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Wiedergeburt II
ОглавлениеWie kommt es, dass die Erkenntnis, keine Seele zu haben, so viel Mitleid hervorruft? Ist Mitleid der unverhangenste Blick auf euch von der Seele Überzeugten? Der klarste, von keiner Philosophie getrübte Blick? Bedenkend, dass aller Blick nur Innenblick ist, erwachst du zum wiederholten Male in demselben Krankenzimmer und weißt sogleich, dass du es den vielen neuen Blicken schwer gemacht hast mit deinem mangelnden Mitleid.
Ich habe mich nicht umgebracht, nicht aus Liebeskummer. Ich hatte einen Unfall oder was auch immer, und dass ich mich nun verändert habe, so sehr verändert, dass man mich nun Leon nennt, das ist eine genauso hinzunehmende unmögliche Tatsache wie das ganze verpfuschte Leben des Thomas Vanderra zuvor. Chance Leon.
Als ich mich - erneut - frage, wo eigentlich Thomas ist, wird mir wieder schlecht. Als löse allein das Stellen dieser Frage Übelkeit aus. Wo ist mein ... Körper? Die Frage nach mir selbst sitzt wie physisch lokalisierbar in meinem neuen Kopf. Und sobald ich mich ihr nähere, entflammt eine heiße Übelkeit meinen Bauch, und sobald ich mich wieder entferne, löst sich auch die Übelkeit auf - zugunsten eines wohligen Dämmerzustands. Denk nicht dran, und alles wird gut.
Wer weiß, welche dich (oder vielmehr mein Gehirn) besänftigenden Mittelchen man Leon gegeben hat, welche Substanzen dort in der Flasche sind, die ihm Tropfen für Tropfen ins Blut gehen? Welche Schmerzstiller? Insbesondere sein Kopf ist mit Absicht betäubt, man kann mit so einem dornigen Helm, den er noch immer trägt, gar nicht normal liegen. Sein Schädel ist gelagert auf einem bezogenen Schaumstoffkeil, der seinen Hals stützt und den Hinterkopf freilässt, und deswegen diese ständigen diffusen Nackenschmerzen (oder kommen die von meinem Live-Watch-Sender?).
Ich atme diesen Körper nicht, diesen Körper atme ich nicht ...
Ksss, macht der Kopf. Die Sinne versagen immer wieder, und selbst die Kontrolle über grundlegende Funktionen wie Atmung und Herzschlag scheint Leons Gehirn immer wieder zu entgleiten. Da ist so ein pulsierender Schmerz, nicht zu lokalisieren, ein plötzlicher Ganzkörperphantomschmerz, der genauso schnell wieder abreißt, wie er kommt, oder diese traumartigen Schwebezustandsempfindungen, bei gleichzeitiger Wachheit, das sind allergische Reaktionen des Körpers auf einen selbst, auf das Backup, oder reagiert das Backup allergisch auf den Körper? Symptome der Empfindungsabwehr, die Wissenschaft weiß nicht, wer auf wen allergisch reagiert, die Wissenschaft weiß nicht einmal, dass es solche Fragestellungen überhaupt gibt.
Unterstützt von den Psychopharmaka nimmst du dir vor, dich nun zu benehmen. Nimmst dir vor, das Herz zu schlagen und die Lunge zu atmen und das Unmögliche zu akzeptieren. Zwar erinnerst du dich noch immer an nichts, was zu Leon gehört, und nur an alles Thomas'sche, an den Chip im Nacken wie die Frau auf dem Parkplatz und das Fräulein, du erinnerst dich an die Röhre, die keine war, sondern ein Raum mit Bildschirm und leuchtendem Ballon, du erinnerst dich an Sid, der Simon einen runterholt, und jetzt lachst du laut, weil es natürlich nicht Sid war, in dem Film, sondern ein gewisser Adam, zwar erinnerst du dich also nach wie vor nur an das offensichtlich Falsche, zwar fühlen sich auch Stimme und Mund und Gesicht noch immer fremd an, aber du nimmst sie doch jetzt wenigstens als Stimme und Mund und Gesicht wahr; du hörst Töne und siehst Gesichter, und Fühlen ist immerhin Fühlen; und so anders ich jetzt auch bin, Herr Leon Unbekannt, dennoch habe ich gerade ein bisschen deinen Frieden mit meinem neuen Mir geschlossen. Mit den neuen Teilen deines Körpers, korrigiere, mit deinem neuen Körper.
