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Eine fremde Welt betreten

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Eine fremde Welt betreten. Sich einen Moment erzwingen, ein Beisichsein, wo nichts ist, als Sichverlieren. Eine fremde Welt, die mich träumen lässt, sie wäre ich.

Eine fremde Welt scheißen. Eine fremde Welt ausscheißen. Sie in Besitz nehmen, indem man sie oder sich in ihr vollscheißt. Darin schwimmen, wie ein Baby, in der eigenen feuchten, wunden Hitze.

Stelle sich mal einen Wurm vor, einen, zum Beispiel, Regenwurm, dem man das eine Ende zertreten hat, versehentlich, und dem man diese zertretene Hälfte abgetrennt hat, abgeschnitten mit einem Skalpell, und der innere Tunnel der gesunden Seite plötzlich wie an einem offenen Ende angekommen ist. Es ist der Moment, sich im Nichts zu verlieren, oder aber als Tunnel gerettet zu werden, indem man einen anderen aufgeschnittenen Wurm nimmt und an ihn andockt, sodass der offene Tunnel des ersten Wurms in den Tunnel des zweiten übergeht, und der erste Wurm sozusagen in dem zweiten weiterkriechen kann. Der Tunnel, das Hohle, ist ein Kriechen in der Zeit, der Tunnel, der sich selbst fortführt in vermeintlicher Kontinuität, der sich selbst in das neue Hohle hineinkriechend macht, das neue Leere gewissermaßen, er selbst ist das Nichts. Das, das fortgesetzt träumt.

Bin ich schon fertig? Bin ich fertiggeschlafen? Habe ich? Ein Film, am Ende, Schlussszene, zwei Männer und eine Frau, nackt, auf einem großen Bett, ach Franka, die Frau war schwanger und der Film ist von Tom Tykwer.

Warum aber erwache ich nicht, wenn ich doch fertig bin? Fertiggescannt. Warum entgleite ich mir immer wieder, ist es so schwer, aus der Tiefenhypnose wieder herauszukommen? Halbe Stunde, nicht länger, hat sie gesagt, die Assistentin, oder war es ein er?, oder wer? Keine zwei Stunden mit Film, du aber hast das Gefühl, schon ewig hier zu liegen. Nicht einmal das Atmen ist spürbar, nur dass immens viel Zeit vergangen ist oder vergeht.

Und plötzlich beschleicht dich ein ganz anderes Gefühl. Eine Ahnung, warum das hier alles so schleppend geschieht. Warum du nicht atmest. Warum du nicht einfach erwachst und aufstehst und nach Hause fährst. Warum du das Gefühl hast, nicht mehr im Schlaflabor zu sein.

Schlaflabor? Welches Schlaflabor.

Verblassen von etwas, Ahnen von etwas anderem.

Bin ich tot?

Habe ich mich umgebracht? Die Frage steht im Raum, der Raum ist ein Traum ist ein Kinderreim, den ich nie gesungen habe, nicht mal kenne. Fremdes Kind? In mir? Oder ich in ihm? Nein, ich weiß doch, dass ich schlafe, ich träume, aber die Selbstmordfrage hat mich aufgeschreckt, aufgeweckt, sie hat dieses Plötzliche, dieses Siedendheiße, dieses Entsetzen, wenn dir auf einmal klar wird, dass nichts mehr so sein wird wie vorher! Dass ... zum Beispiel, dass da ein Kind fehlt. Und nicht mal wissen, welches? Ich habe gar keine Kinder! Oder man den Stick mit der Präsentation vergessen hat, wenn man bereits neben dem Beamer steht und einen alle ansehen, besonders, weil man es sowieso hasst, einen Entwurf zu präsentieren ... - habe ich mich umgebracht? Ich atme nicht! Ich atme nicht - ich atme! Ich atme nicht und doch zugleich, etwas atmet, etwas atmet mich, eine Maschine atmet mich, plötzliche, überwältigend große Angst, schiere Panik, symptomlose Panik, kein niemand, nichts, das zu Symptomen fähig wäre, ich entgleite mir, ich falle, Fall und

Aus ...

