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Die Therapiegruppe
ОглавлениеDie Tage in der Rehaklinik sind gefüllt mit Programm. Die meisten Anwendungen rein körperlich (sozusagen), Gymnastik, Fango, Moor, Massage, außerdem Lungentraining mit Nebelbädern und einem Gerät, in das ich hineinblasen soll, aber auch eine Therapie, bei der ich mehrere Infusionen gleichzeitig bekomme, die das Nervenzellenwachstum anregen sollen. Außerdem hat man dir Einzelgespräche mit einem Psychologen verordnet, mit einem, der dich reden lässt, was heißt: schweigen. Nach zwei stillen Runden stellt er fest, dass du bei einem Kognitionstherapeuten besser aufgehoben wärst, und überstellt dich an einen, der mit dir das gleiche macht wie Karina in der Unfallklinik. Erinnerungen wälzen, Erinnerungen einstudieren, Jörg, so heißt er, ist da ganz pragmatisch. Man könne sich Erinnerungen auch antrainieren, ohnehin stimmten Erinnerungen nur sehr bedingt mit wahren Begebenheiten überein, es gäbe genug Untersuchungen, die belegen, dass der Mensch sich sein Gedächtnis schönrechnet. Wenn ich das erst mal akzeptiert hätte, dass ich mich sozusagen von außen nur neu programmieren müsse, dann käme die Verinnerlichung von ganz alleine.
Und wenn ich ihm erzähle, dass ich Erinnerungen habe? Nur ganz andere als die, die Leon gehören?
Franka mitteilen wollen, dass ich noch lebe. Eine Verwechslung, im falschen Körper, aber ich lebe noch!
Und dann? Wird sie mir um den Hals fallen?
Du stellst dir vor, wie sie um dich trauert. Jetzt, wo du tot bist, begreift sie, wen sie verloren hat. Und dann so ein Anruf: Ich lebe noch!
(Thomas ist nicht tot! Du weißt das!)
(DOCH!)
(Und vielleicht gefalle ich ihr in meinem neuen Körper viel besser?)
Vergiss Franka.
Leons Erinnerungen suchen dich manchmal heim; noch bevor du zum ersten Mal heimfährst. Erinnerungen, die sich deine Eltern nennen, die manchmal auftauchen und dich fragen, wann du dein erstes Wochenende zu Hause verbringen wirst.
Dein neuer Vater ist ein pensionierter, aber kraftstrotzender Ministerialbeamter, und deine Mutter sein devotes Vollversorgerweib. Du nimmst wahr, dass er zwar irgendwie stolz ist auf das, was du in deinem Leben so geschaffen hast, eigene Firma, eigenes Haus etc., aber er wird immer auch ein bisschen verächtlich, wenn er auf den Direktvergleich mit sich selbst kommt. Du findest heraus, dass Leons Vater Einwanderer aus Jugoslawien ist, und dass er Kinderarzt war, den Titos Tod und eine damit verbundene Vorahnung einst nach Deutschland getrieben haben. Anfang der 80er war das; kurz vor oder kurz nach Leons Geburt, und ruckzuck eingebürgert, sein Deutsch ist perfekt (fast). Diese Mutter, die, die dich und alles und jeden bemuttert, sie muss er da schon eine Weile gekannt haben. Sie stammt nicht aus Jugoslawien, sondern aus einem Sauerlandstädtchen, dessen Namen du wieder vergessen hast, unwichtig, aber die Verheiratung mit ihr dürfte die väterliche Einbürgerung damals erleichtert haben.
Wenn sie da sind, gehe ich in Deckung. Rede kaum, lass sie reden, vor allem ihn, was gut funktioniert, er redet gerne und sie bleiben nie lange. Sohn tot gewesen, na und? Heutzutage ist das ein Klacks.
Dein eigener Sohn ist dir ein fremdes Kind. Sylvie bringt ihn oft mit, er soll seinen Vater nicht verlieren, sie sagt tatsächlich »verlieren«, aber wäre Sylvie nicht immer dabei, es wäre ein gruseliges Anschweigen mit ihm.
Und wenn ich alleine bin, versinke ich in meinem Potpourri aus Selbstzweifeln und Verzweiflung. Wie konnte es zu so einer Verwechslung kommen? Wieso steckt man mich nach meinem Tod – nein, schlimmer: Wieso steckt man mich ohne Tod in den falschen Körper? Wer hat da was vertauscht in den digitalen Tiefen der Gesellschaft? Und: Kommt das öfter vor? Du suchst - ich habe ja meinen Computer - im Internet nach Vergleichsfällen, aber die Suchmaschinen liefern kaum Antworten und wenn, dann auf Webseiten, die auch die Mondlandung infrage stellen. Auf einem Diskussionsforum mit dem Header 'Geboren im falschen Körper' finden sich Männer, die in Frauenkörpern leben und umgekehrt, soweit ist es zum Glück bei dir nicht gekommen. Zum Glück? Wäre das dann nicht auch egal?
Du rufst noch einmal jene Seite auf, auf der du einst den Artikel über das Live-Watching gelesen hast. Das Onlinemagazin hat mittlerweile eine eigene Rubrik eingerichtet, die sich mit der Gesellschaft kritisch auseinandersetzt. Teilweise durchaus seriös argumentiert, du findest sogar einen kurzen Artikel über Missbrauch von Körpern bei der Reinkarnation, in dem du jedoch nichts Neues erfährst, der Autor bleibt im Konjunktiv und spricht lediglich über die potenziellen theoretischen Möglichkeiten, die sich aus der technischen Trennung von Körper und Geist ergeben. Unter diesem Text hat sich jene Sorte Kommentatoren versammelt, die alles wissen und nichts selbst je erlebt haben, einer behauptet gar ernsthaft, dass die Gesellschaft auch Backups von den vor ihrer Gründung Verstorbenen erstellen würde, mithilfe des universellen Gedächtnisses der Materie, welches der Kommentator als 'Meta-Homöopathie' bezeichnet, und der lebende Beweis dieser These sei, dass er die Reinkarnation von Jesus von Nazareth getroffen habe, den die Gesellschaft mit dieser Methode wieder zur Welt gebracht hätte. Um an ihm, also dem wiederauferstandenen Jesus Christus, gewisse Experimente durchzuführen - und der wäre aber entflohen und lebe nun im Untergrund usw. usf.
Ich könnte mich anonym bei diesem Forum anmelden, meine Geschichte erzählen, fragen, ob andere das auch erlebt hätten, und dann: Was genau ist meine Geschichte? Wenn, woran bin ich eigentlich gestorben? Und wenn nicht? Ich, also, ich, Thomas Vanderra, bin ich? Ich könnte vorher jemanden anrufen und fragen, einen Freund, oder noch besser: Thomas selbst!
Aber jedes Mal, wenn ich mir Thomas, den anderen Thomas, versuche vorzustellen, sterbe ich den Heldentod. Einmal ist es so arg, dass ich mich kotzend über der Kloschüssel wiederfinde. Denk nicht an ihn, beschwöre ich mich, denk nie nie nie wieder an Thomas!
Und Franka?
Franka, sich im Kreis drehen, immer wieder dieselbe fixe Idee, Franka, Franka, Franka, die ich liebe, und nicht lieben kann ich meine Ehefrau Sylvie, obwohl ich sie allmählich kennenlerne, Sylvie, und obwohl ich allmählich Leon kennenlerne, ihren Mann, es ist egal, mein Hirn klebt an Franka oder vielmehr Franka klebt an Leons Hirn wie ein Blutegel. Darüber kannst du lachen, Blutegel, das würde zu ihr passen, Franka, Franka, du hattest einst Blutegel gezüchtet, nicht wahr? Bevor wir uns kennenlernten, du mit deiner Vorliebe für skurrile Naturheilkunde, für Methoden möglichst aus dem Mittelalter oder älter, Blutegel zum Aderlass und du hast ihnen regelmäßig die Hand gereicht zum Trinken. Ich fand diese Geschichten aus deiner Jugend ekelig und zugleich faszinierend, aber ich habe deine Egel nicht mehr kennengelernt: Denn als Omega geboren war, hattest du dich ein wenig sozialisiert, und das alte Egel-Aquarium beherbergt nun weiße Mäuse für deine kleine Tochter.
