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Seelenscan
ОглавлениеIch atme diesen Körper nicht,
diesen Körper atm' ich nicht!
Raus und nochmals von vorne.
Neustart.
Während ich an einem sonnigen Januartag ins Bergische Land fahre, gehen mir Bilder einer wüsten Krankenhausschlägerei durch den Kopf, die ich nicht zuordnen kann. Ich kann mich nicht erinnern, je in einem Krankenhaus gelegen zu haben. Wahrscheinlich habe ich nur geträumt, denke ich, und finde, dass nicht ich, sondern dieses Land krank ist.
Dieses Bergische unterhalb von Köln-Leverkusen. Ich fahre die Autobahn A3 Richtung Süden, Südosten, irgendwo das Siebengebirge und Erinnerungen an Rübezahl und Kinder, die auf Felsen klettern, doch hier, wo ich fahre, ist kein Gebirge, nur flächendeckend Lärmschutzwände aus Beton und gesichertes Gestein, mit Drahtgittern bespannt, die Landschaft ist brutal aufgeräumte Natur, und auf der Gegenfahrbahn braut sich ein Stau zusammen, der einen ängstigen könnte. Lass dir Zeit, sage ich mir, es ist nicht mal zwei, bin viel zu früh. Heute Abend wird er sich wieder aufgelöst haben. Schlimmer noch als die Betonwände oder der Stau sind die wind- und formlosen Wolken, ist dieses endlos Diesige, in das ich hineinfahre und das das Blau des Himmels klammheimlich in ein helles Grau verwandelt. Obwohl der Tag sonnig angekündigt, komme ich in einen Hochnebel. Ein Nebel an so einem Tag, ein Nebel, der den Anschein erweckt, er wäre immer schon da gewesen. Ein Nebel, der nicht aus Wasserdampf besteht, sondern aus etwas anderem, in Köpfen Entstandenem. Nach einer Weile frage ich mich, wo diese Landschaft ihr Licht hernimmt.
Ich taste nach meinem Nacken, berühre die junge Narbe. Eine winzige Kruste aus einem geronnenen Tropfen Blut. Mehr brauchte es nicht. Das darunter kann ich nicht fühlen, aber es ist da. Ich bin verbunden.
Ich atme diesen Körper nicht ...
Die Implantation des Live-Senders ist ein harmloser Eingriff. Man sitzt auf einem Stuhl, ich sitze auf einem Stuhl, nein, ich sitze gar nicht, ich liege auf dem Bauch, ich schaue in ein Frotteehandtuch und lasse mir im Liegen den Nacken massieren, das ist die Arzthelferin. Und dann ein Stich, ein Spray, und mein Nacken löst sich in Nichts auf, während ich auf dem ergonomisch ausgeformten Polster ins Weiße schaue.
Ich habe mich überreden lassen, habe mich selbst überredet. Jetzt, wo Franka weg ist, gibt es niemanden mehr, der mir das Unsterblichsein ausreden könnte (aber ehrlich gesagt auch keinen echten Grund mehr, unsterblich zu sein). Ich liege auf Schaumstoff und spüre und sehe nichts und lasse mir den Chip einpflanzen, den ich nie haben wollte.
Diesen Körper atm' ich nicht!
Der Arzt ist mein Hausarzt, der öffnet eine kleine Pappschachtel im Design einer Medikamentenverpackung, holt ein durchsichtiges Plastikdöschen heraus und zeigt mir darin den Sender, einen winzigen, kaum fingernagelgroßen RFID-Chip, der auf dem Boden des Döschens fixiert ist; ebenfalls darin fixiert eine sterile Pinzette, mit der muss man den Chip abknipsen und in den Patienten einsetzen. Und von außen auf der Dose aufgeprägt ein soundsovielstelliger Code. Mein Arzt hat eine ganze Schublade voller Chippackungen. Das seien Pfennigartikel, sagt er.
An seinem kleinen Tischcomputer ist ein Scanner angebracht, gegen den hält er das Döschen und der Code meines Chips wird eingelesen. Eine Maske mit Eingabefeldern öffnet sich für Name, Geburtstag etc., er stellt das Döschen auf eine kleine Wärmeplatte, die versorge den Chip mit Energie, sagt er und wartet ein paar Sekunden. Und dann: »Verbunden!«
Er gibt meine Daten ein.
Ich bin Thomas Vanderra, 53 Jahre alt, Architekt, angestellt und ledig. Geburtstag und -ort, und die Vertragsnummer der Gesellschaft. Gesellschaft mit hochgestelltem 'R': Gesellschaft ®. Und ledig immer noch oder für immer.
Er zeigt mir an einem Kunststoff-Wirbelsäulen-Modell, wo der Chip hingepflanzt wird: mitten ins Genick; passgenau in die kleine Senke auf dem Dorn des zweiten Halswirbels, die wie dafür gemacht ist. Ein RFID-Chip ist ein kleiner Sender, erklärt er, der ohne Batterie auskomme, die Körperwärme reiche aus, um ihn in Betrieb zu halten. Ich bräuchte nur den Oberkörper freimachen und mich dort hinzulegen, der Eingriff dauere nur ein paar Minuten. Minimal-invasiv.
Ich atme diesen Körper nicht ...
Ich weiß das alles. Ich lese regelmäßig Artikel über die Reinkarnation. Menschheitstraum wahrgeworden, schreit es einem von animierten Werbescreens, aus 3-D-Fernsehspots und aus allen Winkeln des WWW entgegen. Wir müssen nicht mehr sterben! Und wenn man bedenkt, dass doch alles menschliche Denken und Handeln bislang den eigenen Tod impliziert hat, so wird sich diese Technologie, die noch ganz am Anfang ist, zur allergrößten Revolution des menschlichen Daseins überhaupt entwickeln. Wir bleiben! Zukünftig bleiben wir auf diesem Planeten, in diesem Universum, das Leben ist nicht länger nur ein Gastspiel, aufgetaucht aus und zurückgekehrt zu einem Jenseits, von dem niemand weiß, ob es sich dabei nicht bloß um den größten kollektiven Selbstbetrug handelt, dem die Menschheit über hunderttausend Jahre lang verfallen war. Gott ist tot, wir sind frei!
