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Gänse im Park

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Man fährt Leon, mich, zu den im Nirwana des östlichen Sauerlandes gelegenen Westfälischen Heilanstalten für traumatische Reinkarnationsmedizin, kurz WestHeil, die bundesweit größte Rehaklinik für all jene, die den eigenen Tod überstanden haben.

Die Anstalten sind quasi alleiniger Arbeitgeber des 5000-Seelennestes Ambach a.d. Schwalle (ein Nebenfluss der Diemel) und wurden in den 1850ern als Irrenhaus zur Ver- oder vielmehr Entsorgung von durchgedrehten, heimatlosen männlichen Umhertreibern gegründet, die in der Gründerzeit des sich rasant industrialisierenden Ruhrgebiets anders nicht mehr zu kontrollieren waren. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde hier das erste Mal modernisiert und ein Wegsperrturm für besonders harte Fälle aufgestellt, um an den weniger harten gewisse Freiheiten ausprobieren zu können. Im Ersten Weltkrieg war die Anstalt dann psychiatrische Durchlaufstation für traumatisierte Soldaten, die man hier mithilfe von Elektroschocktherapien und Eiswasserbädern wieder fronttauglich machte, und in den 1933ern erhielt der Komplex ein Unterzentrum für neurologische Spezialfälle und wurde mit einer ganzen Batterie von an Grausamkeit nicht mehr steigerungsfähigen Versuchslaboren nebst angeschlossenen Einrichtungen des staatlichen Euthanasie-Programms ausgestattet. Noch in den 1970ern um eine Spezialklinik für Schizophrenie und anverwandte neurologisch-psychiatrische Krankheitsbilder auf über 30 Hektar erweitert, standen die Anstalten nach dem großen Kliniksterben der 80er und 90er Jahre vor der Schließung und waren daher für die Gesellschaft ein gefundenes Fressen, das sie sich, unterstützt von staatlichen Finanzspritzen und günstigen Investorenkrediten, mit Mann und Maus einverleibt hat. Dabei war ein Hauptgrund, sich für diesen Standort zu entscheiden, neben dem brachliegenden therapeutischen Know-how ein forschungs- wie auch vermarktungstechnisch hochinteressantes, seit anderthalb Jahrhunderten stetig gewachsenes Archiv zahlloser, gut dokumentierter Fallstudien zur abgründigen Grenzwelt zwischen Körper und Geist, die sich auch in Zeiten der Reinkarnationsmedizin dem wissenschaftlichen Blick aufs Uneinsichtigste verweigert.

Angesichts der steigenden Zahl unsterblichkeitswilliger Kundschaft ist die Professionalisierung des Reinkarnationswesens längst überfällig. Noch sind wir eine kleine elitäre Minderheit, noch verhindern die hohen dauerhaften Kosten, aber auch weitverbreitete persönliche Vorbehalte und die schlichtweg allzu begrenzten Kapazitäten, dass derzeit kaum anderthalb Prozent der Bevölkerung die Dienste der Gesellschaft in Anspruch nehmen. Aber auch von dieser einen Millionen Kunden, die sich nur in Deutschland mittlerweile regelmäßig scannen lassen, kommen im statistischen Mittel täglich 50 bis 60 ums Leben - bzw. eben nicht ums Leben, sondern müssen reinkarniert werden; Tendenz steigend. Inzwischen sind viele Kliniken mit den entsprechenden intensivmedizinischen Techniken ausgestattet, um die eigentliche Reinkarnation vor Ort durchzuführen - seit Neustem können die Backups von der Landes-Scan-Zentrale im bergischen Neustadt sogar online in die jeweiligen Fachkliniken übertragen werden -, aber fast jeder bei der Gesellschaft versicherte Todesfall landet nach Wiedereinspielung und Rekonstruktion des Gehirns, nach Beendigung der Akutphase und Stabilisierung der Körperfunktionen irgendwann in einer der mittlerweile 12 Rehakliniken (europaweit sollen es über 30 sein und weltweit ist die Zahl dreistellig). Allein die WestHeil nehmen täglich 10 bis 12 Fälle auf. Bei einer mittleren Verweildauer von ein bis zwei Monaten kann man sich daher vorstellen, dass die derzeit 400 zur Verfügung stehenden Betten förmlich aus den Nähten platzen. Die Bautätigkeiten auf dem Gelände sind allgegenwärtig, 600 Betten sind das nächste Etappenziel, und parallel wird in Xanthen ein weiteres Gelände allein für die Region Niederrhein erschlossen.