Blutegel, du.
Manchmal tut dieses fremde Herz weh, physisch weh, wenn ich zu sehr an sie denke, Franka ist die verlässlichste Station auf meinen Drehungen um mich selbst. Bzw. auf Frankas Umkreisungen des Planeten Leon, Franka ein Unknown Flying Object, ein dunkler Mond, heimlicher Trabant, und mit Omega hattest du ein quasi eigenes Kind, genauso unleiblich, wie du nun Vater eines eigenen Sohns bist. Eines halb erwachsenen Sohns, den du nicht kennst.
Ich erfahre, dass ich nicht nur Zimmermann bin, sondern auch als Musiker in einem Orchester spiele, einer Art experimentell-avantgardistischen Big Band, die sich 'The Dorf' nennt, außerdem habe ich nun Fußball zu mögen und überhaupt sehr extrovertiert zu sein, wenn nicht sogar impulsiv, wenn ich nicht auffallen will.
Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht darf Leon sich auch verändert haben. Durch den Unfall. Ich erinnere mich an einen verspielten jungen Pudel aus meiner eigenen Kindheit, der sich nach einer schweren Kopfverletzung in einen in sich gekehrten, den Mond anheulenden Melancholiker verwandelt hat. Und trotzdem war der Hund noch immer derselbe Hund gewesen, jedes 'nicht mehr derselbe wie früher' war rein metaphorisch gemeint gewesen und nie konkret.
Das wird auch deine Strategie sein, ihnen (allen) zu zeigen (vorzumachen), dass du dich nur verändert hast, mehr nicht, und dass du immer noch der, also derselbe Leon bist, der vor vier Monaten bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.
Und wieder lande ich bei Thomas? Die neben Franka zweite Station meiner Gedankenrunden ist diese sich durch mein Unterbewusstsein bohrende Frage:
Ist Thomas gestorben?
Ist Thomas gestorben?
Nein.
Einmal gelingt es mir, für einen Moment mir das vorzustellen, wie er noch lebt. Ohne, dass mir schlecht wird. Einen kurzen Moment nur, doch kaum stelle ihn mir richtig vor, da gerate ich schon wieder in diese absurde Panik, ein Gefühl, zerrissen zu werden, oder auch: dass nicht sein kann, was nicht sein darf! Natürlich war ich tot, natürlich ist Thomas gestorben, wäre Thomas nicht gestorben, wer oder wo wäre denn dann ich?!
Also zwinge ich mich zu glauben, gestorben zu sein. Nur nicht aufgefahren in den Himmel, sondern. Und wenn Obst auch jetzt nach Scheiße riecht und ich mich ab und zu übergeben muss wie eine Schwangere, auch wenn ich vor dem Spiegel die Gesichtsmimik eines Fremden einstudiere, anhand von auf dem Rechner gefunden Fotos und Kurzfilmen, auch wenn ich mich zwingen muss, Spielstatistiken meines Fußballvereins auswendig zu lernen, oder mich dafür zu interessieren versuche, auf welchem Platz man die Saison beendet hat, oder ich herausfinden muss, wie diese schreckliche Musik klingt, die The Dorf spielt, die Leon in The Dorf spielt, und auch wenn Raumschiff Thomas nur aus der Not heraus die Sensoren auf diesen Planeten namens Leon ausrichtet, auch wenn, auch wenn, auch wenn, so werde ich doch letztlich gar keine andere Wahl haben, als mir dieses Planeten Ökologie anzueignen, um ihn irgendwann wirklich und wahrhaftig und für immer zu besiedeln. Weil nur noch Planet Leon die Welt ist. Die einzige Welt, die ganze Erde, ich kann nur zurück durch ihn. Weil, jawohl, weil mein Heimatplanet Thomas Vanderra vernichtet ist. Weil es keine Rückkehr gibt. Thomas Vanderra ist tot. So oder so.
Ein paar Mal besucht dich Pranzke, dein Werkstattmeister und seit dem Unfall der heimliche Chef in etwas, das also meine eigene Firma ist. Pranzke ist mit Sylvies Hilfe über sich selbst hinausgewachsen, und weil wir einen guten Namen haben, haben wir Stammkunden und werden weitergereicht, man bucht uns für Sanierungen von alten Häusern, da, wo es um Gebeiztes und Gedrechseltes geht, Treppenhäuser, Säulen oder verzierte Kassettentüren, und wir haben da noch einen, der das mit der Farbe gut kann. Ach ja, und Möbel machen wir. Antike oder solche, die es werden wollen - schleifen, beizen, Holzwürmer jagen. Pranzke, der Josef heißt und über 60 ist, mit langen Haaren, Pferdeschwanz, schwarz oder gefärbt, garantiert gefärbt, auch die Gesichtsbräune ist nicht echt, aber wer ist schon echt hier?, und es arbeiten noch mehr Leute für dich. Zum Beispiel einer, den Derrick nennt (der heißt doch nicht wirklich so, oder?), und außerdem ist da ein Auszubildender, für Pranzke einfach nur 'der Stift'. Pranzke fragt Dinge, die ich nicht beantworten kann. Stattdessen möchte ich mich - je mehr er ins Detail geht - unter das Bett verkriechen, aber noch einen Zusammenbruch würde ich nicht überleben (na ja). Und ich komme ja rein ins Thema, irgendwie. Architekt, Zimmerer, ist fast dasselbe, stell dir vor, ich müsste nun Elektriker sein. Oder so was.
Oder Arzt!
Helfen soll beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre die Therapiegruppe. Ein verschworener Haufen Gleichgesinnter (wirklich?): zusammengeflickte Körper aus einem Gruselkabinett, Freaks unterschiedlichster Couleurs, die nur eins gemeinsam haben: Sie sind von den Toten auferstanden. Vom Tod in ein künstliches Koma überführt, im Koma von den tödlichen Störungen wie Verletzungen oder Organausfällen geheilt, ggf. ersatzweise mit Spenderorganen, künstlichen Organen und / oder Prothesen ausgestattet, und dann das Gehirn mittels Backup restrukturiert. Und anschließend die ganze Person wiedererweckt.
Während ihr auf den Therapeuten wartet, fragt einer, wer noch Organe spendet, wenn er nicht mehr sterben muss? Tatsächlich werden kaum noch Organe gespendet, so die Antwort, vieles ist mittlerweile mit Eigen-DNA nachzüchtbar, du aber denkst an Dritte-Welt-Organhandel - und einer entwirft das Bild eines aus persönlichen Stammzellen hergestellten Ersatzkörpers: eine persönliche Replik, die in einer Garage (wahlweise Kellerraum oder 'Labor') aufgebahrt liegend auf seine Verwertung bzw. Verwendung wartet. Niemand unter euch Wartenden kennt allerdings den diesbezüglich tatsächlichen Stand der Wissenschaft, und allen medizinischen Fortschritten zum Trotz sind diese neuen Lebensabschnittsfreunde von Thomas alias Leon augenscheinliche Zombies. So meine Wahrnehmung und so gewiss auch deren Wahrnehmung von meinem Leonkörper. Irgendwer hat auf ein Pappschild 'Praxis Dr. Frankenstein' geschrieben und an die Tür zum Gruppenraum gehängt, Gelächter, während wir hineingehen, und das wie im Hals steckenbleibende Wissen, wie nah man 'Dr. Frankenstein' tatsächlich ist.