Frei? Frei, wer es sich leisten kann. Und der ist mitnichten frei. Statt einem Gott vertrauen wir unsere Seele zukünftig einem multinationalen Konzern an, der so übermächtig ist, dass er keinen anderen Eigennamen mehr braucht, als Gesellschaft. Niemand weiß, was tatsächlich mit uns geschieht, wenn wir so alt geworden sind, dass auch die beste Medizin unsere Körper nicht mehr am Leben halten kann. Das sei erst der Anfang, sagen sie. Jetzt, wo wir den schwierigsten, komplexesten und allerwichtigsten Teil von uns, nämlich unser Gehirn, sichern können, wird der Rest fast von ganz alleine geschehen. Genetik, Medizintechnik und Prothetik arbeiten unter Hochdruck an unseren zukünftigen Körpern, alles nur noch eine Frage der Zeit, bis auch diese dem Prozess des Zerfalls zu hundert Prozent entzogen werden können. Schon bald, heißt es, werden die Menschen neue Menschen sein, für immer jung, schön, gesund - und wenn doch etwas passiert, dann haben wir unser Backup, sicher eingelagert bei der Gesellschaft, die uns vertraglich zusichert, dass wir nicht verloren gehen. Schöne neue Welt.
Diesen Körper atm' ich nicht!
Und welchen Preis zahlen wir? Nichts weniger als die totale Kontrolle durch die Gesellschaft, über jeden Schritt, den wir tun. Ist das ein Traum? Oder ein Albtraum? Ein teurer Albtraum, der so viele Fragen ungeklärt lässt, zum Beispiel wer teilhat und wer nicht, und was bedeutet zukünftig Eigentum, wenn Unsterbliche immer reicher und mächtiger werden, und dies nie ein Ende haben wird? Und was ist mit den Kindern? Werden wir noch Kinder haben, wenn wir ihnen nichts mehr weitergeben brauchen und alles selbst behalten? Ist der Traum nicht ein Albtraum, der uns an den Fliegenfänger von Mächten hängt, die unser Leben irgendwann bis in alle Poren durchdringen werden, schlimmer als jede Kirche und jede Diktatur? Allein schon dieser Chip im Körper, der einer beinahe unbemerkten Unterwerfung gleichkommt, nein, ich werde das nicht tun. Kein Chip in meinen Körper. Ich bin dagegen, dass ich überall geortet werde, dagegen, dass ein Computer jederzeit weiß, wo ich bin. Auf wenige Quadratmeter genau. Sylvie und ich haben uns entschieden, es nicht zu tun.
Oder doch?
Ich atme diesen Körper nicht ...
Im Büro vor dem Rechner sitzen und statt zu arbeiten meine E-Mails lesen. Meine E-Mails sind Werbung und Mist, keine einzige von Franka und nur SPAM, ich soll mein Passwort ändern wegen der allgemeinen digitalen Bedrohung, NSA, Big Brother etc., und als wenn das was nützt angesichts der Gesellschaft, die noch viel mächtiger ist. Ich kann doch nicht alle Nase lang usw. usf. und beginne in einem anderen Fenster einen weiteren Artikel über die Unsterblichkeit zu lesen ... und stocke, zucke förmlich zusammen vor meinem Bildschirm - Sylvie?
Ich schaue auf, aber mein Kollege hat nichts bemerkt. Wer ist Sylvie? Mein Kollege ist vertieft in eine Hausfassade, die er entwerfen soll. Live-Sender, steht auf meinem Bildschirm, Live-Sender senden im Sekundentakt Lebenszeichen an die Live-Watch-Zentrale der Gesellschaft. Körpertemperatur, Puls und Blutstrom und die wichtigsten enzephalografischen Eckdaten. Jede Sekunde ein digitales Päckchen Körperdaten, die ein solcher Chip misst und sendet. Aber nein, das meinte ich nicht. Ich habe 'Sylvie' gedacht. Ich habe Franka gemeint, aber 'Sylvie' gedacht. Dabei kenne ich gar keine Sylvie. Wer bitte ist Sylvie?! Ich habe nicht nur Namen verwechselt, Sylvie ist eine andere! Wie kommt es, dass ich an sie denke? Doch als mir das bewusst wird, ist da nichts. Kein Bild, keine Erinnerung.
Der Online-Artikel beschreibt das System des Live-Watching sehr kritisch. Die Gesellschaft sei die Tochter eines internationalen Megakonzerns, einer Muttergesellschaft, was zwar offiziell abgestritten werde, aber jeder weiß es und es gäbe genügend Beweise für Verflechtungen etc. etc. Das 'Mutter' in 'Muttergesellschaft' hat einen unheimlichen, geradezu hörbaren Beiklang, wie Norman Bates Ruf nach seiner Mutter in 'Psycho' oder die Stimme von Big Brother in '1984'; und ich möchte denken: Verschwörungstheorie. Haltlose Angstmacherei, sie werde uns schon nicht ... Andererseits, anders als durch eine globale Verschwörung ist nicht zu erklären, wie man es geschafft haben soll, sämtliche weltweit existierenden elektronischen Datentransportsysteme zu verpflichten, die Lebenszeichen eines jeden Kunden jederzeit und überall durchzuleiten. Alle Mobilfunksysteme sind angeschlossen, alle privaten W-Lan-Netze sind zwangsverpflichtet, alle Satellitentelefonverbindungen und natürlich auch das gute alte Kupferkabel-Festnetz; sogar alle anderen kleinen, lokalen Funknetzsysteme wie Bluetooth etc. sind in das System eingebunden und müssen über einen speziellen Bypasscode sämtliche Live-Watch-Daten empfangen und weiterleiten. Zudem sind die kleinen Sender GPS-tauglich, sodass automatisch ein Notdienst alarmiert wird, der einen aufspürt, sollte die Verbindung abreißen.
Das sei der Preis. Heißt es.
Niemand wisse genau, wie es gelungen sei, ein derart weitreichendes juristisches Flechtwerk aus Rahmen-, Nutzungs- und Durchleitungsverträgen ohne größere Widerstände umzusetzen. Die weltweite Zwangsverpflichtung der Netze hat sich so selbstverständlich in den Lebensalltag eingeschlichen, dass sie mittlerweile von den meisten nationalen Verfassungsgerichten als von übergeordnetem gesamtgesellschaftlichen Interesse betrachtet wird. Klagen zwecklos. Niemand möchte es riskieren, im Falle eines plötzlichen Ablebens nicht rechtzeitig gefunden zu werden. Denn das ist der alleinige Sinn und Zweck der RFID-Chips in den Genicken der schönen neuen Welt: Jeden Toten binnen 30 Minuten aufzufinden und zu versorgen.
