980 nachhängt: Was kann es heißen, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht-machbaren Geschichte nicht entrinnt?19 Die Frage betrifft die Gegenwart; das Material, an der sie bearbeitet wird, sind aber geschichts-philosophische Entwürfe aus der Zeit zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert. In dem Versuch zu einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Epochengliederung der europäischen Geschichte zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert würde diese Zeitspanne zwei Perioden umfassen. Zur Erläuterung: Ich unterscheide eine „Stabilisierungsmoderne“ mit ihrem Zentrum etwa zwischen 1640 und 1720 von einer „evolutiven Moderne“, die mit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einsetzt und die etwa bis 1880 reicht. Gemeint ist die Zeit der ökonomischen und politischen Doppelrevolution, der institutionellen und ökonomischen Dynamisierung der Geschichte. Diese einmal begonnene Stufe des Kapitalismus hat bis heute nicht aufgehört zu wirken; insofern ist sie nicht abgeschlossen und niemals abschließbar. Sie wird seit dem späten 19. Jahrhundert jedoch überlagert von einer zivilisationskritischen Einstellung, für die Nietzsche einer der entscheidenden Stichwortgeber war. Ich nenne sie die „heroische Moderne“. Als ihren Grundzug betrachte ich die Einsicht, dass der geschichtsphilosophische Synergismus eines Hegel nicht mehr gültig ist. Die Geschichte hilft nicht mehr mit, ist keine „List der Vernunft“ hinter unserem Rücken; alles was getan werden kann, muss gegen sie durchgesetzt werden. Dafür braucht man keine Menschen, sondern über-menschliche Kräfte. Das war die Zeit der „Heroischen Moderne“, in der gerne vom Neuen Menschen und seiner historischen Sendung fabuliert wurde.20 Die heroische Moderne ist ungleichzeitig zu Ende gegangen; im Westen schwand sie seit 1945 dahin. Im Herrschaftsbereich der UdSSR hielt sie sich noch bis 1989/90. Dort durften die Sozialisten noch länger heroisch bleiben.21

Ich spreche nicht von einer Moderne und auch nicht, wie Ulrich Beck, von einer ersten und zweiten Moderne, sondern spalte den Begriff in historische Schichten oder Stufen auf. Stellt man die Frage so, dann kommt es darauf an herauszuarbeiten, was die Menschen in diesen verschiedenen Formen der Geschichte als ihre „Grundaufgabe“22 betrachtet haben, wie sie es mit der Geschichte aufnehmen wollten. Diese Aufgaben verändern sich mit der Formveränderung der Geschichte. Was die „Stabilisierungsmoderne“ betrifft, so hat Theodore K. Rabb sie auf den prägnanten Punkt gebracht: Es ging in der Mitte des 17. Jahrhunderts um die Stabilisierung einer krisenhaften Zeit auf allen Gebieten.23 Daran zeigt sich übrigens, dass diese Stufen der Moderne sich in ihrer Aufgabenstellung durchdringen. Die Kontrolle über Krieg und Krise ist niemals endgültig; es wandelt sich nur die Fragestellung, wenn die Form der Geschichte sich ändert. Die Idee einer Stabilisierung ist in der „evolutiven Moderne“ nicht aufgegeben, sie ist lediglich an das Ende des historischen Prozesses verlegt. Jetzt stellt sich die Alternative so: entweder mit dem dynamischen Fortschritt liberal mitzugehen und ihn selbst als die Lösung aller Probleme zu betrachten – oder aber dem Kapitalismus eine neue Gesellschaftsform entgegenzusetzen. Für Marx als den Schüler Hegels sollte aus dem Prozess selbst die Revolution entspringen: Der Übergang aus einer entfremdeten „naturwüchsigen“ Geschichte in eine Assoziation von Produzenten, die dann ihre eigene historische Entfaltung unter Kontrolle gebracht haben würden.24 Aber selbst dafür musste der historische Prozess in Form des tendenziellen Falls der Profitrate die krisenhafte Vorbedingung liefern. Auch bei Marx stand die Geschichte insofern noch unter der Herrschaft der „allpfiffigen Vorsehung“, so sehr es ihn auch belustigte, wenn andere, wie etwa der Utilitarist Jeremy Bentham sich dieser Denkfigur bedienten.25

