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Jannis Wagner Vorbemerkungen zur Neuausgabe von Out of Control
Оглавление„Es gibt keine Vernunft in der Geschichte. Das Ziel und das innere Zentrum der Geschichte sind leer.“ Kittsteiner
Out of Control – der einprägsame englische Titel irritiert zunächst bei einem Band mit Aufsätzen, die von einem sehr deutschen Traditionsbestand geschichtsphilosophischen Denkens ausgehen. Doch was ist außer Kontrolle? Der Untertitel verweist auf die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses. Geht man Kittsteiners Schriften durch, taucht die titelgebende Wendung bereits 1982 in einer in englischer Sprache publizierten Rezension auf. Nicht der Mensch sei mehr das Subjekt der Geschichte, schreibt Kittsteiner hier, „today history is the active subject of history – and man is submitted to a strange process, which is out of control. Its (sic!) just the process of capitalist accumulation which Marx declared to be the ‚self-moving substance‘ of history.“1 Gerahmt von einigen der zentralen Themen Kittsteiners, tritt diese Formulierung hier erstmals auf. Der Rückgriff Kittsteiners in die eigene, scheinbar ferne Textgeschichte, verweist auf eine Charakteristik seines Werkes: die fortgesetzte Auseinandersetzung mit einem festen Bestand von Grundfragen. Der erstmals 2004 erschienene Sammelband Out of Control hat insofern eine jahrzehntelange Vorgeschichte. In der Einführung ist ausgesprochen, dass dieser Titel zudem auf einen anderen reagiert: Saskia Sassens Losing Control? Sovereignty in an Age of Globalization von 1996, das vom Souveränitäts- oder eben Kontrollverlust der Nationalstaaten in der Globalisierung handelt. Kittsteiner fragt hier nach: „Losing control? Welche Kontrolle? Hatte sie jemals bestanden?“ Seine Antwort ist der Titel dieses Buches: „Die Geschichte im Zeitalter des Kapitalismus war nie unter Kontrolle der Menschen, darum ist ein Verlust nicht zu beklagen. Aus der Frage ‚Losing Control?‘ wird dann die konstatierende Aussage ‚Out of Control‘.“2
Dies ist, über Jahrzehnte wiederholt, ein Kernthema in Kittsteiners Werk und kennzeichnet seinen intellektuellen Entwicklungsweg. Denn bedenkt man, wo dieser seinen Ausgang nahm, war eine solche Überzeugung keineswegs selbstverständlich. Vielleicht aber kann man sie als naheliegend bezeichnen: Kittsteiner, 1942 geboren, begann sein Studium 1962 in Tübingen bei Ernst Bloch, wechselte bald nach West-Berlin und wuchs so in die Studentenbewegung hinein. Wie er in autobiographischen Texten wiederholt betonte,3 kannte er den Impuls, Geschichte ‚machen‘ zu wollen oder vermeintlich gar zu müssen, aus eigener Erfahrung. Die Negation dieser Möglichkeit war also auch eine Revision vergangener eigener Überzeugungen und ihre Dringlichkeit für Kittsteiner erschließt sich daraus, dass er sie ins Zentrum seiner Arbeit rückte.