Und mich? Nie!
Oder doch?
Diesen Körper atm' ich nicht!
Endlich die Ausfahrt, irgendwo hinter Neustadt ... Neustadt, woher so ein Name in so einer Gegend? Zum Gruße ein riesiger Pylon: 'Erotik-Markt', und Neubauhallen, ein Einkaufszentrum, der Nebel ist hoch genug, dass er nicht die Sicht versperrt. Besser wär's, denke ich, man hätte sich was Schöneres wenigstens vorstellen können.
Ich halte an, für einen Kaffee, den es nirgendwo gibt, so wenig, wie es auf dem leeren Parkplatz Menschen gibt, nur eine Frau, eine einzige, fast meine ich, Franka in ihr zu sehen. Sie geht irgendwo hinein, und ich denke, wieso Franka?, das ist doch Sylvie, dabei kenne ich überhaupt keine Sylvie, wer zum Teufel ist Sylvie? Ist mir das nicht schon einmal passiert? Diese Verwechslung? Neulich oder gerade erst? Also doch Franka! Diese Frau hat aber überhaupt keine Ähnlichkeit mit Franka gehabt. Ich will es wissen, was idiotisch ist, und gehe ihr nach, dahin, wo sie verschwunden ist. Doch als ich zwischen den Trapezblechhallen hindurchsehe, ist sie weg. Da ist nichts. Da ist nur die Kante, die, wenn man an sie herantritt, wenn man durchs ungemähte Gras zwischen Erotikmarkt und Supermarkt hindurchgeht, als würde man ausgerechnet hier diese Frau finden, die einen irgendwie angestochen hat, wenn man also durchs feuchte Gras bis zum Ende stapft, dann sieht man dahinter nichts mehr, gar nichts, da kommt dann nur noch Weltall. Ich schaue auf die Uhr, es ist jetzt drei, na prima denke ich, und pinkel in den bodenlosen schwarzen Abgrund und denke, fiele ich hinein und stürbe jetzt, wäre alles umsonst gewesen. Man würde mich zwar finden, hätte aber nichts, kein Backup, um mich wiederzubeleben. Ich habe heute mein erstes Mal. Erst heute Abend kann mir mein Tod egal sein.
Ich atme diesen Körper nicht,
Diesen Körper atm' ich nicht!
Egal zu sterben? Egal ob hier oder sonst wo, so lese ich weiter, während der Kollege den Heißdrahtschneider aus dem Regal holt und anfängt, flache, schmale Scheiben aus einem Styrodurblock zu schneiden, die er in einer Art Tangram zu verschiedenen Fassadenvarianten legt. Wäre ich Kunde der Gesellschaft, wäre ich mit der Gesellschaft mit dem hochgestellten ® verbunden, dann würde man mich, stürbe ich, finden. Mittlerweile sind Rettungswagen und Hubschrauber standardmäßig mit einem Biostasesystem ausgestattet, das Tote kryokonserviert, so der Fachbegriff für den Austausch des Blutes gegen Frostschutzmittel, während der Körper auf dem Weg in die nächste Klinik langsam heruntergekühlt wird. Will ich das?
Der Autor des Artikels schreibt, dass die Einführung der Kryonik ins Rettungswesen zu einem Paradigmenwechsel geführt hat. Zwar sei diese Technologie auch bei Schwerverletzten anwendbar, um den drohenden Tod hinauszuzögern, doch während bislang Rettungsfahrzeuge ausschließlich für die Rettung der noch Lebenden ausgestattet waren, sehen sich Ärzte und Sanitäter zunehmend damit konfrontiert, Leichen zu transportieren. Oder gar zwischen der Versorgung Toter und Schwerverletzter abzuwägen. Besonders bei größeren Unfällen mit mehreren Opfern - abzuwägen, wer Vorrang hat: die Verletzten oder die Toten? Sollen sie einen Schwerverletzten versorgen, der kaum eine Überlebenschance hat, oder den toten Kunden der Gesellschaft, dessen Körper schnellstmöglich vor der Zersetzung bewahrt werden muss? Was ist, wenn der Schwerverletzte kein Kunde ist, und keine zweite Chance hätte? Und was ist, wenn sie auswählen müssen zwischen Toten und Toten, die aussortieren, die in das Reinkarnationssystem der Gesellschaft eingebunden sind und die, die ins Grab gehören. Niemals, denke ich.
Oder ...?
Ich atme diesen Körper nicht!
Ich fahre weiter. Immer tiefer dringe ich in diese Landschaft des Todes ein und weiß, ich muss ans Ende der Welt, um meinen Kopf abzugeben. Wieder taste ich nach der Blutkruste auf dem Nackenknochen. Ich pule daran herum, ich kratze, bis die Kruste ab ist. Ich fühle es feucht werden, es brennt ein bisschen und ich mache das schon seit Tagen. Ich könnte meinen Chip wieder herauskratzen. Könnte ich? Wohl kaum, zu tief sitzt das Ding in der Halswirbelsäule, womöglich mache ich mich querschnittsgelähmt. Ich habe nie einen haben wollen, und jetzt habe ich doch und fühle mich beobachtet, als hinge der Geist von 'Mutter' hinter den Wolkenschleiern und verfolge meinen Weg zum Institut.
Am Zielort kein Geschäft, kein Café, nicht mal Menschen, die sich hinter Scheiben verstecken. Trotz Kirche und einer Art Mitte. Nur dieser Hochnebel, der sich nicht verziehen will, der auf der kleinen Stadt sitzt wie ein Sargdeckel. Die ist steril und ohne irgendwas, kein Bäcker, kein Café, nur ein verriegeltes Restaurant und die Schaufenster einer seit 40 Jahren nicht mehr umdekorierten Boutique.
Am Institut erst vorbeigefahren, Moment mal, zurück, wieso ist der Ort, wo die Menschheit sich scannen lässt, so schlecht, ja gar nicht ausgeschildert? Und beim Empfang niemand. Nur ein gedrungenes Foyer, Ausstellungsstücke, ein Foto, eine Klingel. Und hinter einer Scheibe, wie Panzerglas, ein Raum; Bürodamen, vertieft. Nicht die ganze Menschheit trifft sich hier, aber dieser Ort soll überregionale Anlaufstelle für Millionen sein? Ich klingel, und mir erscheint so ein Fräulein, ein junges, eines, dem die Langeweile im Gesicht steht wie ein Sodbrennen, ein Fräulein, das mich mit einem müden Hunger freundlich bedient. Ich denke, dass auf dem Land das Sexuelle viel unmittelbarer unter der Oberfläche lauert als in der Stadt. Sie bittet mich, Platz zu nehmen, ich nehme aber nicht Platz, bleibe stehen, während sie sich mit meinem Anliegen auf die Suche begibt. Ich sehe mir in den Vitrinen Miniaturen an, Modelle kleiner Hirnscanner vielleicht, hübsch, vielleicht auch nicht, ein Mann kommt, »werden Sie schon bedient?« und »Nehmen Sie doch Platz!« und »weite Anreise? Stau? A3?« Er verschwindet.