Diesseits eines den langen Raum teilenden weinroten Theatervorhangs, hier, wo therapiert wird, deutet jedoch nichts darauf hin. Holzstühle sind mit bunten Sitzkissen zu einem Kreis arrangiert, auf einem ebenfalls hölzernen Hochregal liegen zusammengerollte Gymnastikmatten und Decken und an den hellgelben, dezent grün changierten Wänden hängt nur Schönes: elektronenmikroskopische Fotografien vom Allerkleinsten und hochauflösende Computergrafiken des Größten, Strukturen und Farben biologischen Ursprungs, Bilder der Welt in ihrer Urzeitgenese sowie des gesamten Universums total. Und auf einem Sideboard stehen frische Blumen aus dem Park. Die hohen Fenster sind nach Süden hin ausgerichtet, aber die automatischen Außenjalousien lassen gerade so viel Sonne hinein, dass das Licht niemals blendet, und auch an trüben Tagen immerzu warm erscheint.
Doch statt euch in Erwartung des Therapeuten hinzusetzen und die Atmosphäre auf euch wirken zu lassen, erforscht ihr the dark side of life. Du fragst dich, ob das eigentlich gewollt ist, dass Ihr, die Therapiegruppe, euch vor Beginn der Stunde mit der Faszination des Grauens hinter diesen Vorhang begebt, um zu staunen wie die Kinder:
Denn in dem verhüllten Teil des Raums, der entweder mal ein medizinischer Schulungsraum war oder schon immer eine zu groß geratene Abstell- bzw. Gerümpelkammer ausgedienter Anschauungsmaterialien, oder auch beides, befinden sich die Auswürfe der letzten hundert Jahre Thanatologie, der Wissenschaft vom Tod, Artefakte, die nichts mit moderner Palliativmedizin zu tun haben. Sich wiederfinden zwischen zusammengeschobenen Vitrinen mit Präparaten menschlicher Organe und Knochen, an den Wänden hängen Glasrahmen mit plastinierten Körperschnitten, Wände, die hier, jenseits der Vorhanggrenze, eines Neuanstrichs noch harren. Mit den Fingern berührt ihr zaghaft die sargähnlichen Kisten, in denen verstaubte, unvollständige Skelette und mehrere, teils beschädigte Teil- und Ganzkörperplastinate lagern. Staub liegt unregelmäßig flockig auf den Exponaten, Fingerabdrücke und Wischspuren sind ein Indiz dafür, dass der Vorhang zwar die Arbeitsgrenze der Reinigungskolonne ist, hier aber regelmäßig Leute wie ihr herkommen, die keinen Staub zur Ruhe kommen lassen. Allein die Fenster, deren Lichteinfall auch hier von den automatischen Außenjalousien gesteuert wird, übermalen den theatralen Grusel mit versöhnlicher Distanz, mit einer Atmosphäre, und einer sagt: »Die haben's hinter sich.« Ob das Absicht ist, Therapie und Tod so nah beieinander, Letzterer nur durch einen dunklen Vorhang vom Leben getrennt?
Man hat sich bereits bekannt gemacht, dennoch reißen sich alle Teilnehmer routiniert ein Stück Kreppkleber von einer Rolle, die für diesen Zweck auf dem Tisch liegt, und schreiben mit einem dicken Faserstift ihren Namen auf ihren Streifen, den sie sich dann auf die Brust, sprich Sweatshirt, Trainingsjacke oder Pullover kleben. Du bist der Neuste hier und musst dich noch daran gewöhnen, dass die Namen nicht die richtigen sind, sondern man es sich zum Sport gemacht hat, möglichst originelle Nicknames füreinander zu erfinden. Originell im Sinne von makaber, wenn nicht nekrophil, die Frau, die sich neben dich setzt, als ihr eure Runde durch das Gruselkabinett beendet habt (eine obligatorische Runde, wie du heraushörst, ein Ritual, zu jeder Gruppenstunde immer wieder neu, was dich vermuten lässt, dass das therapeutisch gewollt sein muss), nennt sich zum Beispiel 'Legi', »englisch für 'Bein'«, und fügt erläuternd hinzu: »Motorradunfall, offene Beinschlagader, verblutet ...« Da ihr Originalbein bei dem Sturz bis zur Unkenntlichkeit bzw. irreparabel verstümmelt wurde, trägt sie eine multisensorische Prothese (sagt man 'trägt' zu einer zu eigen gemachten Extremität?), und zwar offen zur Schau: Ihr Minirock verdeckt kaum die Nahtstelle zwischen Haut und Hautfarben bzw. zwischen Stumpf und Schale, und das künstliche Bein ist dank Silikon oder Gummiwachs sexyer als das echte daneben. Der Rest an ihr scheint einigermaßen unversehrt, ein paar Narben wurden durch plastische Chirurgie perfekt kaschiert. Auf den Beginn der Stunde wartend erwähnt sie noch ihre neue Augenbraue, »komplett künstlich!«, nicht ohne Stolz, du solltest »mal fühlen«, wobei sie es offen lässt, ob sie Bein oder Braue meint, aber du siehst sie nicht einmal an. Was unhöflich ist. Sie legt ihre eigene Hand auf den elastomeren Oberschenkel und sagt: »Ich kann meine Finger spüren ...«, und du starrst auf das falsche Fleisch.
Sie: »... mit dem Bein! Also: Ich fühle DAMIT!«
Vielleicht doch mal ...?, aber nein. (Obwohl du neugierig wärst, allerdings nicht, wie sich das Bein anfühlt, sondern eher darauf, WIE es sich anfühlt, also WAS sie mit dem Kunstbein fühlt.)