Der hier wieder vorgelegte Band gehört ins Vor- und Umfeld eines Forschungsvorhabens, das Kittsteiner in der eingangs zitierten Rezension von 1982 bereits implizit benannt und in Ansätzen skizziert hatte: Die Stufen der Moderne. In ihm verfolgte Kittsteiner die Frage weiter, in die er seine bei dem stets an Geschichtsphilosophien interessierten Jacob Taubes verfasste Dissertation Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens hatte münden lassen und auf die er auch in der Einführung zu Out of Control wieder verwies: „Schlägt man sich die Vorstellung aus dem Kopf, ihres [der Geschichte, JW] inhaltslosen Prozesses irgendwann Herr werden zu können, so kommt es auch nicht mehr auf die Aufgabenstellung an, sie durch ‚gesellschaftliche Praxis‘ auf einen imaginären Kontrollzustand zu bringen, sondern man muß nach neuen Bestimmungen suchen, was es heißen kann, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht nicht-machbaren Geschichte nicht entrinnt.“4
Wer allerdings meint, der Geschichte eine andere Richtung oder Form aufzwingen zu müssen, wird mit der Frage konfrontiert, wie weit er zur Erreichung seiner Ziele zu gehen bereit ist. Diese Problematik führt von der Geschichtsphilosophie zur Geschichte des Gewissens. Kittsteiners kulturgeschichtliche Habilitationsschrift zur Formung des „modernen Gewissens“ im Spannungsfeld von Elitendiskursen und Alltagsrealitäten in Deutschland zwischen Reformation und der ‚langen‘ Aufklärung – bzw. in der „Sattelzeit“, wie Reinhard Koselleck, der die Arbeit betreute, die Übergangszeit zwischen Alter Welt und Moderne, zwischen magischem und rationalem Weltbild bezeichnet hatte – war ein erster Versuch diese Thematik zu erfassen.5 Unmittelbar nach Fertigstellung 1988 schrieb Kittsteiner an Koselleck über seine kommenden Vorhaben: „Ich habe hier einen Plan entworfen, wie man die menschlichen Reaktionsweisen auf übermächtige Geschichtsstrukturen untersuchen könnte […]. Also im Grunde mein Dauerthema, angesiedelt jetzt jenseits der Sattelzeit, also im 19. und 20. Jahrhundert.“6 Bei diesem Vorhaben handelte es sich um das vorläufige Forschungsprogramm der Stufen der Moderne, das Kittsteiner nach mehreren Ansätzen schließlich als mehrbändige Deutsche Geschichte zu schreiben begann. Dieses Großwerk wäre eine Fortsetzung seiner Geschichte der Gewissensentwicklung in Deutschland bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts geworden und eine Untersuchung der Verbindungen zwischen Geschichtsauffassungen und Gewissensformationen. Kittsteiner schrieb über seine Auseinandersetzung mit Geschichtsphilosophie und Gewissensgeschichte: „Wenn ich überlege, was ich in den letzten Jahrzehnten auf den Gebieten der Geschichte und der Philosophie getrieben habe, dann waren es eigentlich zwei Gegenstandsbereiche: Das ganz Kleine und das ganz Große. Ich habe mich befaßt mit dem innersten Kern des Ichs, und den Philosophien über den Verlauf der Geschichte im Ganzen.“7
In Out of Control versammelte Kittsteiner 2004 zehn seit 1996 geschriebene Aufsätze, die er mit einer den Gesamtzusammenhang dieser Texte umreißenden Einführung und einem skeptischen Blick auf die ungebrochene Euphorie des ‚Geschichte machens‘ in neuerer postmoderner Theorie, also einem Ausblick in die Gegenwart, einfasste.
Die zwanzig Seiten, die hier unter dem schlichten Titel Zur Einführung folgen, sind ein prägnanter Überblick über die Fragen und Themenkomplexe, die Kittsteiner zu Beginn der Ausarbeitung seiner Fragment gebliebenen Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne bewegten. Die versammelten Texte werden hier über ihre Bedeutung im Rahmen dieses Vorhabens verortet. Im ersten Abschnitt Geschichtsphilosophie sind drei Texte versammelt, welche die Entdeckung der „Unverfügbarkeit der Geschichte“ und ihre Überlagerungen behandeln. Nach dem Verblassen der diese ursprüngliche Einsicht in die Unverfügbarkeit überdeckenden teleologischen Konstruktionen machte Kittsteiner die Herausbildung einer „heroischen Moderne“ aus, in der ‚die Geschichte‘ gewaltsam bezwungen werden sollte. In deren Ideenwelt werden in den Aufsätzen im Abschnitt Geschichtsdenken nach dem Ende der teleologischen Sekurität Vorstöße unternommen. In Geschichte und Gedächtniskultur schließlich werden die gewissensgeschichtlichen Folgen und Herausforderungen dieser Stufe der Moderne für Erinnerung und Historik thematisiert. Als sicher kann gelten, dass Out of Control und die beiden weiteren von Kittsteiner zusammengestellten Sammelbände das Material und das theoretische Kondensat des Konzepts der Stufen der Moderne enthalten.8
Die Zeichnung Giorgio de Chiricos auf dem Buchumschlag zeigt ein chaotisches Firmament, ein wahres Weltentheater, das dem Betrachter – mit wenig hilfreichen Antennen auf dem Kopf steht er am Bildrand – zwar viel Geschehen bietet, doch wenig Sinn. Sterne stürzen durcheinander, Saturnringe und Sonnen kreisen. Das Buch beginnt, wo das Denken des Betrachters einsetzt. Seine Setzungen, seine Suche nach einem Sinn dessen, was sich vor seinen Augen entfaltet, sind Thema der hier folgenden Texte.