Am Empfang in einem nach Lack und Zementstaub riechenden, erst kürzlich fertiggestellten Neubautrakt wirst du gleich bei der Ankunft für diverse Therapien angemeldet. Deinen Rollstuhl haben die Fahrer wieder mitgenommen und so stehst du aufrecht, aber verloren am Tresen. Sylvie kümmert sich, Sylvie, die nach dir losgefahren, aber vor dir hier eingetroffen ist, Sylvie hat das alles irgendwie gemanagt und du musst nur noch Papiere unterschreiben, was allein schon ein Akt der Unmöglichkeit ist. Siedend heiß geht dir durch Mark und Bein, dass du deine Unterschrift gar nicht kennst. Du beugst dich mit einem orangefarbenen Kugelschreiber, auf dem das Sonnensymbol der Gesellschaft aufgedruckt ist, über die Ausdrucke, deren Inhalte du nicht kennst und die dich auch nicht interessieren - du willst nur eines wissen: Wie um Himmels willen unterschreibt ein Leon Petrović?

Alltägliche Situationen sind die gefährlichsten. Lerne den Alltag, sagst du dir immer, lerne ER zu sein, aber jetzt ist es zu spät, und nur weil du meinst, irgendwo in den Unterlagen der Kognitionstherapeutin SEINE Unterschrift gesehen zu haben, und dir dazu ein irgendwie schneller, waagerechter, fast linearer Strich durch den Kopf geistert, aus dem das 'Petrović' praktisch nicht abzulesen ist, oder du dich gar nicht erinnerst, den je gesehen zu haben, sondern dieser Strich in deinem Kopf eine Restinformation des alten Besitzers dieses Körpers sein könnte, theoretisch, nur deswegen krakelst du mit einem Gefühl von Ohnmächtigwerden etwas auf das Papier, von dem du schon auf halber Strecke feststellst, dass es niemals so schwungvoll, wie dir die Erinnerung vorgegaukelt hat, von diesen immer noch wie geschwollen erscheinenden Monsterhänden gezeichnet werden kann.

Sylvie sagt nichts. Du wiederholst das Gekrakel auf dem nächsten Blatt, die Mitarbeiterin am Empfang scheint einiges gewöhnt zu sein und wirkt kein bisschen irritiert, noch ein Blatt und noch eins, und erst, als ihr die Pforte verlassen habt und auf dem Weg zum Zimmer seid, fragt Sylvie:

»Was ist mit deiner Unterschrift?«

Du zuckst mit den Schultern, siehst weg, in offene Türen, hinter denen Betten gemacht werden. Ihr geht den Gang hinunter und fahrt im Aufzug hinauf, was sollst du auch sagen?

Was soll ich auch sagen? Ich habe meine Unterschrift vergessen, warum nicht? Warum nicht auch das?

Du bekommst ein Einzelzimmer mit Bett, Tisch, Stuhl, Schrank und Nasszelle. Sylvie stellt den Rollkoffer (den sie geschoben hat, sie, du weißt nicht einmal, was darin ist) in die Ecke, alles ist beige und naturfarben und aus Holz oder so, sie packt dich und dreht dich zu sich, als wärst du eine Puppe, und als ihr euch gegenübersteht, siehst du ein Monster im Wandspiegel hinter ihr und sie sieht einen, von dem etwas in ihr ahnt, dass du der nicht bist.

»Leon ...«, sagt sie, es klingt wie ein Seufzer, wie eine erzwungene Entspannung, gelöst, aber nicht wirklich, sie legt dir ihre Arme um den Hals, sieht dir - sie ist kleiner - von unten herauf in die Augen, dir schwindelt, deine Brille oder vielmehr dein Augenlicht ist diese Nähe nicht gewohnt, trotzdem setzt du ein tapferes Lächeln auf, was dir sogar zu gelingen scheint, denn sie wiederholt dieses »Leon ...« auf eine dich ängstigende, vertraut wirkende Art, lieber Gott, mach, dass diese Fremde nichts bemerkt, denkst du, und dass das, wenn man nicht an einen Gott glaubt, ein ziemlich sinnentleerter Hilferuf ist. Sie sieht dich an, dringt dir ins Hirn, natürlich nicht, aber sie sieht dich an als ob. Du versteifst, du spürst förmlich, wie du zu einem Stein wirst, und du kannst nichts dagegen tun, aber sie merkt es auch, bremst sich mitten in der Bewegung, die ein Kuss oder so etwas hätte werden sollen, aus, stattdessen krallt sie ihre Finger in deine Schultern, als wolle sie das Harte zerquetschen.