Das Fräulein kommt zurück, ob ich denn angemeldet wäre, normalerweise wüsste sie das, ich zeige ihr die Karte, die man mir zugeschickt hat, ja die wäre von der Kollegin wohl, die wäre aber nicht da, oder nicht mehr da, es wäre ja gleich vier.
Wir gehen eine enge Treppe hinauf, ich und das Fräulein hintereinander, freundlich ist sie ja, doch ohne echte Hoffnung auf gewisse Dinge, die wir unbemerkt in den schlecht beleuchteten engen Gängen zwischen den noch schlechter beleuchteten und noch engeren Büros tun könnten, hinter überladenen Schreibtischen, Kopierern oder Aktenschränken.
Wir betreten ein Zimmer voller Zimmerdamen, von denen eine mich übernimmt, mich beim Namen nennt, meine Karte kopiert. Ich unterschreibe etwas, Stempel, dann Rückübergabe an mein Fräulein. Das telefoniert, es geht um mich, man begreift endlich, dass ich gänzlich falsch bin, ich müsse zum Institut, »ich dachte, das wäre hier ...«, sage ich, freundliches Lächeln, »ja schon, aber nicht dasselbe«, es komme selten vor, dass sich wer hierhin verirrt, der Publikumsverkehr, der wäre am anderen Ende vom Gelände, das Hirnbegleitschreiben bekäme ich dort ausgedruckt, erst mit dem könne ich zum Scannen.
»Waren Sie denn noch nie dort?«
Ich verneine, beim Institut?
»Beim Institut«, sie erklärt, dass ich in der Materialverwaltung gelandet sei, wie ich das nur geschafft habe, nicht da, wo man normalerweise hinkäme, und sie schlägt mir eine Abkürzung vor, wie ich fahren soll, durchs alte Werksgelände, über die Brücke, gegen die Einbahnstraße, niemanden umfahren, sie lacht, vor den Gleisen rechts, da wäre es, ich könne auch zurückkommen, nochmals fragen ...
Ihre unverklärten Augen, auf meine Hand, dann auf meinen Mund gerichtet, auf mein Innerstes, auf etwas von mir, das schon ausreichen täte, sie oder etwas von ihr zu befriedigen. Ihre Augen schließen sich wie für immer, als sie mich verabschiedet.
Ich fahre also gegen die Einbahnstraße durch ein mächtiges, kameraüberwachtes, aber offen stehendes Rolltor ins Werksgelände, eine ehemalige Eisengießerei, deren Überreste die Gesellschaft aufgekauft hat. Überall Container unterschiedlichster Größe, alle voll klimatisiert, die meisten stehen gestapelt in offenen, verrußten, in die Jahre gekommenen Ziegelhallen, und ich ahne, dass das alles Datenspeicher sind. Dass in diesen Containern die Seelen der Unsterblichen lagern.
Ich verfahre mich erneut. Ich bin das erste Mal hier, ich habe das alles noch vor mir, noch keiner der Container hier enthält ein Bewusstsein von Thomas Vanderra. Wie aber kann es sein, dass sich ein Wildfremder in einer so sensiblen Anlage frei bewegen darf? Wird das Fräulein Ärger bekommen. Oder träume ich?
Verirre ich mich, weil das alles hier nicht real ist?
Ich erinnere mich, einen Arbeiter entdeckt und ihn nach dem Weg gefragt zu haben. Daran erinnere ich mich.
Ich fahre weiter, werde von einem Security-Mann aufgegriffen, der mich zur Ausfahrt schickt, zu irgendeiner Ausfahrt, die keine hundert Meter entfernt plötzlich auftaucht, und ein Pförtner, und noch einer, man ist unschlüssig, was will der (ich) hier?, man lässt mich raus, und schon bin ich wieder in der Normalrealität, Landstraße mit gelben Schildern.
Ich gebe Gas, jetzt wird es aber Zeit, irgendwo muss doch mein Ziel sein!? Ich frage mich, wie es angehen kann, dass die Gesellschaft jederzeit weiß, wo ich bin, ich aber nicht, wo die Gesellschaft ist?
Weil Reinkarnation nur in einer Welt funktioniert, in der der Tod nicht mehr unbemerkt geschehen kann, antworte ich mir. Und: Du hast es so gewollt!
Schließlich finde ich tatsächlich Hinweisschilder, so überdimensioniert groß, dass ich nicht begreife, wieso ich die übersehen habe, und dann das Institut: eine mittlere architektonische Katastrophe aus Stahl und Glas am anderen Ende des namenlosen oder namenvergessenen Gewerbegebiets hinter der namenlosen Stadt, umgeben von Blechfassadenschachteln und winzigen Zierkoniferen, und, ach ja, da sind also die Parkplätze. Als ich die Autotür zuwerfe, sehe ich paar Straßen weiter, im Dunst fensterloser Hallen, den Erotik-Markt-Pylon. Ich bin im Kreis gefahren.
Das futuristische Foyer des Instituts ist aus Glas und gefüllt mit Menschen, tropischen Gewächsen und einer subtilen, uns tragenden Musik. Wir könnten auch alle nackt herumlaufen, so warm ist das mitten im Winter, und wir sind ganz schön viele, die wir heute gescannt werden, ich fühle mich wie zurückgekehrt und weiß aber nicht wohin. Der Garten der Unsterblichen, die ganz normale Wie-du-und-Ichs sind, sogar Familien mit Kindern, die sich hier zum Scannen treffen und in der Betriebsamkeit eines Flughafens darauf warten, aufgerufen zu werden. Es gibt mehrere Anmeldecounter, ich gebe an einem meine Karte ab, bekomme den Hirnbegleitschein ausgedruckt, denke an das Fräulein zurück und wieder assoziiere ich 'Sylvie', das Fräulein hatte ausgesehen wie sie, aha, denke ich, wer ist Sylvie?, frage ich mich, was gaukelt mir mein Kopf da vor, ich kenne keine Sylvie und vielleicht bin ich auch nie diesem Fräulein begegnet, es ist, als wäre das alles gar nicht passiert, die ganze Irrfahrt bis hierher, kann das sein?