Ich erfahre, dass man mich nach meinem Anfall vor dem Spiegel fast eine ganze Woche erneut ins künstliche Koma versetzt hat, dass also eine weitere Woche vergangen ist, eine Woche, in der ich diesmal geträumt habe, und anders als beim ersten Erwachen gibt es diesmal so etwas wie Kontinuität dessen, was ich bin. Über die Träume verbinde ich mich nicht nur mit Vergangenheiten, meinen oder Leons, sondern auch mit mir selbst. Ich verstehe immer noch nicht, wie es passieren konnte, dass ich als Leon reinkarniert wurde. An welchem Punkt unserer beiden Leben haben wir uns vermixt? Wo ist denn der echte Leon, wenn ich seinen Körper okkupiert habe? Hatten wir beide einen Unfall? Denselben? Stammen wir aus zwei Paralleluniversen, die bei diesem Unfall verschmolzen sind? In dem einen hat es nur mich gegeben, ich meinte, nur Thomas, und in dem anderen nur Leon?
Leon, erfährst du, ist schon länger bei der Gesellschaft, auch er hat im Vierwochenrhythmus sein Bewusstsein scannen lassen, insofern hast du großes Glück gehabt, als dass man deinen Erstscan sogleich brauchte, um dich zu reinkarnieren. Hättest du dich später dazu entschlossen, der Gesellschaft beizutreten, du wärst jetzt tot. Für immer.
Nein, du korrigierst dich. Wenn Thomas noch da ist, irgendwo er, du, dann wärst du immer noch er.
Nein, wieder musst du dich korrigieren, ich wäre doch tot - bzw. nie existent geworden. Ich bin nicht Thomas. Ich bin nur einer, der denkt, Thomas gewesen zu sein. Mir wird schlecht, kotzübel, ich lasse das, ja, lieber Gott, ich verspreche, nicht mehr darüber nachzudenken ...
Man teilt dir mit, dass du noch etwa vier Wochen bleiben musst, und anschließend kämst du für eine Weile in die Gesellschaftseigene Rehaklinik. Weil dein Lungenriss komplikationsfrei verheilt und dein Gehirn im EEG zumindest keine Aussetzer mehr anzeigt, entlässt man dich von der Intensivstation und du kommst vorübergehend auf die Psychiatrische, ausgerechnet! Ausgerechnet? Eins ist doch klar: Du bist ein Kopfpatient. Du bekommst ein Einzelzimmer, Frau Dr. Mausgesicht, die sich dir nie vorstellt, besucht dich mehrmals täglich und beruhigt diese deine neue Frau Sylvie damit, dass es normal sei, wenn Komapatienten und Menschen, die hirntot gewesen waren, unter Amnesie leiden. Das
Sich-an-sich-selbst-Erinnern sei ein langwieriger Prozess, aber dank des Scans würde man schon bald oder irgendwann zumindest in dir den alten Leon wiederfinden. Was mich nicht beruhigt. Der, den ich für sie finden muss, ist ein Fremder und wird ein Fremder bleiben. Den ich nichtsdestotrotz finden muss. Erfinden. Ich habe nur seinen Körper, aber ich muss mich als er selbst ausgeben, muss lernen, Schritt für Schritt, dieser fremde Körper Leon Petrović zu werden. Über das Andernfalls will ich nicht nachdenken.