Sie gibt nicht auf. Gibt DICH nicht auf.

»Lass uns etwas hinausgehen«, sagt sie, »auspacken kann ich später noch ...«

Ich? Wieso du?

Das Wetter ist frühsommerlich, und also geht ihr, als wäre nichts geschehen oder das hier die normalste Sache der Welt, im Park der Rehaklinik spazieren. Sonnig, warm, grün usw., und Sylvie redet, und du gewöhnst dich an ihre Stimme täglich mehr, das gläserne Klirren der ersten Worte ist einem hellen, fast mädchenhaften Klang gewichen, der sich mit der Milde des Klinikparks zu einer wohltuenden Einheit verbindet. Auch eine Leistung des Gehirns, denkst du, wunderbare Anpassungsfähigkeit, egal, ob nun deine oder Leons.

Wäre nur nicht dieser Schwindel: Das Gefühl, im falschen Körper zu sein, äußert sich immer wieder in Schwindelattacken, insbesondere beim Gehen. Die Augen, die fast 20 Zentimeter höher liegen als 53 Jahre lang im Thomas-Kopf geeicht, die lassen jeden Schritt ins Leere treten. Hinzu kommt die falsche Sehschwäche, statt weit- bin ich nun kurzsichtig, mein Hirn kann oder will sich daran nicht gewöhnen. Und diese Brille zerstört jedes Gefühl für den Raum. Auf den Fluren der Station schaffe ich so leidlich gute Bewegungen von A nach B, aber bei einem plötzlichen Helligkeitswechsel oder auch nur einer Veränderung der Raumtiefe, da spielen die Gleichgewichtsorgane verrückt. Die Welt dreht sich, und ich habe das Gefühl, zu fallen, nach vorne oder in alles vor meinem Gesichtsfeld. Das ist wie ein regelrechter Sog, ein fast aktives Bedürfnis, sich ins Vor-mir hineinzustürzen, das einhergeht mit Übelkeit und einem dumpfen Pfeifen im Ohr. Ein Gefühl, das ich nur von Kirmesgeräten oder als Seekrankheit kenne, beides vermeidbar, aber das hier, jetzt, leider nicht. Immer wieder nehme ich die Brille ab, genieße die Unschärfe und versuche, mich nicht zu konzentrieren, mich auf nichts zu konzentrieren, oder aber im Gegenteil einen Punkt im Raum zu fixieren.

Sylvie, die das schon kennt, hält dich, stützt dich alten Greis, der du geworden bist, Sylvie, deine theoretische Ehefrau, ist wie eine der vielen Krankenschwestern, die an dir Dienst am Menschen tun. Du lässt sie gewähren an diesem kräftigen, doch nun hilfsbedürftigen, führerlosen Körper, du lässt sie dir unter die Arme greifen, bis die nächste Schwindelattacke vorbei ist. Bis die Fallsucht einem halbwegs kontrollierbaren Augenzittern gewichen ist, dessen fehlerhafte Mitteilungen an das Gehirn von diesem ausgeglichen werden können, wie bei einer modernen Digitalkamera.

Ihr bleibt verbunden. Sie hakt sich bei dir ein, vermeidet es aber, dich an der Hand zu halten. Du vergegenwärtigst dir zum wiederholten Male, dass du Sylvie noch immer nicht geküsst hast. Nicht einmal geküsst. Nicht einmal geküsst. Die ganze Welt wartet auf diesen Kuss, gerade eben, das wäre die Gelegenheit gewesen, der erste Kuss ist wie eine

Initiation. Kuss und gut.

Aber: Auch die Art, wie du küsst, könnte dich verraten, oder?

