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V. Geschichtsdenken nach dem Ende der teleologischen Sekurität

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Wenn man fragt, ob das Zeitalter der Revolutionen beendet sei, dann ist man über Marx hinaus. Denn Marx ist der letzte Methusalem des teleologischen Denkens, auch wenn sich seine Teleologie darauf beschränkt hatte, in der Bewegung des kapitalistischen Substanz-Subjekts die krisenhaften Vorbedingungen für die revolutionäre Tat der Arbeiterklasse bereitzustellen. Insofern hatte Marx die politische an die ökonomische Revolution gebunden und in der kapitalistischen Krise noch einmal eine „List der Vernunft“ am Werke gesehen. Die Geschichte des sozialistischen Denkens zeigt selbst schon eine Entkoppelung dieser Prämissen; als die Oktoberrevolution in Russland dann stattfindet, ist sie der Akt einer Kaderpartei und keineswegs notwendig im Sinne von Marx. Inzwischen hat der globale Weltmarkt als der Nachfahre des Weltgeistes dieses „sozialistische“ Gebilde wieder in sich zurückgenommen. Nun zeigt es sich: Die ökonomische Umwälzung aller Verhältnisse durch das Kapital war die eigentliche Revolution des 19. und 20. Jahrhunderts; die sozialistischen Revolutionen waren nur die Reaktion darauf. So ist das, was Marx zusammengedacht hatte, heute auseinandergefallen. Der unbewussten Einsicht in die Unentrinnbarkeit des Kapitalverhältnisses korrespondiert ein frei flottierender Enthusiasmus, der sich in der nun auch schon wieder am Ende ihrer Herrlichkeit angekommenen „Postmoderne“ an Geschichtszeichen relativ beliebiger Art attachieren konnte.

Ich hatte oben eine revolutionäre von einer zivilisationskritischen Linie im deutschen Denken des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts unterschieden. Die Unterscheidung darf nicht zu streng sein, denn beide Linien überschneiden sich vielfach und bilden in der Zeit um den Ersten Weltkrieg ein brisantes Gemisch. Romantisches Denken in der entzauberten Welt zieht anhand einer Passage aus Thomas Manns Doktor Faustus einige Linien dieses Selbstverständnisses nach. Die als Stufe der „Heroischen Moderne“ charakterisierte Grundhaltung zur Geschichte versucht sich an der Sinngebung des Sinnlosen. An einigen Büchern und programmatischen Verlautbarungen des Eugen Diederichs Verlags in Jena wird dieses Denken näher umrissen: Immer ist es auf der Suche nach einer Kraftzufuhr, denn um diesen an sich selbst sinnlosen Prozess des Geschehens noch bändigen zu können, bedarf es offenbar übermenschlicher Kräfte, die schließlich fichteanisch im Rückgriff auf die Deutschen als das Urvolk auch gefunden werden. So gerät das romantische auf die abschüssige Bahn des völkischen Denkens.

Oswald Spengler neben Thomas Mann zu stellen kommt nicht von ungefähr. Der Schriftsteller war fasziniert von dem Denker der morphologischen Welt-Geschichte, von dem er sich zunächst einen schwerelosen Übergang in die Zivilisation versprochen hatte. Am 5. Juli 1919 schreibt er: „Man muß sich kontemplativ stimmen, auch fatalistisch-heiter, Spengler lesen und verstehen, daß der Sieg England-Amerikas die Civilisierung, Rationalisierung, Utiliarisierung des Abendlandes, die das Schicksal jeder alternden Kultur ist, besiegelt und beendigt. (…) Was nun kommt, ist die angelsächsische Weltherrschaft, d.h. die vollendete Civilisation. Warum nicht? Es wird sich ganz komfortabel unter ihr leben lassen.“33 Welch ein Irrtum. Die Zivilisation Spenglers war nicht die „Zivilisation“ des Westens, sondern der Endkampf zwischen „Geld“ und „Blut“ im Zeichen des Cäsarismus. Der Erfolgstitel: Der Untergang des Abendlandes täuscht. Nichts geht hier unter – außer der Kultur. Der Erfolg Spenglers beruht darauf, dass er den Deutschen erklärt, der Weltkrieg sei noch gar nicht verloren und zu Ende. Er wird nur im Rahmen jener späten Endform jeder Kultur, der Zivilisation, weitergeführt. Darauf soll man sich einrichten und sich dafür „in Form“ bringen. Die kleine Skizze Die Form der Geschichte und das Leben der Menschen endet mit dem Verweis auf einen jungen Soldaten, der 1941 von einem kleinen Büchlein mit Aphorismen Spenglers in Form gebracht werden wollte.