Später: Du erinnerst dich an diese Angst. An diesen Moment der Erkenntnis, von einer Maschine geatmet zu werden, bevor du dich wieder verloren hast, und es liegt schon wieder ZEIT dazwischen, du bist wieder eingeschlafen gewesen, das Gefühl JETZT ist ein anderes als während dieses panischen Erschreckens, das Gefühl jetzt ist ein nicht mehr so atemloses, körperloses, eher ein 'ich spüre, fühle, ich bin'. Nichts Erschreckendes also nun. Und obwohl Thomas die Augen geschlossen hat, ahnt er, dass es hell ist, und er stellt sich ziemlich realistisch vor, gleich in einem Krankenzimmer zu erwachen, möglicherweise angeschlossen an Geräte und eben eine Beatmungsmaschine, aber nichts, das wehtut, vielleicht noch nicht.

Ich atme.

Augen?

Geschlossene Augenlider schmecken bei Lichtverhältnissen süß, himbeersüß, und dann riecht er auch ein Geräusch, es ist das schon erwartete, das dazugehört, das gleichmäßig regelmäßige Aufblühen und Vergehen des Kümmelgeruchs eines EKGs, ich rieche meine Herztöne. Und gleichmäßig heißt, es scheint mir trotz allem gut zu gehen (aber trotz allem was?)! Man kann auch die Vögel riechen, von draußen, Frühlingszitronenschwaden, ich habe geschlafen wie ein Toter, und er fragt sich, woher er diesen Humor hat, angesichts dessen, was zu erwarten ist: Ein Erwachen zwischen Leben und Tod, mein Körper schwer angeschlagen, mit womöglich schrecklichen Ausfällen, fehlenden Gliedmaßen oder Lähmungen, die Aussicht, ein Krüppel zu bleiben! Aber ich habe mich nicht umgebracht. Das wäre unlogisch, und dann erinnert er sich auch (und endlich!), dass er sich hat scannen lassen, dass er ein Backup seiner Seele hat anfertigen lassen. Was nicht mehr Seele heißt, sondern Hirnscan. Ein kleines Vermögen, das er dafür bezahlt hat, unsterblich zu sein! Und das jetzt jeden Monat?

Atmen, das plötzlich schmerzt. Und wieder eine unerwartete Panikattacke: Ich bin gestorben, muss gestorben sein, ich erwache ganz offensichtlich nicht in dem Institut, ich bin nicht gerade eben gescannt worden, sondern weiß der Henker wann? Der Henker oder wer auch immer mich umgebracht hat. Nein, nicht ich habe mich, habe ich doch? Und dass ich hier liege und zu mir komme, langsam oder jetzt gerade viel zu schnell, das heißt doch - das heißt doch - das heißt doch - dass ...

ES FUNKTIONIERT!!!

Die Angst verwandelt sich in eine irre Freude, die genauso in dir explodiert wie die Angst, aufspringen wollen und brüllen vor Freude, was Thomas natürlich nicht tut, aber der Impuls, sich zu extrovertieren, der ist überwältigend. Es funktioniert!!! Es funktioniert bedeutet, dass - Trommelwirbel, Tusch - Thomas Vanderra von nun an ein Unsterblicher ist, meine Damen und Herren, sehen Sie hier den unsterblichen Thomas Vanderra, den Mann, der nie - nie nie nie mehr - sterben wird. Hyperventilierendes Freudenkonzert, atmen, Atmen tut weh! Obwohl mein Körper reglos bleibt, ist da ein Sturm aus Lachen und Jubeln in mir, ich könnte wen auch immer umarmen, die ganze Welt meinetwegen, oder auch: Franka.

Ernüchterung, plötzlich ist die Freude weg, so schnell, wie gekommen, Franka.

Ich weine.