Diese Vorstellungen von der Geschichte wirken auf das menschliche Verhalten zurück – und ‚formen‘ so selbst das Geschehen mit. Allerdings geschieht dies meist in anderer Weise, als von den Akteuren intendiert: „Geschichte ist eine Bewegung hinter dem Rücken der agierenden Personen, die genau genommen nicht wissen, was sie tun. Da ich selbst mich aber in der gleichen Situation befinde, bin ich weit entfernt davon, mich über meine Protagonisten zu erheben, ganz im Gegenteil, ich kann sie in einer um die Erfahrung der Unverfügbarkeit erweiterten Hermeneutik verstehen.“9 Diese Überzeugung verweist auf Kittsteiners Prägung durch die Studentenbewegung der 60er Jahre, ihre Nachgeschichte im Folgejahrzehnt und die drängenden Fragen, Themen und Lektüren dieses kulturellen und gesellschaftlichen Verwandlungsvorgangs. Für Kittsteiner „waren diese Jahre der großen Demonstrationen biographisch ganz einzigartig; es war eine Zeit monatelanger Hochstimmung. Unterlegt war das Ganze von der Musik der Beatles, der Rolling Stones, von Jimi Hendrix – und Gustav Mahler. Nur leider waren die politischen Ziele nicht durchsetzbar.“10 Auf die euphorischen Aufbrüche folgte der Kollaps des optimistischen Elans. Die Erkenntnis, dass die Revolution nicht hinter der nächsten Straßenecke warten und das gute Ende der Geschichte vorerst ausbleiben würde, wirkte sich in vielfältiger Weise auf die Protagonisten dieser Bewegung aus, die nun in Szenen zerfiel. Bei Kittsteiner führte sie zu vertiefter Lektüre – und der Entdeckung des ökonomisch-analytischen Marx hinter dem revolutionären der zunächst bevorzugten Frühschriften. Es war die Entdeckung des „Marktes“, der sich von den eigenen Weltveränderungsphantasien als gänzlich unberührt erwiesen hatte – und sogar die neue counter culture als lifestyle in neue Warengenerationen übersetzte. Dieser Markt folgte ganz offenbar seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten, ohne vom Wollen und (bewussten) Tun der Menschen, seien es Einzelne oder Massen, zielgerichtet beeinflusst zu werden. Doch es geschah noch mehr. Hinter dem Kanon der 60er Jahre, hinter Marx, Benjamin und Freud, tat sich ein weiter Horizont auf und ein verzweigtes Pensum, das zu bewältigen war: „Hinter Marx lauerte Hegel – und hinter Freud (was wir aber erst später merkten) zumindest zum Teil Schopenhauer und Nietzsche.“11 Kittsteiner gelangte von der identifikatorischen zur kritischen Lektüre und zur gedanklichen Verbindung von Geschichtsverlauf, Geschichtsvorstellungen und den historischanthropologisch deutbaren menschlichen Reaktionen auf diese.
In dieser intellektuellen Sozialisation liegt auch die eigentümliche Doppelstruktur von Kittsteiners Denken begründet. Denn während Kittsteiner Geschichtsvorstellungen analysierte, nahm er selbst an, dass es einen bestimmenden und dynamischen, wenn auch zielloschaotischen Motor des Geschehens gebe, der in und hinter dem verworrenen Treiben der menschlichen Akteure wirke. Hierin folgte er selbst einem Bild von der Geschichte. Es war ein von seinen Marxlektüren geformtes Geschichtsdenken. „Die Form der Geschichte“: für Kittsteiner ist es ihre – oft schwer erträgliche – Ziel- und Sinnlosigkeit, ihre Unverfügbarkeit. Die spezifische Form der Geschichte ist es, dass sie sich dem menschlichen Formwillen entzieht. Der Mensch, der die Geschichte ‚machen‘ und zu seiner Geschichte machen will, ist zum Scheitern verurteilt. Zwar ist das menschliche Aufbegehren gegen diese Negation der freien Bestimmung des Menschen in der Geschichte immer wieder wirksam oder formgebend – aber eben nicht so, wie es die Akteure intendieren.