Dem losen Geplauder der Studenten im Doktor Faustus und dem in Form gebrachten Oswald Spengler wird nun ein Denker entgegengesetzt, der auf den Schultern Nietzsches den Terminus der „Weltverdüsterung“ aufnimmt und ihn 1935 gegen Russland und Amerika zugleich wendet. „Rußland und Amerika sind beide, metaphysisch gesehen, dasselbe; dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen.“34 Martin Heideggers Amerika als der Ursprungsort der Weltverdüsterung wird auf seine historische Situierung hin befragt. 1935 ist Heideggers Enthusiasmus für den Nationalsozialismus (genauer gesagt: für einen von ihm er-dachten, eigenen Nationalsozialismus)35 schon der Skepsis gewichen und im Übergang zu den „Beiträgen zur Philosophie“ begriffen.36 Gleichwohl glaubte er 1935 noch die Rolle des Volkes in Europas Mitte genau zu kennen. Es ist die Bändigung der Gefahr der Weltverdüsterung – der geistige Zweifrontenkrieg vor dem wirklichen. Diese Denkfigur wird in den weiteren Umkreis der damaligen amerikakritischen Literatur gestellt. Durch die Ereignisse des 11. Septembers 2001 und der patriotischen Auslegung dieses Geschichtszeichens seitens der USA, ist dem Wiederabdruck dieses Textes von 1997 eine gewisse Aktualität zugewachsen. Der Aufsatz endete mit der Warnung, sich nicht allzu schnell den gängigen Klischees der deutschen Amerikadeutung37 anzuschließen. Es ist wahr: das Amerika des George W. Bush verdient Kritik; es bedarf sogar der Kritik. Diese Kritik kam früher von links und von rechts und hatte zum Fundament immer die These, dass die Europäer, insbesondere die Deutschen, eine bessere Gesellschaftsform in historischer Bereitschaft hielten. Diese Prämisse darf man in der Globalisierungsmoderne getrost fallen lassen. Heute kritisiert bestenfalls Demokratie „Demokratie“, eine Spielart des Kapitalismus kritisiert eine andere. Es geht um keinen gesellschaftlichen Gegenentwurf mehr, sondern um den Streit um den besten Kapitalismus. Das sollte man sich vergegenwärtigen, sonst endet man sehr schnell beim Duktus des Maßlosen Kontinents des Giselher Wirsing von 1942, selbst wenn sich in diesem Buch Passagen finden, die heute in jeder Tageszeitung stehen könnten.38

Erkenne die Lage. Über den Einbruch des Ernstfalls in das Geschichtsdenken. Auch das klingt aktuell. Gemeint ist aber die Auslegung einer Sentenz von Carl Schmitt, der Gedanke, dass Gott mit uns spiele, könne ebenso sehr eine optimistische Theodizee wie eine verzweifelte Ironie hervorbringen. Die Ironie wird durchgespielt anhand Hegels Kritik an den Romantikern, denn er selbst hielt eine substanziellere bereit: die Ironie des Weltgeistes, der die Intentionen der Akteure prismatisch bricht und zu seiner eigenen Sache macht. Mit der Kritik an der Geschichtsphilosophie zerfällt diese spielerische Ironie. Der Ernstfall bricht in die Geschichte ein. Die Akteure betrachten sich nun selbst als die letzten Instanzen des historischen Handelns. Sie spalten sich auf in Freund und Feind, doch scheint hier eine gewisse Asymmetrie am Werk. Denn Carl Schmitts „Feind“ kämpft nicht mit offenem Visier. Die anglo-amerikanische Kampfeinheit „Ethik & Ökonomie“ bedient sich politisch der Weltmoral des Völkerbundes und ist der deutschen Traditionsfirma „Freund & Feind“ haushoch überlegen. Seinem Glossarium vertraut Carl Schmitt seinen späten Ärger über die Ironie an: die elende Selbstgefälligkeit, mit der Hegel sich mit der „Ironie“ in der Geschichte identisch gewusst habe. C.S. hingegen sieht sich als Opfer dieser Ironie in doppelter Weise – habe er doch zuzeiten mit „intensivster Ironie“ gearbeitet, dadurch aber „Caliban/Papageno“ in eine Prüfung versetzt, die er nicht bestehen konnte.

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