Das Weinen geschieht genauso reglos und mit genauso wenig Kontakt zur Oberfläche, wie vorher Angst oder Freude. Ich weine nicht etwa in mich hinein, das hieße ja, das Weinen hätte einen Anfang und eine Richtung, aber so ist es nicht. Es geschieht einfach. Vielleicht geschieht es nicht einmal, sondern ist einfach da. Wie schon immer gewesen, ganz tief in mir drin. So tief, dass man es nicht räumlich lokalisieren kann. In diesem meinem Körper. So tief, dass ich mich stumm in den nächsten Schlaf weine. Franka. So ein Scheiß.

Ich erwache erneut und erinnere mich an die Erkenntnis, Thomas zu sein. Thomas Unsterblich, er war nur wieder eingeschlafen, nichts Besorgniserregendes, der Thomas oder der neue Thomas, noch immer weiß ich nicht, was geschehen ist, wie ich gestorben bin, ich spüre aber immer mehr meinen Körper zurück. Der sich noch fremd anfühlt, oder ungewohnt, aber das mag mit den Verletzungen zusammenhängen, die ich unweigerlich haben muss.

Ich gehöre zu denen, die es geschafft haben. Die der Unausweichlichkeit des Todes eine lange Nase machen. Meilenstein in der Geschichte der Menschheit, und was für einer, seit ein paar Jahren dürfen wir unsterblich sein, die letzte Bastion der Religion ist genommen, die Seele gehört nicht mehr diesem ominösen Gott, den wir uns im Angesicht des Todes ohnehin nur ausgedacht haben, sondern endlich uns! Die Seele, die Seele, ich ich ich, ich lebe! Gehört die Seele denn jetzt uns? Mir? Thomas erinnert sich, bevor er selbst den Vertrag unterschrieben hat, ein Kritiker der Reinkarnationsmedizin gewesen zu sein, und der Gesellschaft, die sie betreibt. Gehört die Seele statt Gott jetzt mir? Oder der Gesellschaft? Ach Thomas, was für unsinnige Fragen angesichts der freudentaumelnden Tatsache des buchstäblich nackten Überlebens, angesichts dieses meines Erwachens, dieser Erkenntnis, ich bin unsterblich, quod erat demonstrandum!

Thomas konzentriert sich in sich hinein, bergab sozusagen, aber nein, er vermutet, dass er liegt, also nicht bergab, sondern sozusagen rumpfabwärts. Und dass bei diesem inneren, mit geschlossenen Augen durchgeführten Forschen die Hände das Erste sind, was er hört. Nein, ich höre nicht, ich fühle! Höre? Greifenklang, ein Werkzeug spielen, die Finger sind der angeschwollene Gesang der Tuba, sie klingen zum Platzen prall, auf beider Hände Seiten, eine vorsichtige Bewegungsprobe - kaum mehr als ein Zucken - bringt Aufschluss: Ich habe laute Hände. Oder glaube, laute - ich meine: große Hände zu hören, nein, anders, großer Hände gewahr zu werden. Sie klingen, nein, liegen - eindeutig - auf Stoff. Die Bettdecke, die wie ein Kontrabass dröhnt, ist getrennt von meinem restlichen Resonanzkörper, durch ihre Schwere ertönt ein Körper, der sich anders anhört, als ich seine Lieder erinnere. Ich höre ihn - mich? - von außen, mit den Händen? Oder von innen, mit meinem Bewusstsein?

Ich bin ein Konzertsaal, offenbar, ich bin ein Riese. Geworden.

