Читать книгу Der Zwilling - H. DERHANK - Страница 15

Ein ewiger Krebspatient

Оглавление

Die Tage und Wochen in der Reha sind redundante Kopien ihrer eigenen Selbstreferenz. Sie hängen wie nebeneinander an einer Wäscheleine, haben weder eine Reihenfolge noch lassen sie sonst ein Gefühl von Zeit zu. Und in den Nächten ist da ein Mann, der mit einer augenlöchrigen Papiermaske über die Station wankt, die Arme ausgestreckt, und der immerzu mit tiefer, kehliger Stimme ruft: »Gib mir deine Seele! Gib mir deine Seele!« Das kann nicht echt sein. Denkst du.

Aus der Therapiegruppe nimmst du ungewollt mit: Tränen, die nicht deine sind. Die Klinik hat einen zentralen Speisesaal in einer umgebauten Turnhalle aus der Kaiserzeit, hier verlieren sich die losen sozialen Bindungen wieder, entweder hat man trotzdem jemanden, oder man stellt sich allein in die Schlange an der Kasse, nachdem man sich im Essensausgabebereich, der den Charme einer Autobahnraststätte hat, seine Mahlzeit zusammengeklaubt hat. Die Halle ist zu klein, um 400 Menschen gleichzeitig aufzunehmen, darum steht auf jedem Essensgutschein (der die ökotrophologische Grundversorgung abdeckt, Extras kosten extra) eine um jeweils zwanzig Minuten versetzte Uhrzeit, sodass man entweder um 18:00 Uhr, 18:20 Uhr oder um 18:40 Uhr seine Mahlzeit bekommt, und die Kantine ab 19:00 Uhr geschlossen werden kann. Gegessen wird an langen Tischreihen, funktionales Design aus verchromtem Stahlrohr und MDF, man sitzt auf ergonomischen Integralschaum-Sitzschalen aus Polyurethan, Polstereffekt, Edelstahlrohrrahmen und auch die Farben sprechen 90% der Durchschnittsbevölkerung positiv an. Mich nicht. (Aber das auch nur, weil du bockig bist.) (Und du dich - wie dir unterstellt wird - dem Leben verweigerst.) (Wenn die wüssten ...)

Trotz der ameisenhaften Betriebsamkeit, die jedes Individuum atomisiert, bilden sich beim Abendessen kleine Grüppchen, und du erkennst Pille, die mit Schlaggi und - wer hätte das gedacht - Freud zusammensitzt, angeregte Unterhaltung. An ganz anderer Stelle tauschen Manni und Bauchschuss Metastasendetails aus (aber das glaubt nur mein eigener Defätismus, vielleicht spricht man auch über dies und das oder das Wetter). Du hast keine Lust auf Gespräch, setzt dich irgendwo anders hin und ignorierst deine Mitesser so gut es geht.

Dir gegenüber eine ältere Frau, die dich ein paar Mal ansieht und Ansätze einer Gesprächseröffnung macht, von da an konsequentes Auf-den-Teller-schauen und den Käse von den Nudeln porkeln, ich will vegan, denkst du, und dass das auch bockig ist, immerhin haben sie vegetarisch, und eigentlich macht dich der überbackene Käseplacken ungebührlich an, dabei hast du Käse nie gemocht, aber jetzt erfordert die Thomas'sche Kosttrennung die ganze Leon'sche Konzentration.

Neben dir und schräg gegenüber sitzen zwei, die sich über einen unappetitlichen Fall unterhalten, d.h. reden tut nur der neben dir Sitzende, er textet seinen Gegenüber förmlich zu. An dem Schweigenden fällt dir neben seiner extrem große Brille seine gezeichnete Gesichtshaut auf: eine vernarbte, mehrschichtige Überlagerung aus vielen längst vergangenen Schüben einer schweren Hautkrankheit, die Geschichte eines langen Krieges gegen eine übermächtige Invasion, Verdun 1918, die nicht befallenen Stellen bilden ein zerrissenes, nur noch über schmale Korridore miteinander verbundenes Flechtmuster aus weißer, glänzender Haut (glänzend, obwohl kein bisschen feist, eher hager ist des jungen Mannes Gesicht (der - von wegen jung - so alt sein dürfte, wie ich jetzt bin, Leon)). Und sein wortloses Nicken geschieht automatisch, nach jedem Löffel (er hat die Suppe) einmal, aufmerksam, aber mechanisch, während der neben dir ohne Punkt und Komma quasselt (wie er aussieht, kannst du nicht sehen, und du schaust ihn auch nicht an).