Ich schaue in die Höhe, weit oben eine gläserne Kuppel, und zwischen Palmwedeln und Schlingpflanzen hängen riesige Flachbildschirme, wie frei schwebend, die zeigen Kurzfilme und Werbung, und überall Holzbänke, Liegen und etwas zu trinken. Aber ich bin auf Termin hier, alle sind wir auf Termin hier, niemand muss wirklich lange warten, alles bestens organisiert, die Geschäfte mit dem Ego-Scan gehen gut, und gleich komme ich in die Röhre.
Die Röhre, die gar keine Röhre ist, die sich auf einen seltsamen Helm beschränkt, wie eine Krone, die dir eine NTA aufsetzt, was Neurologisch-Technische Assistentin heißt, eine nach innen gestülpte Krone, deren Zacken sich durchs Haar bohren bis auf die Kopfhaut, in die sie vorher ein kühlendes Gel einmassiert hat.
Noch vorher hat dir ein Fließbanddoktor - weil du das erste Mal hier bist - ganz automatisch auch eine kleine Menge Hirngewebe entnommen, so routiniert, dass es nicht einmal beim Denken gestört hat. Ein winziger Bohrer hat sich, während er noch mit dir sprach, unbemerkt durch deine lokal anästhesierte Schädelplatte geschraubt, ist eingedrungen bis ins Hirn, aus dem eine durch diesen Bohrer geführte nanometerdünne Sonde ein paar Zellen absaugte. Und du hast nichts davon gespürt und hätte er dich nicht darauf hingewiesen, du würdest gar nicht wissen, dass sie aus diesem entnommenen Gewebe neuronale Stammzellen extrahieren werden, die man mit manipulierten Viren impft, sogenannten 'Adenoviren', die das Nervenzellenwachstum anregen, mithilfe eines Hormons, das man wiederum aus einem Pilz gewinnt und das das Wachstum von Dendriten und Axonen antreiben soll, jenen Verbindungsstraßen, die das Denken ermöglichen, sodass fortan auf der Körperseite (und nicht Geistseite, aber was ist schon Geist?) irgendwo unter den idealen Bedingungen eines medizinischen Labors - oder vielmehr einer riesigen, für Millionen Gehirne ausgelegten Neuronenbank - für dich nun ein persönlicher Zellpool gezüchtet und eingelagert wird, dauerhaft am Leben gehalten in einer temperierten und sauerstoffversorgten Nährlösung, und fortan diese Biomasse der Grundstock für dein potenzielles Ersatzgehirn sein wird. Neuronale Stammzellen, die, falls man ein (dein!) abgestorbenes Gehirn wiederbeleben muss, als injiziertes Start-up für eine Neubesiedelung deiner Hirnrinde sorgen werden, Neubesiedelung oder auch
Invasion.
Der Raum, in dem sie dir den Helm aufsetzt, ist eine Art Verhörzimmer, aber nicht beklemmend, sondern eher angenehm, schlicht und schön, mit Holzfußboden, ein bisschen Kunst, unaufdringlich oder zurückhaltend, Stimulanz fürs Unbewusste, es ist ein schlichter, fast leerer Raum, dunkel (sind die Wände dunkel? Oder nur nicht beleuchtet?), und neben der Kunst ein Stuhl, Holz, und ein Tisch, auch Holz, darauf ein paar Blätter weißes Papier, und Stifte, und davor an der Wand ein Bildschirm. Und eine Musik (die ich mir vorher habe aussuchen dürfen), Klänge aus unsichtbaren Boxen, gute Klänge, guter Klang, obwohl ich kein Mozartfan bin, habe ich mir Mozart ausgesucht, das erste Krönungskonzert (ausgerechnet), auf einem Spinett gespielt, dazu ein angenehm sandelholziger Duft, das ganze Programm körperferner Sinnlichkeit, nichts was dir nahe geht, aber umso angenehmer in seiner Berührung, und, ach ja, einen Kaffee bekomme ich, auf dem Tisch in einer weißen Porzellanschale mit Milchschaum, ein sehr guter Kaffee, du bist perfekt für ein perfektes Backup.
Die NTA legt dir einen mehrseitigen Fragebogen hin. Eine umfangreiche Erhebung der Dinge, die dich am meisten interessieren würden, würdest du nach vier Wochen von einer einsamen Insel zurückkehren. Du kannst wählen, ob sie dich interviewen soll, oder ob du die Fragen alleine beantworten willst. Man lege eine Akte an, erklärt sie dir, in der du deine nahe Zukunft so gut wie möglich einengst auf das Wahrscheinliche. Was hast du in den nächsten Wochen vor etc., es sind doch nur vier Wochen bis zum nächsten Mal, oder? Sie verspricht dir, dass alles, was du aufschreibst, unter euch bleibt, Datenschutz etc., und dass die Unterlagen in einem Ordner gesammelt werden, den man, sobald du gescannt bist, mit einem Siegel verplombt. Es gehe wirklich nur um die nächsten vier Wochen, die maximale Zeitspanne, an die du dich im Falle deines Todes nicht erinnern würdest: Was werden Sie lesen, welche Filme wollen Sie sehen, interessieren Sie sich für Politik oder Malerei, und wenn ja, welche? Sport? Fußball, nein, nein, aber Wissenschaft, immer gerne, Teilchenbeschleuniger und Kosmologie, und welche Zeitschriften? Papier oder analog, und treiben Sie Sport und welche öffentlichen Räume suchen Sie auf und an welchem Projekt arbeiten Sie gerade, Sie sind doch Architekt? Während du deine Zukunft aufschreibst, führt die Assistentin dich so geschickt und routiniert durch die Fragen, dass du gar nicht auf die Idee kommst, über diese Zukunft ernsthaft nachzudenken.