Du denkst: Sylvie ist nicht mein Typ. Nicht wie Franka (oh Mann, immer Franka, Franka, Franka), Sylvie ist das Vollweib, gegen das Franka fast androgyn war. Franka war blass, wohingegen Sylvies Haut nach den ersten Sonnenstrahlen dieses Frühlings bereits eine kupferfarbene Patina angesetzt hat. Du bist zu Sylvie gekommen wie die Jungfrau zum Kinde, du hast plötzlich eine Beziehung mit einer Frau, ohne sie jemals auf die natürliche oder normale Art kennengelernt zu haben. Du betrügst und weißt nicht wen. Leon? Den echten Leon, den es nicht mehr gibt? Nein, ich betrüge sie, ich vergehe mich an ihr. Solange ich in der Rehastation bin, nur theoretisch, aber ich kann dieses Spiel anschließend weitertreiben, wenn ich entlassen werde, ich kann ihr den Leon machen, vielleicht. Denn Sylvie wird täglich mehr für dich (allein es fehlt der Kuss).

»Wovor hast du eigentlich Angst?«, fragt Sylvie. (Sie meint nicht den Kuss.) (Meint sie nicht? Vielleicht doch.)

Ihr kommt zu einem Teich. Enten, wilde Gänse und Seerosen, die Ufer sind mit Holzpflöcken befestigt, und ringsherum locker verteilt stehen alte, hohe Bäume, die jenseits des gegenüberliegenden Ufers nur paar Meter bis zu einem Bauzaun reichen, hinter dem ein vielstöckiger Rohbau hochgezogen wird. Baukräne, Baufahrzeuge, schwebende Lasten, Stahlmatten und der allgegenwärtige Geruch frischen Betons; überall Arbeiter in den Gerüsten und du denkst: Das war mal mein Job gewesen. Der Bauzaun ist mit Folien verhangen, auf denen für die Unsterblichkeit geworben wird, aber es gibt genug Lücken, um hindurchzusehen, sogar dass eine uralte Eiche innerhalb des Baufeldes nicht gefällt worden ist, sondern mit einer Bretterummantelung geschützt wird. Ein bisschen alter Baumbestand macht was her, denkst du, wenn mit so einem architektonischen Trümmer der halbe Park geschliffen wird, und dass es für Bäume wohl noch keine Reinkarnation gibt.

In dem seiner einstigen Weitläufigkeit beraubten Parkrest drängen sich die Patienten, Fremde wie du, die du in den nächsten Wochen genauso kennenlernen wirst, wie dich selbst. Und bei ihnen andere Leute, Besucher, Familie. Wie bei dir.

Die letzten zehn, zwanzig Meter Gehen habe ich alleine geschafft, frei, zittrig, schlurfend, staksend, ich komme mir vor wie ein Alkoholiker, aber sowohl die langen Beine als auch die Augen (oder Brille) haben mitgespielt. Trotzdem bin ich froh, mich kurz an dem Holzgeländer festzuhalten, das den Weg von dem Teich trennt. Was sagte sie? Worüber hat sie gesprochen? Ich sollte auch mal reden, denkst du, schaust Sylvie aber nur an, fragst dich, wie Leon jetzt reagieren würde, du hast längst herausgefunden, dass Leon nie lange geschwiegen hat. Du schon.

»Nur für ein paar Stunden«, sagt Sylvie, als du nichts sagst. »Das sagt die Therapeutin doch auch. Am Anfang ein kurzer Besuch, ... sich das eigene Leben wieder erschnüffeln ...« Ihre Hoffnung, dass zu Hause auch deine Erinnerung wieder kommt, oder durch die körperliche Nähe. Sie schmiegt sich wieder an dich, doch diesmal nicht, um dich zu stützen, sondern als deine Frau. Obwohl sie groß ist, bist du noch größer, immer noch ungewohnt, dass du einer großen Frau den rechten Arm um die Schulter legen kannst; sie greift mit ihrer linken Hand nach deiner rechten und zieht sie unter ihrer rechten Schulter hindurch, sodass du ihren Busen fühlst, erst ihre rechte Brust, dann, noch weiter gezogen, ihre linke. Sie presst deine Hand auf das Weiche, so fest, dass du ihr Herz klopfen spürst. Zugleich legt sie ihren Kopf gegen deine Wange, dreht sich ein wenig in dich hinein, überlässt deine Hand ihrem Busen und schiebt ihren Arm nun um deine Taille.

»Nur ein Schnupperkurs, hm ...?«, und sie schnuppert an dir und du kannst dich selbst nicht riechen.

»Wie war ich ... früher?«, fragst du.

