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I. Erläuterung des Umschlagbildes

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Umständlich erklärt Giambattista Vico seinen Lesern das Frontispiz seines Werkes von der „Neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker“. Die Metaphysik in ekstatischer Haltung blickt in Gottes schauendes Auge der Vorsehung. Der Lichtstrahl von dessen Vorsehung bricht sich am Brustpanzer der Metaphysik, und ein Strahl dieses Wissens fällt auf die Statue Homers. Und indem Vico die poetische Weisheit Homers in seine neue Wissenschaft umformt, entsteht eine „rationale politische Theorie der göttlichen Vorsehung.“ Die Ausdeutung dieser Allegorie mitsamt allen emblematischen Details umfasst 42 Paragraphen auf 36 Druckseiten.1 Das Bild auf dem Titelblatt dieser Aufsatzsammlung ist einfacher zu erklären. Es handelt sich um einen Bühnenbildentwurf von Giorgio de Chirico zu einer Aufführung der Oper „Mefistofele“ des Arrigo Boito in der Mailänder Scala 1951/52.2 Boitos Adaption des Goetheschen Fausts fiel im Oktober 1875 in Bologna bei der Uraufführung durch, geriet in den Schatten von Gounods Margarete und wird relativ selten gespielt. De Chiricos Blatt bezieht sich auf den Prolog.

„Die Sonne tönt nach alter Weise

In Brudersphären Wettgesang,

Und ihre vorgeschriebne Reise

Vollendet sie mit Donnergang.“

„Der Anblick gibt den Engeln Stärke,

Da keiner dich ergründen mag,

Und alle deine hohen Werke

Sind herrlich wie am ersten Tag.“

„AVE, Signore de gli angeli e dei santi e dei volanti cherubini“ beginnt es bei Boito.3 Doch die hohen Werke sind bei de Chirico etwas durcheinander geraten, Sonne, Saturn, stürzende Sterne, Kometen. Der extraterrestrische Beobachter ist ebenso klein wie ratlos angesichts dieser chaotischen Himmelsmechanik. Ist denn nicht Gott ihr Schöpfer und Erhalter? Und vor allem: Galten nicht die supralunarischen Bewegungen am Himmel als ewig und vollkommen – im Gegensatz zur sublunarischen Welt des Menschen und seiner Geschichte?

Kant in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“ hatte diese Ordnung der Natur noch der Unordnung der Geschichte entgegengesetzt: „Denn was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesem den Zweck enthält, – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nöthigt unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden und, indem wir verzweifeln, jemals darin eine vollendete und vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringen, sie nur in einer anderen Welt zu hoffen?“4 Kants Ausflucht war es, der Physikotheologie – denn auf die spielt er an – eine Geschichtsphilosophie entgegenzusetzen, die das Ganze des menschlichen Geschlechts, obwohl es ohne „verabredeten Plan im Ganzen“5 zustande kommt, dennoch nach einer gewissen Ordnung vorrücken lässt.

Bereits Giambattista Vico hinterlässt seinen Lesern ein vergleichbares Problem. Die Philosophen, so sagt er, hätten sich bemüht, Wissen zu erlangen von der Welt der Natur. Doch die Natur sei Gottes Werk und daher schwer zu erforschen. Dagegen könne es nicht in Zweifel gezogen werden, dass diese „politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können (denn sie müssen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden.“6 Wir verstehen die Geschichte, weil wir sie selbst gemacht haben. Was auf den ersten Blick so einleuchtend klingt, ist die Lehre von der genetischen Definition, die auch Spinoza und Hobbes verwendet haben. Wir begreifen nur dasjenige, was unser Verstand selbst erschaffen hat.7 Vico hätte dann dieses Prinzip lediglich auf die Geschichte übertragen. Aber gerade da liegt das Problem. Gadamer hat es in Hinblick auf Dilthey und Vico so formuliert: Wenn wir davon ausgehen, dass wir nur geschichtlich erkennen, weil wir geschichtlich sind – haben wir uns damit wirklich eine erkenntnistheoretische Erleichterung verschafft? „Ist Vicos oft genannte Formel denn überhaupt richtig? Überträgt sie nicht eine Erfahrung des menschlichen Kunstgeistes auf die geschichtliche Welt, in der man von ‚Machen‘, d.h. von Planen und Ausführen angesichts des Laufs der Dinge überhaupt nicht reden kann? Wo soll hier die erkenntnistheoretische Erleichterung herkommen? Ist es nicht in Wahrheit eine Erschwerung?“8 Was Gadamer an dieser Stelle unterschlägt: Vico hat diese Erschwerung selbst bemerkt. Die „Welt der Völker“ ist von den Menschen gemacht, kein Zweifel. Aber die Natur der Menschen ist verderbt; sie sind von der Selbstsucht getrieben und verfolgen nur ihren eigenen Vorteil. Mit dem „Machen“ des Ganzen von Geschichte ist es menschlicherseits schlecht bestellt. Nur die göttliche Vorsehung kann, indem sie die Eigensucht der Menschen für ihre Zwecke nutzt, eine gerechte Gesellschaft hervorbringen. „Daher muß diese Wissenschaft sozusagen ein Beweis der Vorsehung als geschichtlicher Tatsache sein, denn sie muß eine Geschichte der Ordnungen sein, die jene, ohne menschliche Absicht oder Vorkehrung, ja häufiger gegen deren eigenen Pläne, dieser großen Gemeinde des Menschengeschlechts gegeben hat.“9

Vicos Lösung liest sich wie eine Vorwegnahme des Adam Smith und wiederholt sich in den Grundlagen der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis zu Hegel und Marx. Das Grundmotiv dieses Nachdenkens über Geschichte war es, dass dem Nicht-Machbaren eine gnädige „List der Vernunft“ zur Hilfe kommt, ein Prinzip, das das nicht-intendierte Resultat menschlichen Handelns zum eigenen bewussten Zweck einer fremden Instanz hinter unserem Rücken umbiegt.10 Paul Ricœur urteilt darüber, der Ausdruck „List der Vernunft“ mache uns nicht einmal mehr neugierig, „er stößt uns eher ab, wie der mißratene Trick eines auftrumpfenden Zauberkünstlers.“11 Offensichtlich hatte die Geschichtsphilosophie eine richtige Diagnose der historischen Verlaufsform und ihrer Zeitstruktur seit etwa 1780 gegeben; sie ist die erste Wissenschaftsform, die auf dieses Dilemma reagiert. Zugleich hatte sie sich aber an einer Therapie versucht, die nicht zu halten war.

Es gibt keine Vernunft in der Geschichte. Das Ziel und das innere Zentrum der Geschichte sind leer.

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