Beim Ausfüllen eines separaten Bogens für wichtige Passwörter schaut sie betont weg. E-Mail, Handy und Konto, dieses Blatt kommt in einen Umschlag, den sie verschließt und mit einem Lackstift versiegelt. Anschließend nimmt sie den Fragebogen und alle Unterlagen an sich und lässt dich allein. Der Helm ist schwer, und die Sonden, oder was immer dich darunter piesackt, lösen ein eigenartiges Kribbeln aus. Die Maschine arbeitet also bereits. Der Wachscan hat begonnen. Aber der eigentliche kommt erst noch. Man wird mich anschließend in ein Schlaflabor bringen, das noch immer so heißt, obwohl man doch behauptet, aus der Laborphase längst raus zu sein. Ich stelle mir ein Krankenhausbett vor und mich selbst vollgestöpselt mit Geräten, und natürlich werde ich auch da den Helm tragen, denselben, klopf, klopf, klopf, aber das sollte ich besser lassen. Ich werde mich in die Hände eines Psychologen begeben, eines Schlafhypnotiseurs, man wird mich gleich hypnotisieren, hat die NTA gesagt, auf die sanfte Art, der Psychologe sorge nur dafür, dass man nicht ewig warten muss, bis ich einschlafe, trotz allem muss die Gesellschaft wirtschaftlich arbeiten. Ich werde hier nicht übernachten, aber ich werde bis zum Erreichen des traumlosen Tiefschlafs dort bleiben. Bis mein Gehirn nur noch Delta-Wellen aussendet. Und dann werde ich richtig gescannt. Komplett. Thomas Vanderra in der Sekunde Null. Das muss im Schlaf geschehen, technisch ist es zwar auch im Wachzustand möglich, ein Eins-zu-eins-Abbild des Gehirns zu erzeugen, aber im Falle einer Reinkarnation sollte man unbedingt mit dem Bewusstsein erwachen, zuvor eingeschlafen zu sein. Mich wach zu scannen hieße, mich im Falle meines Todes und einer anschließenden Reinkarnation von einem Wachmoment übergangslos in einen anderen Wachmoment zu schleudern. Was das Gehirn überfordern würde, traumatisieren, bis hin zu epileptischen Abfällen, und irreversiblen psychischen wie organischen Schäden. So die Theorie. Der vorhergehende Wachscan bildet zwar die Basis des Backup, er erzeugt den über das Jetzt-Empfinden hinausgehenden Gesamtstaus, und er soll im Fall des Falles die Reinkarnation mit der richtigen Grundierung unterstützen, Feuer frei über die Sonden der Dornenkrone. Was nur dann funktioniert, wenn man so einem wiederbelebten Zellklumpen obendrein noch eine Seele einhaucht, was wiederum mittels des Scans geschieht, des Scans dessen, was einen ausmacht, im Kopf.
Seele?
Mittels eines aus den gescannten und gespeicherten Daten erzeugten Magnetfeldes würden die vorhin entnommenen und kultivierten Zellen bei einer Neubesiedelung gezwungen werden, sich das tote Gehirn auf eine ganz bestimmte, individuelle Art einzuverleiben, es gewissermaßen systematisch aufzufressen und selbst zu diesem Gehirn zu werden, sie werden morphogenetisch gezwungen, sich nach einem vorgegebenen Plan zu entfalten, zu teilen und zu vernetzen, Axone und Synapsen zu bilden und so weiter. Der Begriff Magnetfeld ist dabei unzureichend, es ist ein zig Billionen Informationen umfassendes virtuelles Strukturgebilde, das man 'Morphocerebrales Feld' nennt. Und das dafür sorgt, dass die Hirnneubildung exakt in der Form geschieht, wie dein Gehirn zu dem Zeitpunkt gewesen ist, als es gescannt wurde.
Aber noch sitze ich in dem Wachraum, noch bin ich ich, Thomas Vanderra, der noch nicht schläft, der alleine einen Film schaut und den Kaffee trinkt, und die Maschine über ihm summt und macht interessante Geräusche, die an die Innengeräusche startender Flugzeuge erinnern, das Summen und Klingen und die sanften, dumpfen Stöße beim Einfahren der Landeklappen, und der Film ist nichts Aufregendes, aber einer zum Wohlfühlen, du hast dir 'Drei' von Tom Tykwer ausgesucht. Der Film läuft ohne Ton, stattdessen Mozarts Spinettmusik, das ist Absicht, du sollst dich nicht zu sehr darin verlieren, aber du kennst die Geschichte der Drei, die sich am Ende lieben, eigentlich den ganzen Film hindurch, zwei Männer, eine Frau, und dann denke ich doch an Franka, obwohl ich mir vorgenommen habe, beim Backup meines Geistes jeden Gedanken an sie zu verdrängen. Obwohl ich mir vorgenommen habe, mich nicht an sie erinnern zu müssen, im Falle, dass. (Was natürlich nicht geht, du weißt das!)
Für einen Moment scheint mir die Gegenwärtigkeit des Raums nicht real, die Situation wird zur Szene, verliert sich in etwas Vorgestelltem, wie eine aufgerufene Erinnerung, wie es unter dem Scanner gewesen WAR oder eine auftauchende Ahnung, wie es dort sein KÖNNTE: Ich nehme einen gelb leuchtenden, halbtransparenten Ballon über mir wahr, futuristisch, und der Ballon ist verbunden mit dem Helm, den ich noch immer trage, in dem sich unzählige heiße Nadeln in meinen Kopf gebohrt haben, durch die Kopfhaut, durch den Schädelknochen bis ins Hirn, so haben sie gesagt, die Ärzte, aber, nein, das stimmt nicht, nicht durch die Knochen, nicht einmal durch die Haut, es käme nur auf eine perfekt gleichmäßige Verteilung an, und die Sonden sind mikroskopisch dünn, so fein, dass sie nicht mehr wehtun als Mückenstiche. Wie tausend Mückenstiche, die sich in einer Art Flächenbrand verlieren, nein, kein Brand, nur ein Brennen, und dank der juckreizhemmenden Salbe, die einem das Haar verklebt, ist das Brennen eine fast angenehme Wärme, angenehm, wenn man warmen Kopf mag. Und dieser Helm ist über ein langes, an deiner Schulter fixiertes Datenkabel mit dem Ballon verbunden, dessen Leuchten - aber das kann man sich auch einbilden - pulsiert. Mir wird plötzlich bewusst, dass das tatsächlich nicht real ist, nicht physisch real, sondern nur in meinem Kopf stattfindet. Ich träume, einen Wachtraum zu haben, ich bin vielleicht auch wach und erinnere mich an mein Backup, doch die Erinnerung ist so unglaublich klar, dass man in sie hineinfallen kann, dass man vergessen kann, dass dies hier längst geschehen ist.