»Ach Leon, das fragst du ständig!«

»Ich will nur versuchen ...«

»Versuchen! Komm und dann siehst du's, dann wirst du dich auch

... erinnern ... mein Gott Leon, du erinnerst dich doch an ... zu Hause ... uns!?«

Ihre Überzeugtheit, die sie eben noch besaß, ist dahin. (Oder war eh nur gespielt) (?)

Du: »Jaaa ...!“

Sie sieht zu dir hoch. Eine der Gänse ist die grasbewachsene Uferböschung hochgewatschelt und steht auf der anderen Seite des Geländers. Den Kopf provozierend vorgestreckt. Sylvie schaut abwechselnd zu dir und zur Gans, will dir irgendwas sagen, du müsstest etwas wissen: »Erinnerst du dich wirklich?«

»Ja doch ...!«

Die Gans macht »Kchchch...!«, streckt ihren Hals, reißt den Schnabel auf und zischt und faucht.

»Hm ...?!«

»Was ...?«

»Leon, die Gans ... du ... sagt dir das nichts? Du hast immer ...«

»Ja doch!«

»Du erinnerst dich?«

»Ja ...«

»Wirklich?!«

Sich jetzt fallen lassen. Sich ihr anvertrauen. Sich überhaupt irgendjemandem anvertrauen. Nicht mehr können. Es nicht mehr mit sich selber ausmachen müssen. Reden. Zugeben, nicht ihr Mann zu sein.

Du sagst nichts, kannst ihr nicht in die Augen schauen, du löst dich von ihr, beugst dich unter Zwang über das Geländer zu dem Vogel, der halb aus deiner Hand fressen und halb mit dir kämpfen will. Du stützt dich in Erwartung einer neuen Schwindelattacke, die aber ausbleibt, auf das graue, angewitterte Holz. Der Teich ist flach, mehr eine große Pfütze als ein Teich, und trotzdem haben sie unterhalb des Holzbalkens einen Maschendraht angebracht, sodass niemand einfach durchschlüpfen und sich ertränken kann, oder einfach hineinfällt und mangels empfundener Gegenwärtigkeit (die man auch 'ich' nennt) mit dem Gesicht nach unten in der Pfütze liegen bleibt (solche Leute haben sie hier).

Du spürst, wie Sylvie dich genau beobachtet. Es wird da ein Erlebnis gegeben haben, oder ein sich wiederholendes Ereignis, ein Spiel, mit Sylvie am Wasser, Gänse, und Leon hat irgendetwas gemacht, hat mit den Gänsen ... ja was verdammt noch mal?!, was macht man mit solchen Scheißviechern? Der Gänserich schimpft mit dir, du Tor, mach!, ruft er, zischt er, nun mach schon! Aber was? Ein Spiel, du ahnst ein Spiel, nicht nur etwas Einmaliges, es gibt vielleicht irgendwo bei Leon, bei DIR zu Hause einen ähnlichen Teich, mit Gänsen, oder es ist ein Bauernhof, du weißt, dass ihr am Stadtrand wohnt, vielleicht zieht dort ein Landwirt Weihnachtsgänse auf, und ihr habt einen gemeinsamen Weg, den ihr regelmäßig geht, an dem Hof vorbei, oder - der Rhein ist dort in der Nähe, Rheinauenlandschaft, und ihr, Arm in Arm, vielleicht gibt es am Rhein irgendwo Gänse?

Und wenn, hast du sie gejagt? Mit Gebrüll? Nein, das würde nicht passen, es ist etwas WAGEMUTIGERES, was Sylvie erwartet. Vorsichtig, in Zeitlupe, streckst du die Finger nach dem Tier aus, das sofort fauchend zuschnappt, aber noch schneller hast du deine Hand wieder bei dir. Du schüttelst sie, als ob du sagen wolltest, hoppla, das war knapp. Dabei schaust du dich um, und Sylvie sieht dich traurig an und sagt kein Wort, und du erahnst im selben Moment den gequälten Ausdruck deines eigenen uneigenen Gesichts. Sylvie hat ihre Hände an ihre Brust gedrückt, den Kopf gesenkt, sodass ihr Kinn die Finger berührt. So sieht sie dich wie von unten herauf an, zweifelnd, als würde sie sich fragen, ob du immer noch tot bist.

Der Zwilling

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