»Selbstmörder müsste die Gesellschaft laut Vertrag eigentlich nicht

erwecken«, sagt er, »sie werden aber in der Regel doch erweckt, weil alles so schnell gehen muss, nach dem Tod, wenn noch gar nicht feststeht, ob es wirklich Selbstmord war, und da sind auch die Angehörigen, die mit einstweiligen Verfügungen ihre suizidierten Verwandten wieder lebendig machen, es sei denn, es stehen Erbschaften an, dann geschieht auch schon mal das Gegenteil, dann klagen die Verwandten GEGEN die Reinkarnation. «

Und was ist mit denen, die erst Tage später gefunden werden? Verwest? Verbrannt, verstümmelt? So mancher Tod ist noch immer nicht heilbar, so viel steht fest.

Und dann berichtet er von einem, den er gekannt hatte, dann korrigiert er sich, weil 'haben' in diesem Zusammenhang nicht mehr im Prä­teritum benutzt werden darf (eine Begründung, die er wie einen Kalauer betont), es geht also um einen, den er KENNT, der sich umgebracht hat, und dem die Gesellschaft die Reinkarnation verweigern wollte, was aber die Kirche, zwei Sätze später sagt er: die Arbeiterwohlfahrt, und kurz drauf benennt er irgendeine humanistische Vereinigung, was aber also gewisse Kreise zu verhindern wussten, dieses Verweigern der Reinkarnation, und zwar weil so eine Weigerung, rein strafrechtlich gesehen, als unterlassene Hilfeleistung und ergo als fahrlässige Tötung zumindest gewertet werden KÖNNTE, weswegen man seinen Bekannten also ziemlich flott per einstweiliger Verfügung hat wiederbeleben müssen, mit dem absurden Nebeneffekt, dass der anschließend - zivilrechtlich - von der Gesellschaft auf eine horrende Schadensersatzforderung verklagt wurde.

»Für einen Suizid, für den er aus seiner Sicht, nämlich aus der Sicht eines drei Wochen vor seinem Tod durchgeführten Backups, gar nicht verantwortlich war. Sein Motiv war ihm zu diesem Zeitpunkt nämlich noch nicht bekannt gewesen, der Grund sich umzubringen, eine ziemlich üble Diagnose ...«

Kunstpause, nur um dann die Diagnose für uns mithörende Laien zu konkretisieren: »Bauchspeicheldrüsenkrebs«, Blick in die Tischrunde, jedem die Zeit lassen, sich etwas darunter vorzustellen, und für alle, bei denen der Groschen immer noch nicht gefallen ist; »mit 99%iger Garantie auf einen unglaublich qualvollen Tod! Und diese Diagnose hat er erst nach seinem letzten Backup erfahren und wurde ihm diesmal - also nach seiner Reinkarnation - seitens seines Arztes - auf Druck der Gesellschaft - verschwiegen.«

Und dann? Fragezeichen in unseren Augen.

»Er«, fährt er zufrieden fort, »wusste also nach der Reinkarnation nicht mehr, dass er Krebs hat, und es war ihm völlig unerklärlich, warum er Selbstmord begangen haben könnte, und das Einzige, was ihn an seinen - für ihn ja mental sozusagen noch in der Zukunft liegenden - Freitod erinnerte, waren seine nach dem reinkarnativen Erwachen ziemlich ruinierten Bronchien gewesen, aufgrund der Abgase, die er sich in sein von innen verriegeltes Auto gepumpt hatte, und die ihm für den kläglichen, wenn auch endlosen Rest seines unwissenden Lebens eine prämortale chronische Heiserkeit aufzwangen.«

Er imitiert Heiserkeit.

»Und sein Arzt hatte ... nein, 'Haben' muss es heißen«, wiederholt er seinen Tempuswitz, »hat; es ist ein Patient, den der Arzt immer noch 'hat', weil der natürlich noch immer nicht an seinem Krebs gestorben ist! Und auch nie daran sterben wird. Bzw. nach jedem Sterben zurückkehrt ...«

Gemeinsames wohliges Gruseln. Und das heimliche Vergnügen, jede Menge Mithörer daran teilhaben zu lassen.