Kittsteiner proklamierte die „Unhintergehbarkeit der geschichtsphilosophischen Erfahrung“.12 Die ursprüngliche, aber unmittelbar überspielte und später vergessene Erkenntnis der klassischen geschichtsphilosophischen Entwürfe sei die Einsicht in die Unverfügbarkeit der Geschichte.13 Allerdings hätten die Geschichtsphilosophen stets höhere Prinzipien konstruiert, Listen der Vernunft, unsichtbare Hände, Weltgeister oder fallende Profitraten, die auf wunderbare Weise den Weltenlauf zu einem guten Ende bringen sollten: „Den ungeschützten Anblick der Geschichte kann man nicht ertragen.“14 Die an sich berechtigte Kritik an der Geschichtsphilosophie habe sich an diesen teleologischen Konstruktionen abgearbeitet, dabei aber die Unverfügbarkeit der Geschichte und das, was das historische Geschehen in Bewegung hält, aus den Augen verloren. Dieser „machthabende Geschichtsprozess spukt seither in unbegriffenen Hintergrundmetaphern durch die Schriften der Historiker und Philosophen.“15 Wer Geschichtsphilosophien als belanglos abtut, läuft Gefahr, ihnen selbst wieder aufzusitzen. Die uneingestandenen Teleologien so vieler Geschichtsdarstellungen zeigen es. Eine Geschichtsschreibung, wie sie Kittsteiner konzipierte, stellte hingegen die Geschichtsvorstellungen der Menschen und deren Auswirkungen selbst in den Fokus der Untersuchung. Von einem Fallstrick wird das Geschichtsdenken zum Gegenstand einer „geschichtsphilosophisch angeleiteten Kulturgeschichte“.16
Die Wissenschaft von der Geschichte und die Philosophien ihres Verlaufs waren für Kittsteiner nicht mehr zu trennen. Diese Haltung gegenüber ‚der Geschichte‘ war geprägt von der eigenen biographischen Erfahrung: „Clio dichtet nicht – sie bezieht aber den Zusammenhang der Geschichte aus geschichts-philosophischen Entwürfen. Die verändern sich mit den historischen Erfahrungen der jeweiligen Epochen; sie haben ihre Zeit, sie versinken – und tauchen wieder auf. Man muß den Aufstieg und Niedergang mehrerer solcher Denkmodelle miterlebt haben, um zu einer gewissen Skepsis zu kommen. Resultat dieser Skepsis ist es, das, was unvereinbar miteinander scheint, nun nebeneinander gelten zu lassen.“17 Das ist nicht mit gleichgültigem Relativismus zu verwechseln. Denn es war die „Frage nach dem Verhältnis von Gewissen und Geschichte“, die ihn antrieb. „Es ist das Bewußtsein, mit allem Denken und Handeln in einen historischen Prozeß verstrickt zu sein, dessen Vergangenheit, Gegenwart und möglichen Fortgang man nicht ohne Gewissensbedenken betrachten kann.“18
Kittsteiner betonte wiederholt dieses Bewusstsein, als Mensch in die historische Erfahrung selbst eingebunden zu sein. Das Bild vom überhistorischen Geschichtsphilosophen war ihm, wie das des unbeteiligt-objektiven Wissenschaftlers, eine Schimäre. Zeit und Ort bestimmen die Erfahrung und das Denken aller Menschen – ob sie über Geschichte nachdenken, oder nicht. „Es entsteht beim Schreiben der Geschichte eine geschichtsphilosophisch gebrochene, dialektische Hermeneutik. Ich verstehe nicht nur die Intentionen der Akteure, ich verstehe auch deren Mißlingen; ich verstehe nicht nur den Ausdruck der Formgebenden, ich ‚verstehe‘ auch den Nexus der Unverfügbarkeit. Historische Einsicht mündet in ein theoretisch distanziertes Mitleiden.“19 Vor diesem Hintergrund leitete Kittsteiner – am nicht beliebigen Beispiel seines Gewissens-Buches – seine eigene Haltung gegenüber dem Geschehen und den daraus resultierenden Stil der Darstellung ab: „Eine ‚Geschichte des Gewissens‘ ist dann der Nachvollzug des Scheiterns von Gewissens-Entwürfen bei gleichzeitiger Umformulierung von dessen Normen im Übergang von einem theologischen zu einem philosophischen Diskurs. Wer das im Längsschnitt einmal nachvollzogen hat, kann einer gewissen Ironie als Stilmittel nicht entraten.“20