In Wahrheit habe ich den Tod schon hinter mir, in Wahrheit liege ich in einem Krankenhaus, in Wahrheit bemüht man sich längst um meine Reinkarnation. Bei der etwas schiefgelaufen ist, ich erinnere mich, ich war nicht mehr ich, oder träume ich auch das?
Alles Schein, denkt Thomas, sogar das Reale ist nur Erscheinung der Welt in dir, und mit diesem Gedanken löst sich das Gefühl, auf der Intensivstation zu liegen und zu träumen oder sich zu erinnern, wieder auf, und du unterwirfst dich wieder voll und ganz der scheinbar aktualen Gegenwärtigkeit des Momentes deines ersten Backups. Helm und Film.
Vielleicht ist das Pulsieren des Helms auch überflüssig, denkst du, diese ganze futuristische Aufmachung, angefangen in der großen Empfangshalle, die sphärische Musik in den Gängen und Aufzügen, dem Innendesign cineastischer Raumschiffe nachempfunden, alles wirkt wie ein inszenierter Blick in die Zukunft. Die Gesellschaft ist eine private Gesellschaft, die - von staatlichen Fördergeldern abgesehen (und die sind, wie man hört, gigantisch) - Umsatz machen muss. Mit Theater, Schein und einem pulsierenden Ballon. Und anschließender Tiefenhypnose. Dass die Essenz unserer Gehirne anschließend in abbruchreifen Ziegelhallen des vorvorherigen Jahrhunderts gelagert wird, das braucht niemand zu wissen.
Aber das Pulsieren dient auch der Sichtbarmachung des eigenen Thomas'schen Hirnrhythmus'. Meiner Aura. Franka hat das Wort gern benutzt. Aura. Franka mit ihrem Hang zum Esoterischen. Und dass die Seele etwas Originäres, Unitäres sei, eine nicht verhandelbare kleinste Einheit. Und dass man ein Individuum (eben seine Seele) nicht duplizieren kann. Oder scannen. Dass da etwas ist, etwas Göttliches, und jedes Menschen Seele ein Atom Gottes. Nicht des Kirchengottes, Franka hat nicht 'Gott' gesagt, aber etwas in der Art gemeint, jede Seele ein Atom eines esoterisch pantheistischen Bewusstseins. Weswegen sie das jedenfalls niemals machen werde, was ich hier mache, und was ein Streitthema war. Hat sie mich deswegen verlassen? Weil ich nicht an die Seele glaube? Hält sie mich für einen Menschen ohne Seele? Nichts Seelenhaftes in dir, findet sie, nichts Seelenhaftes, das je aus dir herausfand. Du, Thomas, bist ein Seelenloser, hat sie gesagt, ja, Franka, bin ich, bin einer, dem es nichts ausmacht, diesen Seelenersatz, der 'Hirnstrom' heißt, in einem Computer abbilden zu lassen. Aber ich sollte und wollte doch gar nicht an Franka denken, und ich habe das längst überstanden, und eigentlich gibt es da nichts zu überstehen, die Sache ist vorbei, sie hat einen anderen, na und? Sid.
Auf dem Bildschirm holt soeben Adam, der schon mit Hanna angebändelt hat, ihrem Freund Simon einen runter. Im Schwimmbad. Würde ich mir von Sid einen runterholen lassen? Heimlich? Ohne, dass Franka ...? Oder in ihrem Beisein? Vor ihren Augen? Nein, weder noch, darüber muss Thomas fast lachen, nein, das geht nicht. Ich kann nicht mit Männern. Jedenfalls nicht so. Wie, so? Wie sonst? Und warum denke ich, während die Gesellschaft meine Gedanken liest, an Sid? Der sie mir weggenommen hat. Was nicht stimmt. Warum denke ich an Franka? An diese Scheiße, die längst vorbei ist?! Thomas, denkt Thomas, Thomas, denk an was anderes, etwas Positives, du willst doch nach deinem Tod nicht mit Franka im Kopf erwachen?
Und denkst an diese Situation, als die beiden dir im 'Sissikingkong' über den Weg gelaufen sind? Neben dem Klo fast aneinander gerempelt und sich erschrocken und betont freundlich geben und sich in Wahrheit ankotzen wollen. Sid hatte dich ankotzen wollen. Oder du ihn. Aber aufgeklärte Menschen tun das nicht. Sie reden. Franka, wie es meiner Mutter gehe, und ich, wie ihrer Tochter (für die nun Sid den Vater spielen darf, aber das zu denken, ist hässlich - ihm gegenüber oder dir selbst). Und Sid uns beide mit den Augen eines Habichts abtastend ... an so was zu denken, wenn man mich wiederbelebt?
Ich habe nicht vor, zu sterben. (...). Ich brauche den Scan nicht. Ich werde noch viele Backups machen, und mit jedem neuen Backup werden meine Erinnerungen an Franka weniger werden, die Wahrscheinlichkeit, nach meinem Tod mit solchen Gedanken wiederzuerwachen, geringer. Oder soll ich mir vor Liebeskummer etwas antun, nur um anschließend wiedererweckt zu werden? Mit diesem Gedanken, der da heißt Franka?
Wie lange dauert das hier noch? Und: alle vier Wochen? Mindestens, sagen sie, besser alle zwei, oder wer es sich leisten kann, jede. Im ungünstigsten Fall stirbt man kurz vor dem nächsten Scan, und dann müssen sie oder muss man vier Wochen fehlende Erinnerung aufholen, ich aber werde mir die vier Wochen kaum leisten können, Unsterblichkeit macht arm. Was ist, wenn ich vor Armut verhungern muss? Was aber nicht ginge, da ich auch bei Hungertod wiedererweckt würde? Eine
Millionen tun es inzwischen, in diesem Land leben mittlerweile eine Millionen Unsterbliche, so unsterblich, wie ich unsterblich in Franka verliebt war, verliebt, verliebt, was ist das eigentlich, wer ist Franka, und wer, vor allem, bin ich? Es heißt, man soll sich sein Leben, den Alltag und alles, was gerade wirklich wichtig ist, während des Scans vergegenwärtigen. Man soll es sich aufrufen, vor die innere Leinwand, und ob denn ein Film dann nicht störe, frage ich, aber das wäre nicht so, man würde beim Filmeschauen träumen. Träumen?, ja, Tagträumen natürlich, möglichst waches Tagträumen.