Wieder eine Panik, wieder Entsetzen, wieder wieder wieder, ich bin ein Riese ich bin ein Riese ich bin ein Riese ich bin ein Riese! Das ist nicht meine Musik, willst du schreien, will ich, ICH schreien, aber das wäre zu theatralisch, die Panik verfliegt, das ist lächerlich, albern, du bist albern, Thomas, sei froh, dass alles dran ist, dass da ein Rumpf brummt, der dir gehört, und Beine wie Posaunen, sogar die Trompetenfüße erschallen eindeutig lebendig! Du beruhigst dich, lässt die Augen zu und lauschst der sanften Melodie der Bettdecke auf den gekrümmten Zehen. Du spielst sie, diese Zehen, was geht, was sich anhört, nein, anfühlt wie tausend Jahre eingerostet, es knarzt und kratzt, aber es klingt. Du bewegst die Zehentonleiter rauf gegen die Decke, und wieder runter, wie ein Xylofon, erst alle fünf zugleich, dann getrennt, du schlägst den großen Zeh einzeln an, die kleinen im Quartett nach unten und umgekehrt und an beiden Füßen dasselbe Spiel. Warum höre ich meine Hände nicht mehr? Aber - als hätte nur wer auf diese Frage gewartet - da spielt ja eine Hand auf deiner!

Ein plötzlicher Geruch von kräftigem Tee, Pfefferminze? Und gleich wieder vorbei. Dann erneut, ich rieche ein Wort, jemand duftet ein Wort, ich rieche meinen Namen, nein, nicht meinen, aber immer wieder diese kurzen Duftwolken von rechts. Thomas fragt sich ins Lichtdunkelsüße hinein, wer das sein könne, und ob Franka zu ihm zurückgekehrt sei, oder - ein furchtbarer Gedanke - er wegen Franka hier liegt!? Wegen ihr sich umgebracht haben?, manchmal war ich kurz davor (aber nie wirklich!). Muss ich wieder weinen?, was sich in einem Kopf, der so anders ist - so anders, dass, egal, WAS passiert ist, es schrecklich gewesen sein muss -, ganz seltsam anfühlt. Aber er hört die Tränen ganz nah bei sich oder zumindest diese Vorstufe von Tränen, ein plötzliches, Schluckreize verursachendes Zum-Heulen-zumute-Sein, was das ganze Gesicht aufbläst und wie gegen ein Kissen drückt, mit dem man dich ersticken will, es ist, als wäre das Gesicht angeschwollen, furchtbar angeschwollen, und erst jetzt hörst du das falsche Gebiss in dir, die Stellung der Zähne, kleiner Tentakel namens Zunge spielt Klavier, tastet alles ab, hinten eine stille Lücke, zwei Lücken, die Abstände zwischen den Klängen sind zu groß, oder die Klänge zu leise oder der Mund zu groß oder die Zunge zu klein, überhaupt wessen Speichel höre ich gerade, höre ich?, schlucke ich?, ich schmecke ihn nicht und doch zugleich, wen schmecke ich da? Dir kommt ein ekelhafter Würgereiz, die falsche Kehle zieht sich zusammen, als wollte sie die kleine fremde Zunge verschlucken, von jetzt auf gleich spielt dein soeben noch tränennah gewesenes Gesicht eine Schweißperlensonate, voller Hitze, mein Kopf, denkt Thomas, ist unter eine Straßendampfwalze geraten, gewesen, aber ich erwache, reg dich nicht auf, ich ERWACHE! Und das ist das Wichtigste.

Denkt Thomas.

»Leon?!«, riechst du die Stimme erneut.

Für eine gefühlte Sekunde stockt Thomas' Gehirn. Wer? Wer bin ich? Oder war das nur eine sinnliche Ungenauigkeit?, ein falscher Geruch? Ton? Stimme? Doch der Geruch wiederholt sich: »Leon!«, Pfefferminze, aber du riechst gar nicht den Namen, sondern die Stimme.

»Hörst du ... mich?« Hören? Kann man denn Stimmen hören?

»Leon, bist du wach ...?«

Jetzt hörst du sie tatsächlich, natürlich hört man Stimmen, wie konntest du was anderes denken? Sie klirrt oder kratzt, die Stimme, sie riecht nach Glas - nein, sie KLINGT nach Glas, und hat zugleich etwas Ersticktes, Angstvolles, und dann eine andere Stimme, männlich (was überhaupt dazu führt, die erste Stimme als weiblich zu identifizieren), die duftet beruhigend auf sie ein, auf die Person, die dich Leon nennt.

