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Nullphase: Erwachen ohne Erinnerung
ОглавлениеIch atme diesen Körper nicht.
Nein, ich atme diesen Körper nicht.
Ich atme diesen Körper nicht,
diesen Körper atm' ich nicht ...
Später höre ich Bachkiesel.
Ich spüre eine milde Brise. Ich liege auf einer Waldlichtung. Ich habe die Augen geschlossen.
Ich atme diesen Körper nicht ...
Harmlose Insekten, Bienen, Hummeln, Schmetterlinge; und Vögel, und die frischen Gerüche aus Baumharzen und Blüten.
... diesen Körper atm' ich nicht ...
Ich weiß sofort, dass ich nicht weiß, wer ich bin. Ich öffne meine Augen nicht. Ich frage mich, ob ich träume, finde es aber interessant, dass ich darüber nachdenke. Ist das Nachdenken ein Indiz, wach zu sein? Oder zu träumen? Träume ich? Ich bin mir der Gegenwart sehr gewahr. Trotz geschlossener Augen. Was bedeutet, ich könnte schwören, dass ich wach bin. Aber könnte ich das nicht auch im Traum? Mein Körper (ich habe einen Körper!) liegt zudem auf etwas, das sich seltsam anfühlt, das vielleicht gar kein Moosbett ist. Ob ich träume oder wache, bleibt ununterscheidbar. Und wer ich bin, unbeantwortbar. Ist nicht zu wissen, wer man ist, ein starkes Traumindiz? Und wieso stimmt es mich bloß auf eine sanft melancholische Art traurig, mich nicht erinnern zu können? Wieso ängstigt mich das nicht?
Ich atme diesen Körper nicht,
diesen Körper atm' ich nicht ...
Nein, diesen Körper atm' ich nicht!
Nein, es macht mir keine Angst. Und auch diese Erkenntnis erstaunt mich nur, dabei sollte mich allein die Erkenntnis, keine Angst zu haben, an sich schon beunruhigen! Aber da ist nur eine beinahe schöne Elegie in mir, wie ein stimmloses Lied von in sich ruhender Traurigkeit. Ich ruhe in mir. Ich bin auf eine traurige Art glücklich. Weniger wegen des damit verbundenen und empfundenen sozusagenen Neuanfangs, ich genieße vielmehr das Verlöschen einer Schwere, die mich (offenbar) belastet hat. Haben könnte. Ich weiß nichts (mehr) von einer vergangenen Schwere, aber - auch das ist interessant - ich ziehe die Möglichkeit ihres Gewesenseins in Betracht. Ziehe ich. Ich ziehe - denn Denken ist eine Form von Bewegen -, ich ziehe mir ein Bildnis von Schwere vor mein inneres Erscheinen. Wie eine Leinwand, von der imaginären Seite hereingezogen mit mir vorgestellten eigenen Händen, aber es ist eine unerinnerte Schwere, was ist das? Was ist Schwere anderes als ein Wort? Ein diffuser dunkler Fleck auf weißem Grund. Konturlos, die Leinwand fast ganz ausfüllend, wie ausgegossen, davor geschüttet, oder mit einem großen, breiten Pinsel dick aufgetragen, erdrückend dick, die Farbe schwarz, anthrazit, ein Stich dunkelblau, aber nur ein Fleck, keinerlei konkrete Erinnerung, ich müsste meine Fantasie bemühen, mir eine auszumalen. Also male ich, sprichwörtlich mit erdachten Pinseln und Farbe, weiß aber, dass ich nur male - und nicht erinnere.
Ich atme diesen Körper nicht,
diesen Körper atm' ich nicht!
Ich male, ein Mann zu sein, kein Zweifel, aber schon beim Bestimmen meines Alters muss ich passen. Erwachsen bin ich, aber ob 20 oder 50 oder noch älter? Vielleicht nicht gerade 20, diese Zahl erscheint mir doch zu jung. Immerhin. Ich male mich mir also älter aus, doch im Übrigen verbinde ich nichts mit mir. Ich weiß nicht, ob ich laut oder still bin, konfrontativ oder ausweichend, mutig oder feige, offen oder verschlossen, klar oder umschreibend, fordernd oder devot, authentisch oder ehrlich ... authentisch oder ehrlich? Master or Slave, bin ich denn wahrhaftig? Wie bin ich? Das Gemalte ist eine Fratze, nicht ich?
Ich atme diesen Körper nicht,
diesen Körper atm' ich nicht!
Ich atme diesen Körper nicht,
diesen Körper atm' ich nicht!
Hatte ich eine Frau? Hatte ich Kinder? Und habe ich sie verloren? Es nicht geschafft, sie wahlweise zu ernähren oder zu lieben? War sie krank? Die Frau? Waren sie, die Kinder krank, oder eines? Oder war ich selbst krank? Schwer krank? Oder unglücklich? Unglücklich verliebt? Hatte ich vielleicht Feinde, die mir zugesetzt haben? Lebe oder lebte ich in einem politischen System der Repression? Eingeschlossen in einem Bürgerkrieg? War ich darin gefangen? Im Krieg? Ein Folteropfer? War ich Zeuge oder Opfer von Gewalt? Oder war ich Täter? Habe ich nicht vor vielen, vielen Jahren einem anderen, zum Beispiel einem Jungen in meinem Alter mit schmutzigen, strähnigen Haaren, einem Jungen in einem billigen, dunkelblauen, osteuropäischen Trainingsanzug mit hellen Seitenstreifen und schlecht funktionierenden Reißverschlüssen, habe ich nicht so einem Jungen, während er von meinen (sehr kräftigen) Komplizen festgehalten wurde ... bin ich nicht von so einem Jungen, während seine (sehr kräftigen) Komplizen mich festgehalten haben ... und sie mich ... haben sie mich ...?
Ich atme diesen Körper nicht,
diesen Körper atm' ich nicht!
Ich atme diesen Körper nicht,
Das plötzlich eruptierende Gefühl von Enge, Fesseln, Opfer sein, und Wut, gefesselte Wut, fürchterliche Wut mit platzenden Äderchen, Zittern und sprühendem Speichel, immer wütender wütender wütender werden, die Fesseln zersprengen und sich rächen. Endlich.
Diesen Körper atm' ich nicht!
Ich atme diesen Körper nicht,
diesen Körper atm' ich nicht!
Ich höre noch immer die Bachkiesel und das Wasser miteinander spielen. Und der Wind ist noch immer mild und freundlich zu meiner Haut. Ich fühle Gesicht, Arme, Bauch, Beine. Als hätte ich nie geatmet, strömt die milde Luft wie von selbst in meinen Körper. Noch immer liege ich auf einer Waldlichtung und höre mit geschlossenen Augen die Insekten; und die Vögel; und ich rieche Baumharze und anderen Feld-Wald-Wiesen-Düfte. Und ich weiß noch immer nicht, wer ich bin. Ich lasse die Augen geschlossen.
Ich atme diesen Körper nicht.