'Bauchschuss' an deiner anderen Seite ist keiner, Namensgeber ist sein künstlicher Exodarm, der ihn anscheinend zwingt, sich immer mit einer Hand an den Bauch zu fassen, bzw. auf die unter dem Kapuzenpulli befindliche Apparatur, die man durch ein Loch in der Bauchdecke mit den Resten seines von Tumoren aufgefressenen Verdauungstraktes sowie mit seinem Blutkreislaufsystem vernäht hat. Dieses halbwegs ergonomisch geformte Kästchen - es hat ungefähr die Form einer Schildkröte - übernimmt die Aufgaben von Zwölffingerdarm, Dünndarm und Dickdarm gleichermaßen, wohingegen seine Leber (auch die im Original nicht zu retten gewesen) eine in den Körper hineintransplantierte echte Spenderleber sein soll, von einem, der sich selbst die Unsterblichkeit nicht leisten konnte. Dieses Gerät also saugt Nährstoffe aus seinem Magenausgang ab, verwirbelt, spaltet und verdünnt sie mithilfe einer eigens gezüchteten Gerätedarmflora, und transformiert die dabei herauskommenden Endprodukte durch ein nanotechnologisches Meisterwerk der Membranik in eine leistungsfähige, ebenfalls aus dem Bauch heraus- und in das Kästchen hineingezogene Arterie. 'Bauchschuss' also wegen der Körperhaltung, weil er immer so steht oder sitzt, wie von einem Projektil getroffen (und die unter dem Pulli verborgene Technik stellt man sich als herausquillendes Gedärm vor ...), 'Bauchschuss' aber auch, weil Bezeichnungen, die auf '-krebs' oder '-karzinom' enden, unerwünscht sind. Was daran liegt, dass trotz aller Fortschritte die Reinkarnationsmedizin bei Totalausfällen an ihre Grenzen stößt. Und man sich diesem ungelösten Problem nicht auf der Juxebene nähern mag. Zwar heißt der von Metastasen überschwemmte Manfred hinter vorgehaltener Hand ganz genau so: nämlich 'Metastase', aber jeder spricht ihn nur mit »Manni« an, was ihn erst recht zu einem Außenseiter macht zwischen »Legi«, »Bauchschuss«, »Schlaggi« (Schlaganfall), »Absturz« oder mir selbst, der ich auf den Namen »Lunge« getauft werde. Manni ist ein fleischloser, kahlköpfiger und mehr grün- als gelbhäutiger Mittvierziger und schon dreimal wiederbelebt worden. An dem verdient die Gesellschaft garantiert nichts mehr, und es sieht nicht so aus, als sollte es bei dreimal bleiben. Mannis Organe sind mittlerweile vollständig durch Repliken ersetzt worden, allesamt Zuchtprodukte aus seinen eigenen Stammzellen, und alle diese neuen Organe sind inzwischen ebenfalls voller bösartiger Tumore. Man sagt, die meisten Mitglieder seiner Familie, Eltern, Großeltern etc. sind an Krebs gestorben, es scheint, dass der Krebs sich schon vor Generationen bis in die tiefsten Muster seines genetischen Codes hineingefressen hat. Und seit einigen Monaten bläht sich mitten in seinem Kopf ein aggressives Geschwulst auf und droht, sein Gehirn zu vernichten, sein Gehirn, das bereits dreimal den Hirntod erlitten hat und ergo bereits dreimal wiederhergestellt worden ist. Was kann man da noch tun? Es gäbe da wohl die »andere Möglichkeit«, darüber wurde auf dem Flur geredet, aber dafür reiche Mannis Vermögen wohl nicht. Deshalb will man an ihm nur ein paar Experimente machen, bis hin zur Herstellung eines komplett technischen Körpers; so etwas wie 'Legis' Bein fürs Ganze.
Du fragst dich, was sie mit 'andere Möglichkeit' meinen, behältst die Frage aber für dich, weil dir zuallererst du selbst einfällst, und du dir also etwas Illegales, ein Kapitalverbrechen darunter vorstellst. Dass man einen anderen Menschen dazu missbraucht, um in dessen Kopf wiedergeboren zu werden. Wie du in Leon.
Der Psychologe, der fünf Minuten zu spät kommt, ist ein Belgier mit dem Namen Jan (auch er hat einen Namens-Streifen auf dem weißen T-Shirt), ein ergrauter, langhaariger Ex- oder immer noch Hippie mit flusigem Pferdeschwanz und Nickelbrille, einer, der sich als »alter Knochen seines Fachs« vorstellt. Sein »Job« sei die gruppendynamische Verarbeitung unseres gemeinsamen Traumas: unser gemeinsames Wissen, gestorben zu sein - und sich nicht daran zu erinnern. Die fehlende Todeserfahrung mache es nicht leichter, das haben wir alle festgestellt, nicht nur Thomas in Leon, jeder aus der Gruppe ist erwacht mit dem Gefühl, nur kurz eingenickt zu sein, noch immer im Institut, im Schlaflabor, die Stimme des Hypnotiseurs noch im Ohr, und dann DAS: die Schlafkontrollgeräte plötzlich ersetzt durch Lebensrettungsmedizin, der Körper voller Schmerzen, gar Lähmungen, und noch bevor man aufgeklärt wird, zu ahnen: Ich bin tot!
Gewesen.
Was jeden von uns traumatisiert habe (wieso sagt Jan »uns«?), selbst die, die das nicht zum ersten Mal »machen«. (Machen?)
»Schön, dass Sie da seid!«, sagt Jan zur Begrüßung, und es klingt wie 'Schön, dass Ihr IMMER NOCH da seid!', oder auch 'Schön, dass Ihr WIEDER da seid!'
Jan macht das zweimal pro Woche, die meisten von uns sind etliche Wochen hier, er braucht also ein Programm, kann nicht jede Stunde dasselbe machen, zugleich muss so ein Programm wie eine Endlosschleife funktionieren, denn wann wer das erste oder letzte Mal dabei ist, ist reiner Zufall, insofern muss also jede Stunde für sich funktionieren, immer etwas Besonderes sein und zugleich so tun, als würde sie an die letzte Stunde anknüpfen.
»Wir hatten letzten Mal die Freude angeschaut«, fährt er fort, »Freude, zu leben, diesen Gefühl von 'Hurra, ich lebe noch!' oder 'Hurra, ich habe überlebt!', und mit diese Worten möchte ich unsere neue Mitglied begrüßen ...«, Jan schaut dich an, auch das noch, »das ist Lu... Leon, hallo Leon ...«, er nennt mich nicht 'Lunge', er nicht.
Du hebst die Hand, aber nur halb hoch, nickst, sagst nichts.
»Leon, schön, dass du da bist, wir freuen, dass du lebst!«, sagt Jan, »und wenn du uns dein Geschichte erzählen willst, dann gib uns ein Zeichen, wir hören gerne zu, und wenn du nicht möchtest, ist genauso gut, du musst nichts sagen, einfach dabei sein, zuhören, erleben, was die Gruppe erlebt, ganz wie du möchtest ...«
Du nickst noch einmal und bringst keinen Ton raus und denkst, so schüchtern bin ich nicht einmal als Thomas gewesen, was ist nur mit mir? Wie ein verstockter Pubertierender verhalte ich mich und weiß nicht wieso?
Jans Augen verlassen dich und er erzählt mit flämischem Akzent vom Universum, von Verbindung, vom Atmen. Und dass die Wiedergeburt ein Geschenk sei usw., Franka hätte das gefallen. Dann möchte er zum heutigen Thema kommen, unterbricht sich selbst, schaut sich um, als hätte er einen Teil seiner therapeutischen Choreografie vergessen, lächelt, »anyone else, bevor es losgeht? Jemand, der etwas erzählen möchte
von sich?«
Gruppentypisches Gruppenschweigen. Nur eine kurz- und dunkelhaarige, blasse, etwas pausbäckige, kleine Frau, ungefähr dir gegenüber, die wackelt auf ihren Pobackenjeans, schiebt schließlich ihre Hände darunter, ihr Gesicht macht Anstalten, als wolle es sprechen, sie öffnet sogar den Mund, dir fallen ihre Augen auf, die dunkel und feucht sind, aber auf eine Art feucht, als wären sie das immer, wie ein überaktiver Tränendrüsenaktivismus, das macht sie zwangsläufig zu einer emotionalen, entweder leidenden oder aber mitleidenden Person. Unterstützt wird das von ihren Augenbrauen, die eher zwei Punkte sind als zwei Striche, und die sie auf eine fast hündische Art zur Stirnmitte hin hochziehen kann. Als sie hörbar Luft holt und wahrscheinlich wirklich etwas sagen möchte, hat sich Jan wieder dir zugewandt: »Und Leon, möchtest du von dir erzählen? Etwas von dir, muss nichts mit dein Unfall zu tun haben, etwas Persönliches, von dir, was du uns mitteilen magst?«
Die Frau gegenüber schließt ihren Mund wieder. Unterstützt wird ihr expressives Leiden durch ihren Namen: Auf dem Kleber über ihrer Brust (dunkelblauer Kapuzenpulli, Vliesstoff) steht: 'Pille'. Was immer damit gemeint sein mag?
Ohne nachzudenken (und ohne den Blick von Pille zu lassen, die dich ansieht), stotterst du unwillkürlich los: »Mir ... mein ... nein ... ich habe mich vergessen ...«, und beschließt sofort, den Mund zu halten.