Im Abspann bleibt der Anblick der schwangeren Hanna in meinem Kopf kleben, nackt zwischen zwei sie liebenden nackten Männern. Das Bild brennt sich fest in mich und meinen Backup ein und bedeutet Teilen oder neues Leben oder eben: Wiedergeburt.
Doch dann stockt der Film. Der Film und / oder mein eigener. Als gäbe es nichts danach. Statt weiterzuleben, weiter zu erleben, erinnere ich mich bloß. Alles Wahrnehmen hat plötzlich eine andere gegenwartslose Qualität, das Gefühl von Hier und Jetzt ist verschwunden, und meine ganze Aufmerksamkeit gilt dem Fischen in Gespeichertem, ich weiß nicht einmal mit Gewissheit, ob ich den Scann gerade eben erst erlebt habe, oder vor langer Zeit. Ob die Bilder des Abspanns, die ich mir so wortwörtlich hautnah erlebend gerade noch vergegenwärtigt habe, tatsächlich gegenwärtig gewesen sind.
Ich erinnere mich. Jetzt, im Moment. Nur Erinnern, kein Erleben. Bzw.: Erleben von Erinnerung.
Ich erinnere mich an das Vorher, den Tag, das Mittagessen, bevor ich losgefahren bin, die vegetarische Pizza bei dem stets schlecht gelaunten Italiener (du magst ihn trotzdem), ich erinnere mich an eine Grundhaltung guter Dinge an diesem Tag, an eine neugierige Beschwingtheit, sogar während des eher unangenehmen Termins am Vormittag, da war was mit einem Bauherrn, der unser Honorar nicht zahlen wollte, und statt Chef sollte Thomas das klären, weil Chef solchen Gesprächen aus dem Weg geht, weil er feige ist oder auch: ihm egal. Erinnerung an den Kaffee bei diesem Bauherrn, der bitter schmeckte, aber auch, dass es frische Milch dazu gab, nicht diese Kaffeesahneportionsdöschen, was ungewöhnlich ist, und die nette Sekretärin, die dir sogar die Hand geschüttelt hat, ihre Hand war warm gewesen, das war dir aufgefallen, du hättest sie gerne eine Sekunde länger festgehalten, aber, na ja, du weißt schon; und auch weiter zurück ist alles präsent, das zweite Frühstück im Büro, das aus einem belegten Brötchen (Tofu) vor dem Computer bestand, und davor bist du mit dem Auto zur Arbeit gekommen, ausnahmsweise nicht mit dem Bus, weil du doch anschließend ins Bergische musstest, und du erinnerst dich eine Art Unruhe oder Vorfreude auf diesen Tag, schon beim Aufwachen, Vorfreude auf diesen Moment, wo ein Computer mein Bewusstsein duplizieren soll (ja, ich habe mich wirklich auf meinen ersten Scan gefreut!), und du erinnerst dich an die Nacht davor (meine letzte Nacht Zuhause?), sogar, dass ich was geträumt habe, weiß ich noch, nur nicht mehr was, aber dass es intensiv gewesen war, auf irgendeine melancholisch schöne Art schwer.
(Meine allerletzte Nacht Zuhause?)
Und wieder erscheinen mir die Bilder von der Fahrt nach Neustadt, Neustadt im Bergischen, diese diesige, der Zeit entrückte Januarlandschaft, die Frau auf dem Parkplatz, die mich an Sylvie erinnert hat, und mir beim besten Willen keine Sylvie einfällt, die ich kennen könnte, und diese junge Frau, als ich mich in die Verwaltung verirrt hatte, die ich 'Fräulein' getauft habe, ein Gedankenspiel mit mir selbst und ihr als Hauptperson, ich erinnere mich an erotische Fantasien, die ich eindeutig als Fantasien identifiziere, Erlebtes und Erdachtes ist sauber voneinander abgetrennt, überhaupt alles Erscheinen ist so klar und präsent, wie Erinnerungen klar und präsent sein können, auch wenn sie belanglos sind, belanglos gegen die eindringlich exotische Atmosphäre in dem Raum, der Helm, das Interview, meine Antworten zu meinen Vorstellungen von meiner Zukunft, so klare Erinnerungen an dieses Gefühl großer Wachheit und Gegenwärtigkeit. Und der Film, die drei sich Liebenden am Ende, die eigenen Empfindungen dabei, und dann? Zum Ende des Films kam die NTA und hat dich hinausbegleitet? Kam sie? Oder war es der Psychologe gewesen? Hat er dich zum Hypnotisieren geholt? Und du bist im Schlaflabor eingeschlafen und dann hat man dich gescannt? Das war dann der eigentliche Scan gewesen, von dem du nichts mitbekommen hast, so tief geschlafen in der Hypnose, und du hast anschließend weitergelebt, dein ganz normales langweiliges Leben etc.? Nein, es war nicht der Psychologe, es war die Assistentin, die dich aus dem Wachscan abgeholt hat, an den Hypnotiseur kannst du dich überhaupt nicht erinnern. Nein, auch nicht an sie, nicht einmal an sie wirklich, überhaupt nicht an wen auch immer, der dich nach dem Film geholt hat.
Plötzlich taucht ein Bett auf deinem Wahrnehmungsschirm auf, und das Gefühl, darin zu liegen; aber wie bist du hineingekommen? In das Bett? Nimmst du ein Bett wahr, in dem du JETZT liegst? Die Stimme eines Mannes, die etwas in dir auslöst, ist das die Hypnose? Aber noch immer bist du hellwach, so wach, dass du glaubst, du ertappst dein Gehirn dabei, wie es versucht, dir eine falsche Ersatzerinnerung aufzuspielen. Die du anzweifelst, hast du die Worte wirklich gehört? Oder anders gefragt: Kannst du dich an die Worte des Hypnotiseurs vor dem Scannen erinnern? Oder ist das eine Erinnerung, von der du zugleich weißt, die ist nicht echt?
Echt! Was ist echt? So sehr du dich auch bemühst, irgendetwas von den Momenten NACH dem Tom-Tykwer-Film abzurufen, das Schlaflabor, die Hypnose, und sei es nur eine einzige Sekunde, oder auch nur eine sich öffnende Tür, ein Schlussakkord in der Musik, ein letzter Schluck Kaffee, da ist nichts. Du warst so klar, und dann?
Und: Wie lange ist das schon her?
Steht dein Auto etwa immer noch dort?
Was ist mittlerweile alles geschehen?
Lieber Gott, was war nach dem Scan?
Was war nach dem Scan?!
WAS WAR NACH DEM SCAN???