Ich will nicht wach werden.

Du weißt, dass Nicht-wach-werden-Wollen nur ein Fluchtreflex ist, weißt du?

Ja, ich will weg!

Aber Thomas kann die unbekannte Hand auf seiner (meiner?) Hand nicht abschütteln, er versucht es nicht einmal, er hat Angst, diese Hand zu bewegen, er ist viel zu befangen, das erste Mal in seinem Leben diese, diese Hand zu bewegen, die Zehen sind kein Problem gewesen, aber die Hand, die Hand, die ist nicht nur zum Greifen da, die Hand macht viel mehr als funktionieren, sie macht etwas, was mit anderen Händen zu tun hat, aber was nur, was? Um Himmels willen, WAS???

Viele Jahre später erwacht Thomas noch immer in einem Krankenzimmer. Mit offenen Augen, die im Dunkeln und aus diesem Liegendwinkel nur an den Sichtfeldrändern Dinge unscharf wahrnehmen, z.B. Geräte, die leise regelmäßige Töne von sich geben, und ein Fenster (Vorhänge?), ja, es ist dunkel, er ist nicht blind oder so etwas, es ist einfach nur tiefe Nacht. Es ist auch nicht viele Jahre später, das war nur ein Gefühl von unbeschreiblich großer Distanz gewesen, zeitlich, vielleicht auch räumlich, ich schaue in die unendliche oder auch ewige Nacht und versuche, nicht zu denken, oder die Gedanken nicht zu quälen, sie einfach vorüberziehen zu lassen, Gedanken von Arbeit, ich denke Arbeit, Entwürfe, ich denke Hausbauen, ich denke Büro und Landesbauordnung und Brüstungshöhen von Balkonen ...

»Leon?« Als zerbräche Glas.

Es ist wieder Tag. Fremden Speichel erzeugen und mit fremden Zähnen und einer falschen Zunge das Nasse in der unbekannten Mundhöhle zerkauen, schon wieder Ekel, wieder Würgen, ich muss mich zwingen, diesem Mund fernzubleiben, denk lieber an die Hand, oh, Hand auf Hand, wieder Hand auf Hand, da ist sie wieder, ich habe so schön geträumt, ein warmer satter Traum, der glücklich macht, aber schon ist er weg, nicht die kleinste Erinnerung, weggeschoben von diesem fremden Namen, dieser fordernden Stimme, ich erinnere mich an diese Stimme, diese fremde, nach Pfefferminze schmeckende Stimme, nein, das ist nicht Franka, nein, das ist sie nicht. Aber ich habe sie schon einmal gerochen, neulich erst, im Bus, wir haben im Bus nebeneinander gesessen, und die Stimme hat meine Hand gehalten, und ich hatte die Augen geschlossen, habe gelegen, aber wie? Im Bus gelegen? Erinnere ich mich an den Unfall? Plötzlich bist du dir sicher, dass es ein Unfall war, obwohl du weißt, dass das nicht möglich ist, sich daran zu erinnern, die letzte Erinnerung eines von den Toten Auferstandenen ist der Moment des Gehirnscans, mehr geht nicht. Das haben sie dir gesagt. Unmöglich. Und schlagartig hast du deine Augen offen!

Und:

Irgendetwas ist ERSCHRECKEND (nur was?)!

Die fremde Frau, die deine Hand hält, Schwester?, Doktor?, sie trägt keinen Kittel, du siehst aus der Perspektive des Liegenden ein Frauengesicht hoch droben, unscharf, wegschwimmend, blinzel, Thomas, blinzel! Doch im Blinzeln fallen die Lider wieder in sich zusammen, mit jedem Lidschlag ändert sich die Farbe des Lichts ...

[Klack]

Grün ...

[Klack]

Rot ...

[Klack]

Blau ...