Die „heroische Moderne“ teilt die Voraussetzungen dieses Denkens nicht mehr. „Zeichen und Wunder werden nicht geglaubt; nur eine ‚Vorsehung‘ braucht so etwas“, notiert sich Nietzsche im Sommer 1875. Und: „Was soll nun aus allen diesen verschleierten und blinden Existenzen Vernünftiges geschehn, wenn sie mit und gegeneinander chaotisch wirken.“26 Ob unmittelbar aus dem Fortschritts-Prozess oder auf dem Umweg über seine revolutionäre Negation – weder auf dem einen, noch auf dem anderen Wege ist eine Vernunft in der Geschichte zu erwarten.

Nietzsche erwägt den lähmendsten Gedanken – den der „Dauer mit einem ‚Umsonst‘, ohne Ziel und Zweck.“ Zu dieser Wiederkehr des Immergleichen will er herzhaft „Ja“ sagen. „Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß?“27 Seit dem Beginn einer effektiven europäischen Akkulturationsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert musste immer der Mensch mit seinen Affekten vor der Geschichte sich verantworten, ob er sich hinreichend angepasst habe, ob er friedensfähig, ob er zukunftsfähig sei. Nun wird umgekehrt die Geschichte vor das Tribunal des „Lebens“ gestellt und angeklagt. Die kulturellen Anforderungen haben schon zu viel „Lebendiges“ verschlungen – und wofür? Für einen Prozess, dem die Zielsetzung abhanden gekommen ist.28 Wenn die moralisch gebotene Mitarbeit an einer besseren Zukunft nicht mehr wirklich geglaubt wird, erweist Geschichte sich als feindliche Macht. Und es ändert sich das Verhältnis der Menschen zu ihr. Natürlich darf man nicht sagen „die Menschen“. Die Einstellung zur Geschichte ist nach Schichten, oder wie es heute heißt: Nach Lagen oder Milieus aufgespalten. Unter diesem Blickwinkel finden sich die Antipoden Liberalismus und Sozialismus plötzlich im gleichen Boot wieder: Beide glaubten auf ihre Weise an die Zukunft, und auf diese bessere Zukunft hin war ihr Handeln ausgerichtet. Was aber geschieht, wenn ein „Milieu“ die kulturelle Hegemonie übernimmt, für das Geschichte in der Tat als ein durch und durch verpfuschter Prozess gilt, sozusagen als die Schöpfung eines bösartigen „Demiurgen“? So dachte auch noch Marx; doch der „Heiland Proletariat“ verspielte seine welthistorische Chance, ironischerweise durch die Form seiner eigenen „Partei“. Gnostische Denkmotive brechen in den 20er Jahren erneut auf29 – eine radikale Ablehnung der Welt wie sie ist – getragen von der Erwartung des „Ganz anderen“?

Zwischen diesen beiden Grundhaltungen, der teleologischen Geschichtsphilosophie der „evolutiven Moderne“ und der Kritik der „heroischen Moderne“ an ihr, sind die meisten der hier versammelten Aufsätze angesiedelt. Da ein Sammelband kein neu geschriebenes Buch ist, vermag keine Einführung ihn zu einem solchen umzudichten.30 Der Autor könnte nur einen Kommentar zu seinen wiederabgedruckten Texten schreiben. Ein Kommentar setzt allerdings eine gewisse Distanzierung voraus. Da die nicht immer gegeben ist, bleibt nichts anderes übrig, als die Zusammenstellung der Aufsätze zu thematischen Gruppen zu erläutern. Sie sind unter drei Rubriken zusammengefasst.

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