Bis du in die Rehaklinik überstellt wirst, unterstützt dich eine Kognitionstherapeutin, die mit dir nach einem festen Plan die 24 Tage, die zwischen dem letzten Scan (Leon) und dem Unfall liegen, aufarbeitet, sowie die Zeit danach, die du im Koma gelegen hast, und nebenbei, aber auch das fest in ihrem Plan verankert, Leons ganzes Leben davor. Die Kognitionstherapeutin ist eine kleine runde Frau mit kurzer Dauerwelle, brünett, energischer Schritt, ihre Absätze so kurz und fest wie ihre auffällig kompakten Daumen, klackernd schiebt sie ein Wägelchen voller Unterlagen herein: einen Laptop, ein Fotoalbum, einen verplombten Leitzordner, ein Päckchen Tabak und einen Stapel Zeitungen. Lässig zeigt sie mit ihrem Daumen darauf und teilt dir mit: »Das ist Leon Petrović!«
Dass ich - dass Leon - auch in den Zeitungen zu finden sein soll, irritiert mich zuerst, aber natürlich WÄRE ein gesund Gebliebener mit dem allgemeinen Weltgeschehen informationell genauso verwachsen geblieben wie mit dem sogenannten eigenen Leben. Insofern ist es sogar klug, den Wiederfindungsprozess von außen zu starten, mit Zeitungen Lesen und sich von da allmählich immer enger an sich selbst heranzuarbeiten.
Dann legt sie dir ein Smartphone hin. Zerkratzt, an einer Ecke ist etwas abgesplittert (der Unfall!), das Display dunkel.
»Vermutlich beschädigt«, sagt sie. »Es hat sich bei oder nach dem Unfall ausgeschaltet und man müsste nun ausprobieren, ob es noch funktioniert. Aber natürlich nicht ohne Ihre Einwilligung ... wissen Sie noch das Passwort?«
Dann tippt sie auf den Tabak, »soweit ich informiert bin, dürfen Sie bald wieder, Ihre Lunge soll ja wunderbar verheilen.«
Rauchen? Ich? Leon ist jetzt ich und offenbar hat er - und diese Erkenntnis löst beim Anblick des Tabaks ein nie gekanntes Gefühl aus: wie Appetithaben. Schon seltsam, aber damit fange ich jetzt ganz bestimmt nicht an!
Davon ausgehend, dass ich mich an die Zeit vor dem Scan auf kurz oder lang von alleine erinnern würde, hat Karina, so stellt sie sich vor, ihre Zeitungsauswahl auf das Danach beschränkt. Karina also, obwohl wir beim 'Sie' bleiben.
Ihr setzt euch an den kleinen Beistelltisch in Deinem Einzelzimmer und beginnt mit einer Schlagzeilen-Rundschau der aktuellen Weltlage, und weil Leon offenbar ein Fußballfan ist (war, gewesen ist oder irgendwann wieder sein soll), erfährst du nach wenigen Sätzen kaum noch Politisches, dafür aber fast unerträglich viel über seinen Verein. Es fällt dir schwer, deine eigene Aversion gegen Fußballklatsch und den Mediensport im Allgemeinen für dich zu behalten. Karinas Vortrag ist aber von vorneherein so sehr auf die Vorlieben eines Mannes zugeschnitten, der nichts von dem hat, was einmal Thomas gewesen ist, dass du schließlich nicht mehr anders kannst, als dich einem Anfangsverdacht auszusetzen: Während du die Sportereignisse emotional unbeteiligt über dich ergehen lässt, fragst du bei der Weltpolitik so sehr nach, dass sie immer wieder passen muss. Als sie einen Überblick über aktuelle Ausstellungen in der hiesigen Kunstlandschaft gibt, ist das wie eine endlich gefundene Interessensübereinstimmung, als Musiker hat sich Leon ebenso für Kunst interessiert wie du als Architekt, wie du auch für die Musik, aber als du sie fragst, ob die technischen Probleme im Teilchenbeschleuniger CERN denn behoben seien, sieht sie dich irritiert an. Sie muss in ihren eigenen Erinnerungen suchen und kann diese unerwartete Frage nur dank ihres berufsbedingt generell hohen Grades an Informiertheit beantworten. Doch statt vorsichtig zu werden, fragst du sie nach der Entdeckung von flüssigem Wasser auf dem Mars - du, Thomas, erinnerst dich, das war Anfang des Jahres. Stirnrunzeln, und ein prüfendes Dir-in-die-Augen-Schauen. Was für ein Unterschied zwischen dem Leon auf dem Papier und dem Leon, der da vor ihr sitzt.