[Klack]

Die Augen implodieren, du implodierst, und dein Gesicht schrumpft wie ein zerstochener Ballon zusammen, du fällst aus dir selbst hinaus, raus aus dem Gesicht, raus, durch deine dir fremden Augen nach oben weg hinaus.

Dann: Du atmest, doch es ist nicht dein Atem.

»Leon, bitte schau mich an. Leon, du ... du hast es geschafft, du lebst, Leon ... Leon ...!« Es klirrt wie winterliches Eis in den oder deinen Ohren.

Was für eine absurde Verwechslung? Für wen hält die Stimme mich? Also gut, denkst du, also gut, schaue ich dich an, fremde Stimme, du öffnest die Augen und stellst fest, dass etwas nicht funktioniert damit, deswegen das Blinzeln, dein Sehen bleibt unscharf, das Gesicht, das zu dir spricht - trotz Blinzeln bleibt die fremde Frau eine unscharfe Frau, so sehr du auch deine Pupillen bemühst.

Doch eines ist sicher, das ist nicht Franka, das ist eine Fremde, die dich 'Leon' nennt, die deine (Leons?) Hand hält, die lange, dunkelbraune Haare hat, ein ovales Gesicht und vermutlich große Augen (man sieht nur ... du siehst nur die weich gezeichneten Flecken da, wo Augen sein sollten).

Das spontane Geräusch aus deiner Kehle, der Kehle an oder in dir, das ist so entsetzlich anders als das, was du erwartet hättest, es klingt so schräg, dass du das Spontane, diesen Stimm- oder Sprechautomatismus, gleich wieder zum Verstummen bringst. Dich zwingst. Ich zwinge mich, zu schweigen. Allein sich zwingen zu können hat etwas Beruhigendes. Dieser geschundene Körper ist mir noch nicht ganz entglitten.

Kontrolle.

Die Frau macht ebenfalls ein von innen kommendes Geräusch (von ihrem Innen), das beruhigen soll, und streichelt deine Prankenhand, und du beschließt, ganz nüchtern, es damit nun zu versuchen, die Hand der Stimme vorzuziehen, die Zehen haben schließlich funktioniert, also wagen wir die Hand!

Und es geht! Der Arm dreht sich, er gehört dir!, und die (deine!) Hand legt sich langsam, ganz, ganz langsam auf den Rücken, Finger, die sich einzeln und ebenso langsam, wie in Zeitlupe, unter Posaunen und Fanfaren öffnen wie auf einem michelangelischen Gemälde, und der Lärm, der dabei entsteht, entsteht nur in deinem Kopf. Denn taub ist das in Wahrheit, die Handfläche ist taub, die Finger, die zu bewegen sich beginnen, sind taub, man muss bei diesem Unfall deine Hände überfahren haben, ein Wunder, dass überhaupt was geht, und eine andere Hand, die noch fremder ist als diese (oder ist diese die fremdere?) legt sich in die deine hinein wie in eine Muschel, wie zum darin Schlafen, und diese deine Handmuschel schließt sich mit solch minutiöser Sorgfalt, dass für einige Sekunden das ganze Dasein sich auf das Zusammenkommen dieser ungleich fremden Hände beschränkt. Du schließt dafür sogar wieder die Augen, bist ganz im Fühlen der Hände, fühlst mit fremden Fingern die noch fremderen, bewegst heimlich auch die linke Hand, nur um sicher zu sein, dass auch hier alles funktioniert, ansonsten ist es einfach etwas Gutes, mit wem auch immer Menschlichem zu kommunizieren auf so innige Weise, bedenkend, dass du ganz offensichtlich dem Tod von der Schippe gesprungen sein musst. Und dann spürst du, wie die fremden Finger sich in deiner rechten Hand bewegen und an einem Ring drehen.

Anschließend (habe ich zwischendurch geschlafen?) oder beim nächsten Mal (oder ich war mal wieder tot gewesen?) hast du eine Brille auf. Hat sie dir eine aufgesetzt, leider nicht deine, deine ist schwerer, diese ist leicht und randlos, aber dass etwas auf dem Gesicht liegt, erinnert dich daran, eines zu haben, ein Gesicht, das noch immer wie angeschwollen ist, oder geben sie mir Cortison?