»Vergessen? Ja, das geht viele von uns so, von euch ... der Tod ist ein Einschnitt in euer Leben gewesen, ein tiefer Einschnitt«, und dann kommt er ohne Umschweife zu einer Art Trauerarbeit und versucht uns beizubringen, unseren Tod zu beweinen.
»Unsere neue Körper ist eine zweite Chance«, sagt er, als wäre er selbst schon einmal gestorben (was er vielleicht auch ist), »wir müssen lernen, den Tod von die ersten Körper als Teil von unsere neuen Leben anzunehmen. Ich bin sozusagen der verlängerte Arm von eure Kognitionstherapeutin. Bei ihr lernst du das verlorene Stückchen Leben wiederzufinden - und bei mir das Ende - oder auch: Anfang - von dieses Stückchen. Denn erst, wenn wir den Tod von diese Körper angenommen haben, können wir ihn als was Neues, als unsere Wiedergeburt, als uns selbst annehmen.«
Er steht auf, geht in die Mitte, sein Blick kreist von Patient zu Patient: »Einige von Euch haben sich vielleicht selbst gesehen? Vor dem Wiedereintritt? Ihr habt euch gesehen, wie ihr mich jetzt hier seht. Als Astralleib, Ihr wart euer Astralleib gewesen, über eure Körper, wart ihr schwebend oder danebenstehend, habt ihr zugesehen, wie ihr im Krankenzimmer liegt, auf dem Intensivstation, mit Beatmungsmaschine und Helm, und ihr habt euch gefragt: Was ist mir geschehen?«
Kunstpause, irgendwem tief in die Augen schauen, dann, in die Runde: »Diese Erfahrung nennt man OBE, das ist vom Englisch und heißt
out-of-body-experience oder in Deutsch: Außerkörperliche Erfahrung. Statistisch gesehen hat jede Fünfte von euch das erlebt, das sind zwei oder drei aus diese Gruppe, und ungefähr zwei oder drei Prozent von alle Reinkarnierten sehen was ganz Besonderes: Die sehen nicht nur sich selbst neben seinen Körper, die sehen auch einen anderen Astralleib aus dem Körper austreten, der sieht aus wie ein Kind, oder wie du ausgesehen hast, als du ein Kind warst, andere sagen, wie ein Engel. Wie ein Engel, der man selbst einmal sein wird, man sieht sich selbst richtig doppelt, und der andere ist auch ein Astralleib! Dieses Kind oder Engel sieht einen dabei an und lächelt und sagt so etwas wie: 'ich mache den Raum frei für dich!' oder so, ich gebe dich eine zweite Chance', und wenn man ganz genau hinschaut, sieht man, dass der Engel Schmerzen hat. Und vielleicht sogar Angst. Die er mitnimmt, mit denen er aufsteigt und verschwindet.«
Jan dreht sich langsam um sich selbst, wir sind 13 Männer und Frauen in Jogginghosen und Pantoffeln, sitzen auf Holzstühlen und sehen ihn an. Für die Gesellschaft mit ihrer wissenschaftlich-rationalen Botschaft ist Jan ein sehr spiritueller Therapeut, geradezu esoterisch, entweder wissen seine Arbeitgeber nicht, wie Jan tickt, oder aber, und das ist wahrscheinlicher, er ist eigens dazu da, jene Kunden einzufangen, die auf das Metaphysische des Sterbens nicht verzichten wollen.
»Die ganze Schmerzen, Angst, Panik, die fürchtbare Hilflosigkeit im Moment des Todes, die ganze Todeserfahrung nimmt diese Engel mit sich. Nimmt das weg von euch. Es ist weggenommen!«
Das wäre was für Franka, denkst du, aber kaum was für die meisten der hier Anwesenden, und niemand hebt die Hand, als Jan fragt, wer denn diese doppelte OBE gehabt hätte. Niemand, der einen persönlichen Hang zum Übersinnlichen zugeben mag, oder hier sitzen nur die sogenannten Normalen, die meisten einfach froh, den Vertrag mit der Gesellschaft geschlossen zu haben, und kaum bereit, sich mit Seelenspaltung zu beschäftigen.
»Eine solche Erfahrung hat jeder von euch gemacht«, behauptet Jan trotzdem, »so oder so ähnlich, aber die meisten werden sich nicht daran erinnern, an den Wiedereintritt in eure neue Körper.«
Reparierte Körper, denkst du, niemand hat einen neuen Körper, am ehesten noch ich selbst, und auch Leon war nicht neu, als du ihn bezogen hast.
»... so wie ihr euch an die letzten Tage oder Wochen nicht mehr erinnert«, hörst du Jan reden, »weil der Engel diese Erinnerungen mitgenommen hat. Ihr hattet vielleicht was Schönes erlebt, oder was Schlimmes, ihr habt vielleicht eine Reise gemacht, mit viele Eindrücke, oder ihr habt Freunde getroffen, und euch in dieser kurzen Zeit vor dem plötzlichen Tod so intensiv ausgetauscht wie lange nicht mehr. Ausgerechnet in diese Zeitspanne! Oder ihr hattet endlich mal wieder richtig guten Sex!«
Verhaltenes Lachen in der Runde.
»Oder ihr habt gerade etwas Schlimmes erlebt ...«
Alle sehen ihn an. Erst ihn, dann untereinander, wer denn?
»Vielleicht eine Kündigung vom Arbeitsplatz, oder eine Trennung, oder jemand, den ihr kennt, hatte ein schlechte Diagnose, oder jemand ist gestorben, in der Verwandtschaft, jemand, der nicht bei der Geseelschaft ist. Auch solche Erinnerungen sind verloren. Auch diese Erfahrungen musst du noch mal machen, weswegen man auch den Verlust von diese Erinnerungen betrauern muss. Es bleibt einem nicht erspart, das noch mal zu erleben.«
Jan steht auf einmal vor dir, sieht dir tief in die Augen, dir fällt auf, dass seine grau sind, hellgrau, und die Pupillen hinter den Nickelbrillengläsern winzig, wodurch sie wie Schießscharten wirken, hinter denen er zwar dich, du aber nicht ihn sehen kannst, was du kaum aushältst, so ungeschützt, es ist, als würde er in dir erkennen, WAS du alles verloren hast.
»Und euren Tod nicht erlebt haben, ist ein großer Verlust ...«, sagt er.
»Na ja«, unterbricht ihn einer, einer, der das hier nur mitmacht, weil man muss.
Jan beachtet ihn erst nicht, schaut immer noch dich an: »Diese neue, alte Körper, der hat ein Geheimnis von euch! Der ist von euch verschlossen. Der verweigert sich euch, oder?«
Ja denkst du, ja ... JA!
Dann wendet er sich dem Mann zu, der 'na ja' gesagt hat, einer mit einem gepflegten schwarzen Bart, gepflegt und gefärbt, kein einziges graues Haar, auch nicht auf dem Kopf, und er ist der Einzige, der einen richtigen Anzug trägt; und der - neben Manni - keinen Juxnamen hat, den man auch sonst nie sieht, der gar nicht dazugehört (wenn man überhaupt von Zugehörigkeit sprechen kann) und der nur widerwillig zugestimmt hat, dass man sich hier duzt. Er sieht ein bisschen aus wie Sigmund Freud. Oder wie ein Roboter. Sein Gesicht ist eine Maske. Ein Foto von Freud ohne Mimik, ohne irgendeinen Ausdruck. Nein, nicht mal wirklich wie Freud, sondern wie dieser berühmte falsche Rohrschachtest von Freuds Profil, das sich je nach Betrachtungsart abwechselnd als Gesicht oder als nackte Frau ansehen lässt.