Auch ging es Kittsteiner nicht darum, welchen Stellenwert die von ihm behandelten ‚Geschichtsdenker‘ im kulturellen Gedächtnis, in der Hierarchie der Erinnerung einnehmen. Er befasste sich mit namhaften Philosophen von Kant über Hegel und Marx bis Heidegger, aber ebenso mit vergessenen, verschütteten oder gar verrufenen Autoren. So nehmen Karl Heussi und Oswald Spengler in seinem Werk tragende Rollen ein. Daneben stehen in Kittsteiners Texten immer auch die Zeugnisse derjenigen, die keinen großen Namen hinterlassen haben, die für niemanden schrieben als für sich selbst, oder deren Äußerungen ohne ihr Wissen aufgezeichnet und überliefert wurden: Das Tagebuch des Söldners Peter Hagedorn aus dem Dreißigjährigen Krieg in Die Stabilisierungsmoderne, dem einzig veröffentlichten Band der Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne, sei als Beispiel erwähnt. „Geschichts-Philosophie im weitesten Sinne ist ein Nachdenken über die Form der Geschichte.“21 Verbindungen zwischen solchen Quellen und über disziplinäre Grenzen hinweg herzustellen, ist selten. Kittsteiner verband den philosophisch geschulten Historiker mit dem Mentalitätengeschichtler.
Das Werk Kittsteiners wurde – auch dadurch, dass sein synthetisches Hauptwerk, die Zusammenführung der zahlreichen thematischen Pfade seines Denkweges, als das die Stufen der Moderne angelegt waren, Fragment geblieben ist – noch wenig wahrgenommen. Dies gibt seinen Aufsatzsammlungen eine besondere Bedeutung. Er betrachtete sie selbst als Versuchsanordnungen und Steinbruch, ja als Exposés für das Großprojekt, an dem er arbeitete. Daher hat sich in diesen drei Bänden die Essenz dessen, worum es in den Stufen der Moderne gehen sollte, erhalten.
Die Neuausgabe des umfangreichsten dieser drei Bände erfolgt zu einer Zeit, in der das Gefühl des Kontrollverlustes zum beherrschenden gesellschaftlichen Thema geworden zu sein scheint. Die Unverfügbarkeit der Geschichte scheint eigentlich kein theoretisches Konzept mehr zu sein, das irgendwie erklärungsbedürftig wäre. Oder ist es gerade in Zeiten der Verunsicherung notwendig, an vergessene Einsichten zu erinnern? Die Hybris der angeblich posthistorischen Jahre um die Jahrtausendwende ist ebenso verpufft wie der vermeintliche Triumph einer liberalen Weltordnung mit ihrem Mythos einer sich selbst optimierenden Ökonomie. Die ‚Globalisierung‘ scheint allgemein fragwürdig geworden zu sein, und wir erleben vielschichtige Aufstände gegen eine Weltanschauung, die sich selbst zum zwangsläufigen Ergebnis der Geschichte erklärt hatte, deren Verheißungen aber offenbar an Strahlkraft verloren haben. Unverstanden bleibt hier, dass es heute, wie immer schon, nur eine Weltunordnung gibt, also keine Puppenspieler greifbar sind, die man für finstere Machenschaften und Manipulationen haftbar machen könnte. Wenn man sich mit Kittsteiner klarmacht, dass hinter dem modischen Schlagwort nichts anderes steckt, als die altbekannte Logik der Kapitalverwertung, kann man sich die ‚progressiven‘ wie die ‚reaktionären‘ Illusionen abschminken: Weder steht die ‚Globalisierung‘ per se für gesellschaftlichen Fortschritt, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie oder gar Völkerverständigung, noch kann man einen umzäunten Kapitalismus ohne sie – oder gar in kontrollierter Stasis – haben. Es gibt viele neue Worte für dasselbe alte Phänomen, aber das kümmert sich nicht um unsere Ideen, Träume oder Ängste. Der Weltmarkt – „wir nennen das heute Globalisierung“22 – bringt, was man bis 2008 zu vergessen suchte, regelmäßig Krisen hervor. Doch anders als vom Geschichtsphilosophen Marx gedacht, bringt das den Prozess nicht an ein Ende. Er erzeugt Chaos und Leid, läuft aber ungerührt weiter. Mit dem Versprechen von ‚Control‘ wird im Politischen wieder gewuchert, Hasardeure inszenieren sich als ‚Große Männer‘ und Macher, die der Geschichte in die Speichen greifen können; doch das wird nicht ohne krachende Knochen abgehen. Die Gespenster der von Kittsteiner ausgemachten heroischen Moderne, in der Geschichte gewaltsam geformt werden sollte, kehren wieder. Diese Inszenierungen und Appellationen an Sehnsüchte zeigen an, wie groß die Angst vor dem Gegenteil ist – dem unerwünschten Wissen: „… man is submitted to a strange process, which is out of control.“
1Heinz-Dieter (sic!) Kittsteiner, The Sediments of Modernity. A Review of Benjamin Nelson‘s Der Ursprung der Moderne (Frankfurt: Suhrkamp, 1977), in: The Comparative Civilizations Review No. 9, Dickinson College, Carlisle 1982, S. 86–89, hier S. 87.