Die Brille löst einen weiteren Konflikt aus: Je mehr du versuchst, deine Augen scharf zu stellen, desto unschärfer wird das Bild, das sie dir projizieren, es ist eben die falsche Brille und stattdessen siehst du einen jungen Mann - einen Pfleger oder einen Fremden -, zu jung um Pfleger oder fremd zu sein, denn die sich immer auf ihn statt auf die Frau scharfstellenden Brillengläser - falsch: Augen -, die sehen mehr einen verwirrten Jungen als einen Mann, einen, der dich anstarrt, als wärst du eine bemitleidenswerte Kreatur, oder aber ein Monster, er starrt dich an und scheint nicht zu wissen, was er empfinden soll. Die Frau dagegen verschwimmt immerzu, so sehr du auch versuchst, sie ins Bild zu bekommen. Aber du sagst nichts, du erinnerst dich mit Erschrecken an diesen fürchterlichen Laut, der beim letzten Versuch zu sprechen deiner Kehle entsprungen ist (was oder wann war das?). Eher zufällig, du willst wegen der Augensache schon resignieren, bemerkst du, dass das, was du siehst, dann scharf wird, wenn deine Augen in einen graduell anderen Zustand fallen. Für einen Moment ein scharfes Mädchen, ein schönes und schon wieder vorbei. Sich bewusst um diese besondere Haltung der Augapfelmuskulatur zu bemühen bringt gar nichts, aber dann, als du erneut resignierst, ist sie wieder scharf.

Sie lächelt.

Was dich zwingt, ebenfalls zu lächeln, was sich anfühlt, als würden sich zwei aneinander gerostete Metallplatten gegenläufig verschieben, oder als würde verklebtes Plastik aufbrechen, dein Lächelversuch ist ein Reflex, der nicht funktioniert. Schau niemals in einen Spiegel, denkst du dir, aber es scheint weniger schlimm, als erwartet, denn sie lächelt noch immer, und mit flackernden Augen studierst du das Gesicht der Fremden, wie eine Kamera studierst du es, eine Kamera mit defektem Autofokus, es ist mehr ein Aufschnappen von Einzelbildern zwischen den Unschärfemomenten, aber es gelingt dir.

Du versuchst, nicht zu sehr über das Gesicht zu rätseln, darüber, ob du sie kennen müsstest, oder gar, ob das Franka ist, und ob der Teil deines Gehirns, der sich an Franka erinnern müsste, beschädigt ist, solche Fragen bleiben theoretisch, solange nur dieses Gesicht über dir schwebt und Glücklichsein bedeutet.

»Leon, erkennst du uns?«

Du willst erst den Kopf schütteln, aber du lässt es, aus Angst vor dem, was dieser Körper noch an bösen Überraschungen bereithält, aber auch, weil du nicht willst, dass das Gesicht verschwindet, oder sich nur verändert, es vielleicht sein Lächeln verliert, du hast doch nichts als dieses Gesicht. Also nickst du nur ganz zaghaft, ängstlich, weil auch ein Nicken dir das Genick brechen könnte, aber es scheint ihr zu genügen, deine mimisch kinetische Reaktion, die du selbst nicht beurteilen kannst, so bleibt dir ihr Lächeln erhalten, mit einem großen Mund und großen Zähnen, und die Augen haben einen Schatten (hat sie getrauert? Um mich?); hohe Wangenknochen, hohe Stirn, helle Haut, aber weniger rosig als mehr mit einer Note warmem Gelb.

Als sie erneut »Leon!« sagt, wird dir klar, dass dein Gehör definitiv Schaden genommen haben muss. Dieses Klirren von Stimmen. Die ihre ist wie zerspringendes Glas, was aber eindeutig innerhalb deiner Ohren stattfindet, als könntest du plötzlich andere Frequenzen hören, oder gewisse Frequenzen nicht mehr, als wäre das Spektrum der von dir hörbaren Frequenzen verschoben, ja geht denn das?