Jan scheint sich einen Moment unschlüssig zu sein, dann provoziert er ihn: »Hast du nicht getrauert über den Verlust?«
Der Mann (du kannst sein Namensschild nicht lesen, er sitzt in einem schrägen Winkel zu dir und der Kreppstreifen wird zudem vom Kragen seines Anzugjacketts halb verdeckt) sieht weg, kurz in die Runde, zu uns, aber da findet er nichts und will auch nichts finden, er sieht zum Fenster und dann doch wieder zu Jan. Ein Anflug von Zorn, immerhin.
»Ich sehe das nicht ein, dass ich mich hier ausziehe!«, sagt er.
»Musst du nicht! Niemand muss etwas hier. Das ist nur ein Hilfe, eine Chance, wieder reinzukommen, in seine Körper.«
Der Mann nickt. Eisern.
»Weil wir den eigene Tod zwar kennen«, sagt Jan in die Runde, »aus dem Unfallbericht, oder Arztbrief, also von andere beschrieben bekommen, aber nicht erlebt haben, müssen wir uns über ein Ersatz annähern.«
Er dreht sich dabei mit wenigen Schritten noch einmal im Kreis. Dann setzt er sich wieder auf seinen Stuhl: »Ich möchte, dass wir jetzt ganz still sind, am besten die Augen schließen und an unser Leben denken, an das, woran wir uns erinnern. Versucht bitte, ganz in euch zu sein, in eure Erinnerungen, und geht dabei zurück, rückwärts durch euer Leben. Stellt euch den Tag von eure letzte Backup vor, und von da immer weiter rückwärts ...«
Stille.
»Stellt euch die wichtigsten Ereignisse in die letzten Tagen vor dem Backup vor, aber nicht zu lange, versucht, diese Erinnerungen nur zu streifen, stellt euch vor, ihr seid so ein Astralleib und fliegt mit einer timemachine rückwärts durch euer Leben und jetzt ...«
Er macht eine lange Pause. Man hört uns atmen. Meine Augen sind zu, obwohl ich sie gar nicht bewusst geschlossen habe. Und jetzt?
»Stellt ihr euch ein Meer vor, ein Ozean, euer Leben als ein Ozean, mit viele gleichförmige Wellen, aber an bestimmte Stellen sind da Bojen, mit Fähnchen, die markieren besondere Punkte in euer Leben. Bunte, rote, gelbe, grüne Bojen, besondere Ereignisse, Abitur oder Führerschein bestanden, erste Liebeserklärung, erste Beziehung, erstes Mal alleine im Ausland, im Urlaub, am Meer oder erste Mal betrunken, erste Mal gekifft.
...
Seht ihr die Bojen? Ihr braucht nicht weiter gegen die Zeitachse gehen, ihr habt jetzt euer ganzes Leben vor euch. Der Ozean ist euer ganzes Leben.
...
Und ihr sucht jetzt ... nach die schwarzen Bojen.
...
Wisst ihr, was die schwarzen Bojen sind?
...
Schwarzen Bojen, das sind die Momente von Trauer, von Verlust, von Unumkehrbarkeit und so weiter, stellt euch das Meer vor ...«
...
Wieder eine lange Pause. Atmen, irgendjemand atmet nun schneller, ein anderer hustet (das könnte Metastase sein), und dann blinzelst du mit einem halb offenen Auge zu dem Mann, der wie Freud aussieht, und siehst, dass er die Augen nicht geschlossen hat, dass er das hier für Unsinn hält, aber was geht dich das an?
»Seht ihr die schwarze Bojen?«
Wenn der das hier für überflüssig hält, kann er auch gehen, denkst du, niemand wird dazu gezwungen, aber warum bin eigentlich ich hier? Wenn du ehrlich bist, nur um nicht aufzufallen. Weil du alles mitmachst, was man so mitmacht.
»Sucht euch ein schwarze Boje ...!«
Wieder blinzelst du, aber weil du den Kopf nun gesenkt hast, siehst du auf das Bein von Legi, und auf ihre Hände, die je einen Oberschenkel umfassen, die rechte den echten, die linke den künstlichen, feste, so feste, dass rechts weiße Flecken in der Haut entstehen, links nicht. Und Freud? Du schielst hin, und der starrt steif wie eine Puppe geradeaus zum Fenster.
Du schließt die Augen wieder.
»Seht euch diese schwarze Boje genauer an!«
War da was gewesen in seinem Blick? Vielleicht kann er sich ja doch nicht ganz verweigern. Wer weiß, wogegen der ankämpft? Ist sein Anzug eigentlich schwarz oder grau? Vorhin war er noch grau, aber jetzt, wie du noch einmal hinübergeschielt hast, war er schwarz gewesen. Oder soll ich noch mal schauen?
»Jeder von euch hat schon mal in seine Leben ein besonders traurigen Moment erlebt. Ein Verlust, ein Tod eines geliebten Menschen, oder eine Trennung, vielleicht als Kind die Scheidung von die Eltern, oder den Tod von ein Geschwister, der Tod von ein Freund, oder ihr seid in ein andere Stadt gezogen, ganz allein, zum Studieren, und habt fürchterliches Heimweh bekommen, auch das ... Solche intensive Momente prägen sich ein in euer Gehirn, das sind wie Anker in euer Leben, auch die traurigen Momente sind wichtige Anker, und ich möchte euch jetzt bitten, euch ein Anker herauszusuchen, ein ganz besonders tief im Meeresboden eingegrabenen Anker, an dem eine schwarze Boje mit ein schwarze Fahne hängt.
...
Ich möchte, dass ihr nun in ein kleines Ruderboot besteigt, so eine wippende, schwankende Nussschale, in die Nähe von die Boje, ganz klein, und ihr den großen Overview verlasst und euch in dieses wackelige Boot setzt, und dass ihr an diese Boje heranpaddelt. Ein bisschen Zeit lassen, nicht zu schnell, es kostet Kraft, die Wellen zu überwinden. Ihr müsst euch anstrengen.
...
Auf der Boje sitzt vielleicht ein Möwe, oben auf dem Fähnchen, wie so ein Wächter über die Trauer, und dann haltet ihr an die Boje an und ...«
Du blinzelst wieder nach unten. Auf das Bein von Legi. Denkt sie an den Verlust ihres Beins? Aber ihr sollt nicht an den Unfall denken, sondern an ein anderes trauriges Ereignis davor.
»Wie groß ist die Boje? Größer als ihr? Oder ganz klein, dass man sie mit der Hand auffischen kann, und ins Boot heben?«
Franka, denkst du. Muss das sein? Franka steht mir bis hier! Wenn ich über einen Verlust nicht nachdenken will, dann Franka. Das ist lächerlich, das ist auch nicht mehr traurig, das ist es überhaupt nicht. Du trotzt dem, und öffnest wieder die Augen. Grau, der Mann hat einen grauen Anzug, Freud in Grau, und er hat seine Augen nun doch geschlossen, aha, aber man kann nicht erkennen, ob es hinter seinem Gesicht arbeitet. In seinem Gesicht arbeitet nichts. Du wendest den Kopf, siehst nach hinten in den Raum hinein, hinter den Vorhang, der nicht ganz zugezogen worden ist, genau in der Sichtachse deines Blicks siehst du einen der Gehirnschnitte hinter Glas, Originale angeblich, die genauso aussehen wie die aus dem 3-D-Drucker von Dr. Mausgesicht, wie die Abbilder deines eigenen Gehirns - soll ich zwischen den Furchen und Windungen nach schwarzen Bojen suchen? Die künstlichen Drucke waren klarer, brillanter und plastischer gewesen als diese echten Schnitte, in denen beige, braun und grau ineinander verschwimmen. Sollen sie uns doch gleich komplett neu ausdrucken, das würde uns eine Menge ersparen und haltbarer wären wir auch! Unter dem Hirnbild, im Spalt zwischen den Vorhängen, siehst du einen Ausschnitt der Rumpfsegmente von Ganzkörperplastinaten. Die waren mit schwarzen Decken abgedeckt gewesen, aber das hat natürlich neugierig gemacht, weswegen einer von euch sie aufdeckte. Du rufst dir noch einmal das Bild dieser vier Körper vor Augen, die auf einem Pult gestapelt liegen, achtlos aufeinandergeschichtet, wobei einige der feineren Präparationen gebrochen sind. Drähte, Fäden und Nägel halten die Einzelteile beisammen. Lose baumelnde Finger, und das Blutadergeflecht hat, wenn man es eindrückte, geknistert wie trockenes Stroh. Du erinnerst dich an die an den Wänden hängenden Exponate, die Schnitte durch Todesursachen zeigten, will sagen: Krankheiten. Du denkst an einen Leberkrebs, bei dessen Anblick dir klar wurde, warum man Krebs nicht einfach wegoperieren kann: dass Krebs sich ganz und gar zu einem Teil des Körpers macht, so wie er ins Gesunde hineinwächst, als wäre er selbst gesund. Würde man Krebs entfernen, entstünden große Hohlräume ohne irgendwas.