Sie öffnet den Ordner und legt dir einen handschriftlich ausgefüllten Fragebogen hin. Es ist derselbe Bogen wie der, den du neulich ausgefüllt hast, aber das ist nicht deine Handschrift, natürlich nicht, diesen Bogen hat einst Leon ausgefüllt. Vor seinem letzten Scan.
»Das sind Sie doch ...?«, als ahne sie etwas.
»Ja!«, sagst du, fast zu schnell sagst du das, du hast ja noch gar nicht richtig hingeschaut, aber was bleibt dir anderes übrig?
»Es fällt mir schwer, mich an mein Vorleben zu erinnern«, sagst du, und das klingt ein wenig wie auswendig gelernt.
Der Laptop, erfährst du, ist deiner, nicht der, an den sich Thomas erinnern würde, aber dass beide einen besaßen, besitzen, das versöhnt ein bisschen.
Doch schon das Betriebssystem ist ein anderes. Und das Gerät verlangt ein Passwort.
»Überlegen Sie ... versuchen Sie sich daran zu erinnern!«
Nein, nicht 'Hieronymus1516', an das erinnerst du dich tatsächlich, aber welches Passwort hätte Leon gewählt? Der Zimmermann, Jesus, Kreuzigung? Du hast bislang nichts darüber erfahren, ob er vielleicht religiös war, aber nein, unwahrscheinlich, die Kirche lehnt die Reinkarnationsmedizin ab, wie einstmals die Erdbewegung um die Sonne, denn das, was wir hier treiben, ist ein Angriff auf die gottgegebene Seele, deren Existenz die Gesellschaft mehr oder weniger leugnet, und der sie zugleich ewiges Leben schenkt.
»Ich könnte Ihnen auch das hier geben!«, sagt sie und hält dir einen verschlossenen Briefumschlag hin. Deine Passwörter. Deine?
»Sylvie!«, sagst du, so impulsiv, dass du dich fragst, ob dir selbst das jetzt eingefallen ist oder einem noch in diesem Hirn eingelagerten Rest deines Wirtes. Karina ist erfreut, du hast dich erinnert, ein Pluspunkt, und du denkst, es war das einzig halbwegs Naheliegende. Tatsächlich hast du geraten.
»Ja?«
Du gibst 'Sylvie' ein, aber der Computer verweigert sich.
»Ja, und? Vielleicht fehlt noch was ...«
Weiß sie denn das Passwort?
Was fehlt denn? Ihr Geburtsjahr? Du weißt es nicht, Thomas weiß es nicht, oder fehlt der Nachname, oder nein, der Sohn? Dein Sohn? Sein Name fällt dir nicht ein, obwohl man ihn dir schon gesagt hat, natürlich, aber du hast ihn vergessen. Das ist ein neues Vergessen.
»Mein Sohn ...?« Zweimal Glück haben wäre unverschämt, aber sie glaubt dir, sie denkt, dein Raten wäre ein Erinnern. Dein Sohn?
»Ja ... dann schreiben Sie! Wenn Sie noch Ihr Passwort wissen, dann ist das ein sehr gutes Zeichen. An solche Zugangsdaten erinnern sich die wenigsten Reinkarnierten.«
»Ach ja?« Deine Finger verharren über der Tastatur.
Karina sieht dich an. »Versuchen Sie es, geben Sie ein: 'Sylvie ... und ...«
Du siehst sie gequält an. Sie nickt aufmunternd, anspornend, schließlich begreift sie, dass du seinen Namen vergessen hast.
»Macht nichts!«, ihre kleine Hand tätschelt deine große, »versuchen Sie es mit: 'Sylvie und Hendrik' ... vielleicht ...« Sie weiß es ja selbst nicht.
Du gibst 'SylvieHendrik' in die Maske ein. Als ein Wort, und tatsächlich: Es folgt eine Erkennungsmelodie; unbekannt, sehr eigen und unkonventionell. Musik?! Leon hat Musik gemacht, möglicherweise ist das seine Komposition, »das ist meins ...!«, sagst du, schaust Karina an, die sich mit einem »Na bitte, geht doch!« etwas abseits setzt, sodass sie nicht auf den Bildschirm schauen kann, dann nickt sie und sagt: »Sie sind gut, ein guter Musiker, sehr ungewöhnlich ...«
Die Melodie ist verklungen, und du hast keine Ahnung, mit was für einem Instrument du sie - gespielt? - aufgenommen? - hast. Du hast - Thomas hat - nie ein Instrument angefasst. Nur das Didgeridoo, schon lange her, aus einer Laune heraus, aber du warst gut darin, du konntest viele Minuten lang den Ton halten.