Ja!, denkst du, es geht so einiges, zum Beispiel, nunmehr Leon zu heißen, dabei heiße ich doch Thomas, oder ist das eine falsche Erinnerung? Habe ich niemals Thomas geheißen? Mein ganzes Leben lang nicht und immer Leon gewesen und mit dieser Frau das Leben geteilt?

»Leon, du hattest einen Unfall ...« (also doch!), »aber alles wird gut, alles ... alles ...« Ihre Hand (die noch immer in der deinen liegt, vielleicht ist gar keine Zeit vergangen?) dreht sich, sie bewegt die Finger, will ihre Finger öffnen, aber du drückst sie unwillkürlich wieder zusammen (unwillkürlich, dieses Wort hat plötzlich eine unheimliche Bedeutung), du drückst, beinahe zu fest, und sie legt ihre zweite Hand auf deine, umschließt die Handmuschel wiederum, Hand in Hand in Hand, was gut tut, und sei es nur wegen der Wärme. Menschliche Nähe. So fremd sie auch ist, ist diese Frau wenigsten keine Maschine oder eine nur ihre Arbeit verrichtende Pflegerin, du spürst ihre aufrichtige Anteilnahme, sie holt dich förmlich heraus aus was auch immer.

»Nein, versuche es gar nicht erst«, sagt die Frau. »Du kannst dich nicht erinnern! Sei froh! Nicht mal an den Moment davor, da sind ...« sie schluckt, »Tage, ein paar Wochen, nur ein paar, die du ... verloren hast. Aber die kriegen sie wieder hin, mach dir keine Sorgen, da gibt es Therapeuten, Erinnerungstherapeuten, auch du, auch für dich ...«

Ich weiß, dass ich mich habe scannen lassen, willst du ihr sagen, ich erinnere mich, wie ich mein letztes Backup gemacht habe, an das Backup selbst erinnere ich mich nicht, aber daran, wie der Arzt mir erklärt, dass ich mich daran nicht würde erinnern können, im Falle dass (und dass wir hoffen, er möge nicht eintreten, der Fall, dass, es diene ja nur der inneren Sicherheit!). Deine letzte Erinnerung ist der Hypnotiseur wenige Minuten vor dem Scan, und dass ich mich nicht beunruhigen bräuchte, aber er mich auch nicht beruhigen darf, keine Spritze oder so etwas, man kommt in den Scanner, wie man ist, mit einem nackten, nüchternen Gehirn, authentisch.

»Leon, die Ärztin ist da ... kannst du ... kannst du sprechen?«

Muster, denkst du, sie scannen deine Muster. Du versuchst dir vorzustellen, wie das aussieht, wenn ein Magnetfeld binnen einer Trilliardstel Sekunde ein holografisches Ebenbild deines Gehirns erstellt, wie es deine Einzigartigkeit kopiert, dupliziert und anschließend speichert, es handelt sich um ein vierdimensionales Foto, hat der Arzt gesagt, um das zeitlose Abbild eines Gehirnmoments, so wie ein zweidimensionales Foto einen dreidimensionalen Raum abbilden kann, so bildet der Hirnscan ein dreidimensionales Abbild eines vierdimensionalen, in die Zeit eingebundenen morphocerebralen Feldes ab. Morphocerebrales Feld ... ein Abbild, das erst im Anschluss, nach dem Shot, tatsächlich gescannt wird, digitalisiert wird, dann, wenn du längst wieder raus bist aus der Röhre, welche mit einem riesigen Ballon verbunden ist, und du denkst: Ist der Ballon real? Oder war er nur ein Bild gewesen, Einbildung, eine Vorstellung, eine Metapher des Arztes für das Hologramm. Für das morphocerebrale Feld? Ein gelb leuchtender, halbtransparenter Ballon, direkt über dir, deine Seele ist darin eingesperrt ...

Der Zwilling

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