2In diesem Band: Zur Einführung, S. 12.
3Heinz Dieter Kittsteiner, Erinnerungen auf einer Vollversammlung, in: Daniel Becker u. a. (Hg.), ansichtssache – alternative festschrift, 18 semester studentisches leben an der europa-universität viadrina, Frankfurt/Oder 2001, S. 50–66; ders., Karl Marx 1968 und 2001, in: Richard Faber, Erhard Stölting (Hg.), Die Phantasie an die Macht? 1968 – Versuch einer Bilanz, Hamburg 2008 [EA Berlin, Wien 2002], S. 214–237; ders., Unverzichtbare Episode. Berlin 1967, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 4/2008, Die Insel West-Berlin, hg. v. Wolfert von Rahden, Stephan Schlak, S. 31–44.
4Heinz-Dieter [sic] Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/M., Berlin 1980, S. 221.
5Heinz Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt/M., Leipzig 1991.
6Undatierter Brief [Paris, 1988] Heinz Dieter Kittsteiners an Reinhart Koselleck, im Nachlass Koselleck im DLA Marbach, Signatur A: Koselleck. Zu Reinhart Kosellecks Begriff der Sattelzeit siehe: ders., Einleitung, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XV.
7Heinz Dieter Kittsteiner, Das Gewissen und die Geschichte. Vom 17. bis ins 21. Jahrhundert, Vortrag an der Universität Basel, 20.05.2005, Manuskript im Nachlass Kittsteiner im Universitätsarchiv der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder, Signatur 129.
8Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/M. 1998; ders., Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, erstmals Berlin, Wien 2004; ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006.
9Heinz Dieter Kittsteiner, Dichtet Clio wirklich?, in: Jürgen Trabant (Hg.), Sprache der Geschichte (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Bd. 62), München 2005, S. 84.
10Heinz Dieter Kittsteiner, Karl Marx. 1968 und 2001, S. 228 f.
11Heinz Dieter Kittsteiner, Erinnerungen auf einer Vollversammlung, S. 57.
12Heinz Dieter Kittsteiner, Zur Einführung, in diesem Band, S. 17.
13Ganz ähnlich argumentiert auch: Tamás Miklós, Der kalte Dämon. Versuche zur Domestizierung des Wissens, München 2016.
14Heinz Dieter Kittsteiner, Adornos Blick auf die Geschichte, in: Christine Blättler, Christian Voller (Hg.), Walter Benjamin. Politisches Denken, Baden-Baden 2016, S. 243–258, hier S. 256.
15Heinz Dieter Kittsteiner, Zur Einführung, in diesem Band, S. 17.
16Ebd.
17Kittsteiner, Dichtet Clio wirklich?, S. 81.
18Kittsteiner, Vorwort zu: Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 11.
19Kittsteiner, Dichtet Clio wirklich?, S. 84.
20Ebd.
21Ebd., S. 80
22Heinz Dieter Kittsteiner, Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin, Troeltsch-Studien, Neue Folge 1., Gütersloh 2006, S. 21–47, hier S. 42.