Die Bildschirmoberfläche, dein Desktop. Der Hintergrund schwarz, unangenehm finster, sodass die viel zu kleinen Symbole der Ordner und Dateien darin leuchten wie winzige Raumschiffe. Was wirst du in diesem Computer finden? Privatsphäre, was ist das? Hat sich Karina deshalb weggesetzt? Das Erste, was dir zu Privatsphäre einfällt, ist Kinderporno, aber es muss ja nicht gleich das sein, das fehlte noch, dass Leon so einer ist, aber was ist mit Porno? Oder kommt der Gedanke aus meiner Thomasfantasie? Wie wäre es denn damit, dass Leon KEIN Doppelleben führt? Oder nur ein ganz gewöhnliches mit Schweizer Bankkonten? Oder eine Geliebte neben Sylvie hat? Oder einen Geliebten?
Ach nein, und du klickst im Explorer einige Dateiordner an und entdeckst nichts Unangenehmes. Die Ablage ist allerdings ziemlich chaotisch. Und den meisten Raum nimmt die Tischlerei ein. Ein ziemliches Durcheinander aus Auftragslisten, Werkzeichnungen, Abrechnungsdateien und überall verstreut finden sich Fotos von Holzarbeiten. Und von Häusern. Du arbeitest tatsächlich auch manchmal auf dem Dach und nagelst Latten ineinander. Dabei bist du das Gegenteil von schwindelfrei. Als Thomas. Und als Leon-2 erst recht, ein irrationaler Schreck, als müsstest du schon morgen wieder in die Höhe - aber nein, beruhigst du dich, nein, vielleicht nie wieder, nach so einem Unfall!
Die Daten sind so durcheinander, dass du noch nicht einmal herausbekommst, ob diese Tischlerei Leon gehört oder er nur so etwas wie ein leitender Angestellter ist. Dass Teile der Buchführung hier abgelegt sind, spricht für Ersteres, allerdings ist der letzte Eintrag vom 11. November letzten Jahres, ein Dokument, dass einem Mitarbeiter eine Lohnerhöhung bescheinigt, aber das war lange vor dem Unfall. Und was war danach? Es scheint da einen Tischler zu geben, ein Pranzke, dessen Name in einigen Textdokumenten und Zeichnungen auftaucht. Aber der ist nicht Chef. Wie läuft also die Firma, wenn du seit Monaten fehlst? Das kann man unverfänglich fragen: »Wie läuft's ... auf der Arbeit?«
»Keine Sorge«, sagt Karina, als verstünde sie etwas davon, »Ihrer Firma ...«, 'meiner', registrierst du, »... geht es gut, Ihre Frau und Ihr Meister schaffen das ...«
»Meine Frau?«
»Ja ... natürlich?!«
»Aber sie ...« Was arbeitet eigentlich Sylvie? Hast du dich bislang nicht gefragt, solltest du aber, wenn außer euch nur ein halb erwachsener Sohn existiert, gibt es keinen Grund für sie, nicht zu arbeiten.
»Ja ...?«, fragt Karina und sieht dich skeptisch an.
»Sie muss doch selbst arbeiten ...«, sagst du und hoffst, dass es plausibel klingt.
Karinas Gesicht zeigt so etwas wie Erleichterung. Vielleicht, weil sie bei Totalamnesie keinen guten Schnitt macht; in ihrem Job.
