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1. Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie Plädoyer für eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte I. Eine bedrohte Erfahrung

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Angesprochen ist in diesen Überlegungen nicht primär die philosophische Befragung der Geschichte nach dem Untergang der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel, nicht die Hinwendung zu einem Nachdenken über Geschichte in jenem Zeitraum, den Herbert Schnädelbach in seiner Studie von 1974 als „Geschichtsphilosophie nach Hegel“ bezeichnet hat. Gemeint ist eine Rettung der Einsicht der klassischen Geschichtsphilosophie aus der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Denn diese vermeintlich untergegangene Geschichtsphilosophie ist nicht mit dem Hinweis auf ihre Teleologie zu kritisieren. Hinter der Teleologie verbirgt sich ein nach wie vor ungelöstes Problem, das der Nicht-Verfügbarkeit der Geschichte. Ein Blick auf Immanuel Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ aus dem Jahre 1784 erhellt die Ausgangssituation. Kant beginnt mit dem philosophischen Unwillen bei Betrachtung der Historie, dass die Menschen nicht wie vernünftige Weltbürger in ihrer Geschichte „nach einem verabredeten Plane im Ganzen“ verfahren. Die von ihm im Rückgriff auf eine „Teleologie in praktischer Absicht“ eingeführten Begriffe wie „Naturabsicht“ oder „Vorsehung“ zeigen nur, dass wir es mit dem Versuch einer Ordnungsstiftung im Bereich des Nicht-Planbaren zu tun haben. Die spezifischen Denkfiguren der Geschichtsphilosophie, so wie sie sich seit etwa 1780 herausbilden, sind eine erste wissenschaftliche Reaktion auf die Erfahrung, dass die Menschen, bei aller wachsender Herrschaft über die Natur sich in einen dynamisierten Geschichtsprozess hineingestellt sehen, den sie nicht bewusst „machen“ können. Ihre Lösungsversuche zeigen, dass sie dem objektiven Prozess eine „Vorsehung“ oder eine „Vernunft“ unterlegen, z.T. noch in der Übertragung der am Ende des Jahrhunderts schon in die Jahre gekommenen Physikotheologie. Ein auf der Moralphilosophie aufruhender „Gott“ soll zurechtbringen, wozu die Menschen aus eigener Kraft nicht in der Lage sind: Ihrer Geschichte einen der Moral zuträglichen Ausgang zu sichern.

Es ist dann leicht zu zeigen, dass Kant im Vierten Satz der „Idee“ eine teleologische Überformung von vermeintlichen „Mitteln“ liefert, und den gesellschaftlichen „Antagonismus“, der für sich selbst betrachtet auch zu ganz anderen Konsequenzen führen könnte, einer gnädigen „Naturabsicht“ unterstellt. Es geht hier aber nicht um Kants Antwort auf die Form der Geschichte, sondern um diese Form selbst. Und die besagt, dass der Mensch nicht Herr seiner eigenen historischen Entwicklung ist. Für den homo faber stellt diese Einsicht eine nicht zu unterschätzende Kränkung dar.1

Diese kränkende Einsicht wird auch gerne unterschlagen. Wer die Aufklärung nur als eine Fortschreibung der im 17. Jahrhundert einsetzenden Tradition der humanen Selbstbehauptung begreift, wird für diese genuine Einsicht des späten 18. Jahrhunderts blind bleiben. „Innerhalb der Geschichte der Neuzeit, besser: als Geschichte des neuzeitlichen Menschentums, versucht der Mensch überall und jedesmal aus sich selbst sich selbst als die Mitte und das Maß in die Herrschaftsstellung zu bringen, und d.h. deren Sicherung zu betreiben.“2 Wer so argumentiert, unterschlägt im Gefolge von Nietzsches Unterschätzung des 18. Jahrhunderts dessen Innovationen auf dem Gebiet des Geschichtsdenkens. Es ist eben nicht der Mensch „Mitte und Maß“ in der Geschichte des neuzeitlichen „Menschentums“, sondern er muss sich damit begnügen, zum Objekt eines über ihn hinweg prozessierenden Subjekts der „Geschichte selbst“ zu werden. Allerdings hat er dieses Subjekt libidinös besetzt; es soll mithelfen das zu realisieren, was die Menschen aus eigenem bewussten Handeln nicht herstellen können. Bei Hegel verlässt die Geschichtsphilosophie ihren bloß hypothetischen Charakter in praktischer Absicht und scheint zu einem wirklichen Wissen werden zu können, das diese Unterwerfung unter eine „List der Vernunft“ begreifbar macht; nichts Geringeres als eine dynamisierte Theodizee bietet Hegel seinen Hörern an.3 Von solchen Ansprüchen ist Kant weit entfernt; im Grunde ist seine Geschichtsphilosophie nur eine Hilfskonstruktion für die Moral – damit sie an der Welt nicht verzweifelt.

Teleologie also überlagert nur die Erfahrung eines Prozesses, der sich jenseits der Intentionen der Menschen bewegt, wenngleich er aus ihrem Handeln resultierte. Kant hat diese Grundkonstellation der Projektion von humanen Zielen auf die Geschichte bei gleichzeitiger Unfähigkeit, sie unmittelbar zu „machen“, gültig festgehalten: „Denn von ihr, oder vielmehr (weil höchste Weisheit zu Vollendung dieses Zwecks erfordert wird) von der Vorsehung allein können wir einen Erfolg erwarten, der aufs Ganze und von da auf die Theile geht, da im Gegentheil die Menschen mit ihren Entwürfen nur von den Theilen ausgehen, wohl gar nur bei ihnen stehen bleiben und aufs Ganze als ein solches, welches für sie zu groß ist, zwar ihre Ideen, aber nicht ihren Einfluß erstrecken können; vornehmlich da sie, in ihren Entwürfen einander widerwärtig, sich aus eigenem freien Vorsatz schwerlich dazu vereinigen würden.“4 Es spricht aus der Erfahrung nichts dafür, dass sich an dieser Grundkonstellation seither irgend etwas geändert hätte.

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