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III. Orientierung am „Geschichtszeichen“

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Doch bevor wir mit aller gebotenen Vorsicht hier anknüpfen, müssen wir uns noch einmal Ricœurs Darstellung des Zusammenbruchs der Hegelschen Geschichtsphilosophie zuwenden. Die von ihm genannten Denker: Kierkegaard, Feuerbach, Marx und Nietzsche beginnen zwar alle mit der Revolte des Einzelnen gegen die Vorherrschaft des Allgemeinen – noch Nietzsche schreibt streckenweise wie ein zu spät gekommener Junghegelianer. Nur Marx schert aus der Phalanx aus und kehrt, bei vergleichbaren Anfängen, später zu einer erneuerten Vorstellung von einem vorherrschenden Allgemeinen zurück. Die Grundlagen sind schon in der „Deutschen Ideologie“ gelegt – in der Transformierung der Herrschaft des Weltgeistes in die Tyrannei des Weltmarktes. Genau an diesem Punkt hat sich Marx aber im Durchgang durch die Formen der Kapitalbewegung noch einmal von Hegel einfangen lassen; ausgerechnet im Kapitel über den „Tendenziellen Fall der Profitrate“ lenkt er wieder in ein teleologisches Zweck-Mittel-Denken ein.19 Schlägt man diese teleologische Überlagerung bei Marx weg, dann bleibt zunächst die Idee eines nichtteleologisch vorversicherten Allgemeinen, eines historischen Prozesses, der sich blind aber dynamisch in die Zukunft entwirft. Insofern stehen selbst diese von Marx hinterlassenen gewaltigen Ruinen mit ihrem strengen Formbegriff – dem der Wertformen – quer zu allen Vorstellung einer „postmodernen“ Geschichtsauffassung, der Geschichte zu einer „riesigen formlosen Masse“ geworden ist, durch die sich jeder Historiker gleichsam „privat“ hindurchgraben kann.20 Mit anderen Worten: Man wird den Weltmarkt und seine das Einzelne allegorisierende Macht nicht dadurch los, dass man sich beleidigt von ihm abwendet. Vor diesem Hintergrund ist nach dem kritischen Umgang mit aller – wie Lukács es einmal genannt hat – „geschichtsphilosophischen Zeichendeuterei“ zu fragen.21

Mit dem Verzicht auf Teleologie bei Marx ist etwas anderes gewonnen als mit dem Verzicht auf Teleologie bei Hegel. Hier ist die Idee einer „absoluten Vermittlung von Geschichte und Wahrheit“ zuschanden gekommen;22 bei Marx bleibt hinter der Überlagerung des kapitalistischen Verwertungsprozesses mit einem sozialistischen Ziel eben dieser Prozess ohne Wahrheit übrig. Erledigt ist allerdings dann die Vorstellung, dieses Prozesses jemals Herr werden zu können – ein Herrentraum, den Nietzsche und Heidegger in ihrer Weise noch einmal geträumt haben. Nach 200 Jahren schlechter Erfahrung mit den Versuchen, Geschichte als Ganze vermeintlich human zu gestalten, könnte sich die Menschheit allmählich einmal daran gewöhnen, mit einer nichtmachbaren Geschichte zu leben, ohne dies als Kränkung des homo faber zu empfinden. Was bleibt, ist das Bedürfnis, sich in dieser Geschichte zu „orientieren“; dafür sind aber flexiblere Horizonte hinreichend, als es bislang scheinen konnte.

Für einen Versuch, Kants Theorie des „Geschichtszeichens“ umzudenken, scheint es mir notwendig zu sein, auf die beiden von Reinhart Koselleck entwickelten, bei Paul Ricœur diskutierten Kategorien Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zurückzugehen. In Ricœurs Lektüre kommt dem über Marx eingeführten Problem der Nicht-Machbarkeit der Geschichte ein etwas größeres Gewicht zu als bei Koselleck. Er selbst drückt das so aus: „Das Thema der Beherrschbarkeit der Geschichte beruht also auf dem fundamentalen Verkennen jener andren Seite des Geschichtsdenkens (…), nämlich der Tatsache, daß wir von der Geschichte affiziert werden und uns durch die Geschichte, die wir machen, selbst affizieren.“23 Betrachtet man in diesem Rahmen das Sich-Orientieren in der Geschichte weiterhin von der Möglichkeit abhängig, ihre „Zeichen“ lesen zu können, und führt man als vermittelnde Kategorie zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont den Symbolbegriff Ernst Cassirers ein, dann zeigt sich, dass ein Wahrnehmungserlebnis als sinnliches Erlebnis, immer schon einen Bedeutungsüberschuss mit sich trägt, der das einzelne Wahrnehmungsphänomen auf ein „Sinn-Ganzes“ bezieht. Erfahrungsraum und Erwartungshorizont schaffen symbolische Formen der Weltauslegung, die dann selbst wieder als „transzendentale“ Vorbedingungen neuer Wahrnehmung gelten können. Wie sich an Cassirers Auseinandersetzung mit Simmel zeigt, hätten wir es dann mit symbolischen Formen oder Zeichen zu tun, die keinen historischen Horizont endgültig abschließen, sondern die dazu geeignet sind, Verfestigungen auch wieder aufzubrechen. Eine unilinear-teleologische Geschichtsauffassung ist im Rahmen dieses Denkens nicht mehr möglich. Die antizipierten Erwartungshorizonte und die aus ihnen durch Rückprojektion auf Ereignisse oder Geschichtsformen gewonnenen „Geschichtszeichen“ werden versuchsweise aufgebaut; sie können sich pluralistisch selbst kritisieren.

Problematisch bei Cassirer bleibt, dass er zur „unbewussten Produktion“ von Geschichte keinen rechten Zugang zu haben scheint. Die am weitesten vorgeschobene Position zur „Dechiffrierung“ von Dingwelten, die zugleich kapitalistisch produzierte Warenwelten sind, hat nach wie vor Walter Benjamin geliefert; insofern besteht überhaupt kein Grund, sich von seinem Denken abzuwenden oder es gegen irgendwelche Gerätschaften aus postmodernen Quincaillerien einzutauschen. Wenn die Dinge ihre „surrealistische“ Miene aufsetzen, besteht ein Moment der Erkennbarkeit. Jetzt ist nicht ein sinnhafter Erwartungs-Horizont die Voraussetzung für eine Rückprojektion auf den Erfahrungsraum der Gegenwart, die Wahrnehmung schließt sich auch nicht zu einer gerundeten „symbolischen Form“ zusammen, sondern innerhalb eines sinnlosen Ganzen tauchen Konfigurationen auf, die als Ausdruck unbewusster Ängste oder Vorahnungen im Umgang mit dem Nicht-Machbaren gelesen werden können. Der Gebrauchswert in seiner bestimmten Form – das Design der Waren – wird vom Wertcharakter gleichsam zensiert; was entsteht, ist ein entstellter Gebrauchswert, der aber in seiner Entstellung zum „Zeichen der Zeit“ werden kann. Benjamin benutzte dafür den Begriff „Phantasmagorie“. Die Entzifferung der Waren als Phantasmagorien der träumenden – ihre Geschichte unbewußt verrichtenden Menschen, das wäre das Benjaminsche Äquivalent zum Kantischen „Geschichtszeichen.“24 Man kann die Genese der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie als ihre Geburt aus der Frage nach dem Geschichtszeichen verstehen; war damit ihr Sündenfall verknüpft, so kann die Rückgängigmachung dieses Sündenfalls wiederum nur bei der Frage nach der Orientierung in der Geschichte ansetzen.

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