»Soweit ich weiß, kümmert sich Ihre Frau abends um die Werkstatt, Abrechnung und so, und zwischendurch dies und das, und Ihr Herr Pranzke scheint ja alles im Griff zu haben ... machen Sie sich also keine Sorgen!«
Du berührst mit einer Hand den hochgeklappten Bildschirm, »und der hier ...?«
»Wer?«
»Dieser Rechner, wieso ...?«
»Na ja, das ist Ihrer, ihr persönlicher ... ich glaube, Ihre Frau ... oder in ihrer Firma gibt es einen zweiten, also den richtigen. Ich glaube, dieser hier, ihr Computer, wurde seit dem Unfall nicht mehr benutzt ...«
Natürlich, es wird einen Firmencomputer geben, einen, der in Sylvies Händen problemlos läuft. Nicht wie du.
»Den können Sie jedenfalls hierbehalten.«
»Ist das nicht riskant? Mich ...«, du lachst, »mich Gehirnamputierten über Nacht mit dem Gerät allein zu lassen? Und wenn ich was lösche?«
»Man kann nichts löschen! Heutzutage kann man nichts mehr löschen ...«
»Nicht mal sich selbst ...«, sagst du. Und dann denkst du, dass Leon, der Fußballfan, sehr wohl gelöscht ist. Und du ihn fortan ersatzspielen musst.
Sie geht, und zurück bleiben ein Laptop und ein Körperfremder, Letzterer bestehend aus etwas Physischem und etwas Flüchtigem, wie ein Stein, an dem ein vom Wind verwehter Fetzen hängen geblieben ist, ein Felsen in einer gischtigen Brandung, an dem ein zerrissener alter Lappen flattert, nur zufällig hier verfangen und nicht an anderer Stelle, und der Anblick des Computers lässt den Wind wieder aufleben, er zerrt an dem Stoff, wie ein Sog, so ein Laptop ist die nächstmögliche Verknüpfung zum alten Leben, zu dem, der ich vorher war, die große Wolke Internet hat genügend Anlaufstellen, um mit mir selbst wieder in Kontakt zu treten.
Zugleich habe ich Angst vor so einem Schritt. Was, wenn Thomas doch gestorben ist? Wie ist er - falsch, wie wäre er gestorben? Will ich das wissen? Will ich überhaupt wissen, ob er noch lebt? Würde ich es z.B. erfahren, wenn ich mein sein E-Mail-Postfach öffne? Wer hat eigentlich Zugriff darauf? Doch wohl niemand, nichtmal Franka - oder?! Mit einem gewissen Entsetzen stellst du fest, dass du dir nicht sicher bist. Was wäre wenn? Wenn sie mein Passwort kennte, und dann? Aber warum sollte sie? Warum sollte sie es kennen, und wenn du es ihr je verraten hast, warum sollte sie sich daran erinnern? Und warum sollte sie, Monate nach eurer Trennung, sich überhaupt noch ZUSTÄNDIG fühlen? Realistischerweise dürfte dein Postfach also verwaisen, jede Menge unbeantwortete Mails, unendlich viel Spam, und der letzte Gesendet-Eintrag am ...?
Am?
Leon ist vor zwei Monaten gestorben, du bist seitdem in ihm, deine letzte Erinnerung an Thomas ist noch älter, der Moment, an dem ihr euch geteilt habt, liegt nun über zwei Monate zurück. Getrennte Wege seitdem, getrennt von Franka und nun von mir selbst, wie geht es mir eigentlich? Soll ich mich anrufen, mir eine E-Mail schreiben, und ... oder ...
Und wenn ich doch tot bin? Leon am 20. Februar, und Thomas? Sollte ich tot sein, ließe sich, da du früher praktisch täglich Mails geschrieben hast, dein Todestag ungefähr ausmachen. Es wäre also nichts leichter wie das: Ins Internet gehen, den Maildienst aufrufen, Passwort eingeben (DAS kennst du ja noch), und dann schauen und dann? Soll ich als Geist meine Adresse wiederbeleben? Die wird eisig im Nacken, das zu denken. Und wenn ich lebe? Wenn Thomas lebt? Wieder hast du das Gefühl, dass dein Magen kocht. Die Vorstellung, zwei zu sein, löst eine impulsive Übelkeit aus, jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, so schlimm, dass ich mich mir selbst entwinden möchte. Ich will es nicht wissen, ich will es nicht wissen!
Du lässt es. Vorerst bin ich Leon. Spiele ich Leon und werde mein Bestes geben, er zu sein. Sein Magen beruhigt sich.