»Legt eure Hände auf die schwarze Boje!«, sagt Jan, »die flachen Handflächen, entweder, wenn ihr die Boje in euer Boot genommen habt, klemmt sie zwischen die Knie, oder sie ist so groß, dann fasst sie einfach an, einfach so, und versucht hineinzuschauen, denn die Boje ist aus schwarzem ... eh ... wie Glas. Da drinnen kannst du etwas erkennen, den Grund, warum die Boje schwarz ist, den Moment in euren Leben, den Verlust, die Trauer, seht genau hinein, aber ... ihr müsst nicht sagen, was ihr seht, ich möchte euch bitten, nicht darüber zu sprechen, sondern nur zu schauen, aber offen zu sein, offen zu schauen auf diesen Punkt in euer Leben, euren Körper nicht verschließen, sondern euren Köper diesen Moment zu schenken, ihr sollt diesen Moment aufnehmen, vergegenwärtigen, ich möchte, dass du ein Gefühl kriegst für diese Moment, nur das Gefühl ist wichtig, entspannt eure Gesichtsmuskeln, wenn ihr schaut, lasst den Unterkiefer ganz locker.
...
Fühlt ihr die Wellen, in euch, in euer Kopf, hinter euer Gesicht, wie so kleine Stöße, ganz sanfte Stöße, von innen nach außen, fühlst du das?«
Jan sieht dich an, nickt dir zu und bedeutet dir, die Augen zu schließen. Du gehorchst, schließt sie, öffnest sie nach ein paar Sekunden wieder. Jan hat seine geschlossen, aber mit hochgezogenen Augenbrauen, sodass er zwischen den Wimpern hindurchblinzeln kann. Du schaust nach unten. Und schließt deine Augen dann doch.
Links von dem Gehirnschnitt hängen Rahmen aus Holz (oder war es rechts davon?), sie waren tiefer als die Bilderrahmen, hinter dem Glas befanden sich (befinden sich) ganze präparierte Organe, Vergleiche zwischen gesund und krank, besonders im Gedächtnis geblieben ist dir ein kompletter Verdauungsapparat, eine verwachsene Schlange, lose im Kreis gelegt, vom Rachen über die Speiseröhre bis zum Magen, und von da über Dünn-, Zwölffinger-, Blind- und Dickdarm bis zum Anus, fein säuberlich aus einem Toten herausgeholt und anschaulich gemacht. Diese Erinnerung löst plötzlichen Ekel in dir aus, selbst plastiniert ist alles schleimig und eklig gewesen, obwohl du weißt, dass diese Organe längst knochentrocken sind, machst du sie dir im Kopf zu nach Verwesung riechenden Schleimbeuteln, aus denen Blut und Eiter rinnt, sich unten in den Holzrahmen sammelt und von da abtropft. Und obwohl da nichts getropft hat, bildest du dir ein, dass du unter dem Rahmen eine Spur die Wand hinabrinnen gesehen hast, bräunlich, kotig, blutig, und unten auf dem Boden hast du eine halb getrocknete Pfütze gesehen, zum Teil in die Fußleiste eingezogen, und die falsche Erinnerung ist so stark, dass es dich plötzlich schüttelt, dass du unwillkürlich ein Geräusch machst, ein Ekel-»Brrr...!«, worauf du die Augen aufschlägst, vis-à-vis zu Jan, und der dich anlächelt. Folgsamer Schüler, denkt er jetzt, wenn der wüsste. Aber weil der Ekel dir in der Kehle hängt, schließt du die Augen wieder, schluckst, würgst das Gefühl irgendwie hinunter und fragst dich: Was soll ich an Franka denken, ich habe doch mich selbst verloren ...
Wenig später macht jemand ein ähnliches Geräusch, es ist aber ein Wimmern, Nase hochziehen, Schniefen. Trauer, einer aus der Gruppe ist durch, sozusagen, ist drin, besser gesagt, hat sie gefunden, die Trauer im neuen alten Körper, und wir wissen nicht, was da so traurig macht, es ist ja bei jedem anders, aber nun, wo der Damm gebrochen ist, kommen von mehreren Stellen gleichzeitig Weingeräusche, die du nicht willst, du presst die Augen nun feste zu, willst am liebsten auch die Ohren zuhalten, aber das wäre nicht das Erwartete, du denkst nur, dass DEIN Trauerfall was anderes ist und nicht vergleichbar, dieser Gruppenkurs hat die Aufgabe, seinen zu Tode gekommenen Körper wieder lieben zu lernen, ach was, wieder unter Kontrolle zu bringen, emotionale Contenance, wie viele Stunden sind eigentlich dafür angesetzt, im Budget der Gesellschaft, ich aber muss was ganz anderes lernen.
Und dann denkt Leon an Sylvie. Und dass sie darunter leidet, wie er sich verändert hat. Leon, der emotional Präsente, Leon, der mit nichts hinterm Berg hielt, auch: Leon, der Mutige, der Achterbahnfahrer, der Kletterer, Taucher, Skifahrer, Leon, der lachen wie weinen konnte, konnte er weinen? Am meisten wird Sylvie Leons Temperament vermissen, vielleicht war er aufbrausend, vielleicht jähzornig? Sylvie dürfte so einiges vermissen, aber sie ist gewiss auch froh, dass Leon kooperiert. Also: Kooperiere, fühle, zeige Gefühle, verbinde deine Gefühle mit diesem Körper!
Plötzlich meinst du, Legi neben dir zu hören, unterdrückt kichernd, aber du kannst dich auch täuschen, kichert sie nicht schon eine ganze Weile? Du willst es gar nicht wissen. Lachen und Weinen sind fast dasselbe, du öffnest deine Augen nicht. Und der Mann, den du Freud getauft hast? Willst du auch nicht wissen, überhaupt nicht. Irgendwo, räumlich schräg links vor dir, hat eine andere schwarze Boje so hohe Wellen geschlagen, dass alle Dämme gebrochen sind, eine Frau heult auf wie ein Sturm in der Nacht, das ist 'Schlaggi', denkst du (du bist sicher, dass es Schlaggi ist, obwohl du die Augen zugepresst hältst und der Mensch im Weinen so fremd klingt). Das wiederum führt auch bei anderen zu größerer Hemmungslosigkeit, überall Schniefen und Wimmern, und dann hörst du leise Turnschuhschritte, von links nach schräg geradeaus links (erfreulich, dass Leon seine Raumwahrnehmung mit dir teilt, immerhin), das muss Jan sein, Jan, der nun zu Schlaggi geht, um sie festzuhalten, und der »das ist echt!« oder etwas Ähnliches sagt, was du idiotisch findest, wie du das hier überhaupt idiotisch findest, dieses programmierte Heultraining, und weil man sich denken kann, dass so ein restrukturiertes Gehirn Schwierigkeiten hat, wieder alle Verbindungsstellen zwischen Emotion und Ausdruck zu besetzen, deshalb sind diese Heulereien um dich herum auch so extrem, unangemessen extrem, findest du, und du wünschst Freud plötzlich viel Glück dabei, seine Maske aufrechtzuerhalten.