Dann sagt Verdun 1918 auch mal etwas: »Die können Tote jederzeit wiederbeleben, aber nicht von Krebs heilen?« Kopfschütteln.

Eine schweigsame Minute, in der wir unseren Gedanken nachgehen, die Frau gegenüber hört genauso interessiert zu wie du, und du hast das Gefühl, als wären ringsum einige Gespräche verstummt. Woher kennt dein Tischnachbar alle Details dieser Geschichte seines Bekannten, wenn sein Bekannter sie selbst nicht kennt? Du fragst ihn nicht, es ist ja auch egal. Er hat noch immer nicht angefangen zu essen, er weiß, er hat sein Publikum, und nach drei, vier Löffeln Verdun-Suppe geht es weiter:

»Die Krebstherapien hecheln der rasanten Entwicklung der Reinkarna­tionsmedizin hoffnungslos hinterher«, fährt er fort, »und Hecheln ist übrigens genau das, was mein Bekannter an Artikulation überhaupt nur noch zustande bringt, weil er mit Morphium vollgepumpt ist und kaum eines einzigen halbwegs klaren Gedankens fähig ist und noch immer nicht den Grund seiner Hinfälligkeit kennt, also sein Pankreasproblem. Und jetzt muss er darauf warten, dass die Gerichte eine Grundsatzentscheidung zu der Frage fällen, wie, also in welchem Zustand ein bei der Gesellschaft Versicherter auf einen Durchbruch bei der medizinischen Forschung warten muss oder darf: Tot und konserviert und ein letztes Mal gescannt, wobei man berücksichtigen muss, dass so ein eventueller Durchbruch in der Krebstherapie noch lange keinen Durchbruch in der Wiederbelebungsmedizin in Formaldehyd eingelegter menschlicher Körper nach sich zieht und er also trotz eines in Aussicht gestellten Therapieerfolges nicht mehr wiederbelebt werden kann, weil er schon zu lange eingelegt ist.«

Und weil wir ihm nicht alle folgen können, erläutert er allen, die mittlerweile zuhören: »Wobei tote menschliche Körper natürlich nicht in Formaldehyd liegen, sondern vollgepumpt mit einem das Blut ersetzenden Frostschutzmittel bei minus 198 Grad ihrer Erweckung harren, ohne natürlich tatsächlich zu harren, har har har ...«

Verdun lacht mit, wenn auch etwas gequält.

»... oder aber ein Krebspatient wird zukünftig mit aller Gewalt am Leben erhalten, was man ja mittlerweile endlos, wahrlich endlos hinauszögern kann ...«, er betont und wiederholt das 'wahrlich' wie die Erzählstimme in einem Horrorfilm, »... wahrlich, ... das Leben, will sagen, den Tod, will aber doch eigentlich 'das Leben' sagen, endlos heißt in diesem Fall eine endlose, halbkomatöse und halb übermäßig bewusste Quälerei, und wer auf diesem Gebiet begrifflich auch nur ein bisschen bewandert ist, der versteht auf einmal, wieso ein Wort wie 'Qualia', das doch eigentlich eher harmlos und sachlich den subjektiven Erlebnisgehalt eines mentalen Zustandes bezeichnet, schon so deprimierend KLINGT, als wäre es mit der Bezeichnung für Schmerz, für unerträglichen Schmerz, für nicht enden wollenden, stumpf und spitz durch alle Körperregionen rauf- und runterrasenden PERMANENTSCHMERZ etymologisch eng verwandt. Was nicht der Fall ist.«

Man erwartet so etwas wie eine Verbeugung, gar einen Tusch, doch unser Applaus bleibt aus. Nur sein hautkranker Gegenüber nickt, nickt im selben Rhythmus weiter, auch als dein Nachbar endlich schweigt und - wie man an Messer-und-Gabel-Aktivitäten auf seinem Teller beobachten kann - endlich angefangen hat zu essen. Verdun 1918 hat seine Suppe längst ausgelöffelt und nickt und nickt wie diese Hundefiguren, die man sich in den 70er Jahren ins Auto gestellt hat.

Der Zwilling

Подняться наверх