Nach vorne schauen ist nicht nur ein Spruch, du spielst ein neues Leben, ein Leben, das auch gewisse Vorteile gegenüber dem alten hat: Leon ist ein großes, kräftiges, gut gebautes Exemplar der Gattung Homo sapiens maskulinensis, und abgesehen von den schlechten, amalgamgefüllten Zähnen, abgesehen von einem Körpergeruch, den sich zu eigen zu machen dir schwergefallen ist, abgesehen von einem nervösen Reizmagen oder Reizdarm, abgesehen davon, verspricht dir Leon z.B. eine deutlich höhere Lebenserwartung, als Thomas sie gehabt hätte. Weil Leon um 18 Jahre jünger ist. 35 statt 53, und ausgerechnet jetzt bzw. ausgerechnet so jung bist du plötzlich Inhaber einer eigenen Firma. Ich bin was Handfestes, ein Macher, männlich bis in die Zehenspitzen und obendrein Musiker, Komponist, mir liegen die Frauen zu Füßen usw. usw. und was war ich mein ganzes langes Leben davor?
Und doch lässt mich Thomas nicht los.
In der kommenden Nacht versuche ich, heimlich in mein altes E-Mail-Postfach einzusteigen. Wie ein Dieb. Es fehlte nur noch, es unter der Bettdecke zu tun, fast ist es auch so, ich warte, bis ich von den Fluren der Station nichts mehr höre, dann klappe ich den Laptop auf, suche - im Dunkeln! - meinen - Thomas' - Maildienst und gebe Benutzernamen und Passwort ein.
Die Seite antwortet: 'Log-in leider nicht erfolgreich. Haben Sie Ihr Passwort vergessen?'
Ich versuche es erneut. Wieder Fehlanzeige. Ein drittes Mal, dann ein diffuses Gefühl von Panik. Ich werde doch mein Passwort nicht vergessen haben!? Vierter Versuch, fünfter, sechster, Wut. Fieberhaftes Nachdenken, dein Passwort ist: Vanderra, nein, du drehst fast durch, 'vanderra' ist der Benutzername, 'Hieronymus1516' lautet das Passwort, seit Jahren, oder etwa 1615? Du versuchst 'Hieronymus1615', auch nicht, ist ja auch falsch, 1516 ist das Geburtsjahr von Hieronymus Bosch, oder Todesjahr? Oder - oder hat man etwa meinen Account gelöscht? Bin ich etwa doch tot? Soll ich jetzt lachen?
Natürlich tot, die werden dich gelöscht haben, Thomas, das macht man so, du hast eine Mail-Adresse gehabt, für die du monatlich bezahlt hast. Als das Geld nicht mehr geflossen ist, werden sie herausgefunden haben, dass du tot bist, oder sie haben deine Mutter nach dir gefragt, haha, im Altenheim nachgefragt, ja was weiß denn ich?! Dein Bruder sonstwo, deine Mutter dement und der Sohn tot, aber sie wird das nicht begreifen, oder sie hat dich längst vergessen, hat sie sowieso. Für sie existierst du ohnehin nur in der Erinnerung. Dein E-Mail-Anbieter aber wird deinen Account gelöscht haben.
Thomas ist tot, du bist Leon. Punkt.
Spiele ihn, bis du er bist.
Ich verstehe nicht warum, aber die Vorstellung, ebenso wie Leon gestorben zu sein, hat etwas Beruhigendes. Gibt mir ein Gefühl von Kontinuität, wo die Alternative, dass der originale Thomas noch lebt, mich zur Hälfte einer buchstäblich gespaltenen Persönlichkeit macht. Auch wenn es keinen wirklichen Grund gibt, daran zu glauben, rein reinkarnationstechnisch ist es vollkommen irrelevant ob, auch wenn mir mein Verstand zuflüstern möchte, 'Thomas lebt ... Thomas lebt ...', glaube ich irgendwann fest daran, nur einer zu sein. Ich flüchte mich in diesen Glauben wider besseren Wissens und doch so voll und ganz, dass ich über Thomas und das, was zeitgleich Thomas sein könnte, nicht mehr nachdenke.