Eine Weile geschieht außer kollektivem Heulen nichts. Kollektives Trauern um individuelle Schicksale, aber Jan schürt es Gott sei Dank nicht weiter, er scheint voll und ganz mit Schlaggi beschäftigt zu sein und du weißt nicht einmal, ob man die Augen wieder öffnen darf oder soll.
Schlaggi hat angeblich vor Gericht erstritten, dass man sie einschläfert, gewissermaßen, sie spricht da nicht offen drüber, es gibt nur Hörensagen und dies und das, und du hattest darüber mal einen Online-Artikel gelesen (als Thomas, nicht als Leon): die Geschichte einer Topmanagerin bei einer Bank, die nach einem schweren Schlaganfall halbseitig gelähmt bleibt, an den Rollstuhl gefesselt und seitdem zu epileptischen Anfällen neigend. 'Aus dem Leben gerissen'. Versuche, in diesem Zustand ihre Karriere wieder aufzunehmen, sollen vor allem daran gescheitert sein, dass sie äußerlich nicht mehr die attraktive, zielstrebig auftretende Businessfrau war, von der sich die Herren der Geschäftswelt auch mal was hatten sagen lassen (es gibt da so eine Art Domina-Effekt, du kennst das aus dem Bauwesen). Stattdessen sitzt plötzlich ein verhärmtes Häufchen Elend mit asymmetrischem Augapfel und sabberndem Mundwinkel am Konferenztisch, ihr Kostümchen, das mal sexy gewesen war, und das sie sich weigert, gegen etwas 'Angemesseneres' zu tauschen, ist eigenartig schief verrutscht, und auch eine eigens für sie engagierte Visagistin hat nicht viel retten können. Der Artikel hat Details ausgeschmückt, von denen du dich gewundert hast, dass sie das freigegeben hat. Man kann sich vorstellen, wie ihre gesunde linke Hand bei Meetings die tote rechte auf dem Tisch festhält und permanent massiert, was wie ein Tick ausgesehen haben dürfte, und wenn sie etwas sagt (wenn sie sich überhaupt mal überwindet, etwas zu sagen), dann verstehen die anderen kein Wort, und wenn man sie doch versteht, dann nur, dass sie offenbar selbst nichts verstanden hat, dass sie nicht folgen kann und nur noch wie ein verordneter oder quotierter Inklusionsfall dabei sein darf. Statt Frauenquote Behindertenquote und nur noch aus gewissen Imagegründen geduldet. Neben ihrem äußerlichen Niedergang ist es vor allem ihre neue Langsamkeit gewesen, auch im Denken und Verstehen, weswegen man sich ihrer schließlich entledigt hat. Kündigung und Vorruhestand und nicht mal eine Familie, geschweige einen Partner. Aber weil sie nicht tot war, hat sich die Gesellschaft geweigert, sie zu reinkarnieren. Ihr Fall ist schließlich bekannt geworden, deshalb der Artikel, ihr Fall und die Konterkarierung der uralten Frage, ab wann man einem Menschen Sterbehilfe leisten darf? Darf man, wenn man ihn dadurch anschließend wiederbeleben - oder eben reinkarnieren kann? Darf man aktiv den Geist vom Körper trennen, um letzteren sozusagen generalzuüberholen und anschließend durch den Geist wieder in Betrieb zu nehmen? Schlaggi ist damals vor Gericht gezogen, aber den Ausgang des Prozesses hatte Thomas nicht mehr mitbekommen. Erst jetzt, weil er zufällig mit ihr dieselbe Rehabilitation durchläuft, hat er erfahren, dass sie gewonnen hat, dass man sie also tatsächlich hat runderneuern müssen. Worüber sie nicht spricht. Aber man sagt, sie wurde mit ihrem letzten Backup vor dem Schlaganfall reinkarniert, was bedeutet, sie muss fast zwei Jahre ihres Lebens als Gelähmte aufarbeiten - die sie nicht mehr ist, da alle schlaganfallbedingten Hirnschäden beseitigt wurden und man mit viel Physiotherapie ihre Lähmungen hat rückgängig machen können. Interessanterweise hatte die Gesellschaft, der es darum gegangen war, die Kosten im Griff zu behalten, ethisch gegen sie argumentiert und sich dabei ziemlich aus dem Fenster gelehnt. Die Vertreter der Gesellschaft hatten damals angezweifelt, dass es tatsächlich der 'Geist' sei, den man beim Backup vom Körper trenne, und man daher keinen 'Geist' in ein restrukturiertes Gehirn einspiele, sondern lediglich mithilfe eines Abbilds des Gehirns dieses nach seinem Tod - Tod, wohlgemerkt - wieder in Form brächte und sie insofern gemäß den Buchstaben des Gesellschaftsvertrags keinen Anspruch auf Reinkarnation habe, solange sie noch lebe. Und das, wo alle Anzeigen und Spots genau damit für den Beitritt zur Gesellschaft werben: dass man sich selbst, sein Selbst, sein Innerstes den schützenden Händen einer wohlwollenden Institution überantworte, die sich um etwas kümmere, das bildgewaltig und emotional als Seele dargestellt wird.
Nun also hat Schlaggi ihre Seele wieder, oder Schlaggis Seele einen neuen Körper, nein, ihren alten Köper zurück, alte Seele in altem Körper, tot ist lediglich die Frau, die sie zwei Jahre lang gewesen war. Aber tot ist auch die Frau, die gelernt hat, für ihre existenziellen Rechte zu kämpfen, was ein anderer Kampf ist als das Spiel um Bilanzen und Dividenden. Tot ist die Frau, die in den letzten zwei Jahren innerlich gewachsen und gereift ist, die sich das Leben auf eine gänzlich neue Art erschlossen hat. Vielleicht ist die Erkenntnis, dass sie, deren ganzes Selbstbild immer eine starke Frau gewesen ist, sich an diese wirklich starke Frau niemals wird erinnern können, dass sie sie niemals kennenlernen wird, vielleicht ist das der Auslöser für ihren heftigen Weinkrampf. Vielleicht hat sie ja angefangen, die zu lieben, die sie gehasst hat, als sie sie noch gewesen ist. Die Erkenntnis des Fehlens eines traumatischen Erlebnisses ist selbst eines. Ist das nicht Jans Kernthese? Wir haben nichts vergessen, wir leiden nicht unter Amnesie, sondern unter dem physischen Verlust eines existenziellen Teils unseres Lebens.
Heulende Wölfe in der Nacht, »Ihr könnt die Augen wieder öffnen!«, sagt Jan, und als du das tust, merkst du, dass du den Kopf gesenkt hältst, dass du auf deine Oberschenkel schaust, auf eine beigefarbene Jogginghose, die dir Sylvie mitgebracht hat. Warum tragen Architekten schwarz, denkst du, und: Ich bin kein Architekt. Mehr. Und dann schielst du hinüber zu dem künstlichen Bein von Legi.
Sind wir fertig?
Nein.
»Was ist mit der Angst?«, fragt Freud, der nicht heult.
Angst vor dem Ereignis, das man schon hinter sich hat?