Читать книгу Der Zwilling - H. DERHANK - Страница 17
Traum(a)
ОглавлениеIch atme diesen Körper nicht.
Nein, ich atme diesen Körper nicht.
Wie haben eigentlich Seelen Sex, fragst du dich?
Es graut bereits der sommerliche Morgen, als ich wieder die Bachkiesel höre. Wieder die milde Brise spüre. Mich wiederfinde auf der Waldlichtung. Ich habe die Augen geschlossen. Will einschlafen, oder - nicht wach werden.
Ich atme diesen Körper nicht,
diesen Körper atm' ich nicht ...
Ich atme diesen Körper nicht ...
Insekten, die mir nichts anhaben können, Bienen, Hummeln, Schmetterlinge; und Vögel und die Baumharze und Blüten duften.
... diesen Körper atm' ich nicht ...
Ich vergesse, wer ich bin. Nur an den Wald erinnere ich mich, und an den Bach, an den Sommer, Frühling, vielleicht auch Spätsommer, das ist alles.
Ist Krieg? Und ich bin darin gefangen? Im Krieg? Bin Folteropfer? Opfer von Gewalt? Oder bin ich oder war ich Täter?
Bin ich?
Bin ich nicht von einem Jungen, während seine Komplizen mich festgehalten haben, gefoltert worden? In einem weiß gefliesten Raum, vielleicht einem ehemaligen Badezimmer, wo die Armaturen herausgebrochen und die Wasserabläufe mit Lappen zugestopft waren? Ein schmutziges, kaltes leeres Haus, da, wo meine Schreie niemand hört?
Bin ich?
Ich atme ...
Haben sie sich Zeit gelassen dabei?
Ich räche diesen Körper nicht ...
Plötzliches implodierendes Gefühl von Enge. Ich träume von Fesseln, ich spüre, ich bin das Opfer, doch da ist Wut, meine Wut, gefesselte Wut, fürchterliche Wut mit platzenden Äderchen, Zittern und sprühendem Speichel, immer wütender wütender wütender werden, die Fesseln zersprengen und sich rächen. Endlich.
... diesen Körper räch' ich nicht ...
Und als sich - wie bei einem aggressiven, grell aufblitzenden Filmschnitt - das Bild wandelt, liegt plötzlich der Junge, der eben noch vor mir stand und der sich Aljoscha nennt, liegt plötzlich vor mir, vor mir, und ich bin es, der ihm ... habe ich nicht ihm - ich ihm! - bei vollem Bewusstsein, mit einer Kneifzange den rechten kleinen Zeh abgetrennt?
Ich räche diesen Körper nicht!!!
Oder war es mit einer Rosenschere? Zeh um Zeh, Glied um Glied, und die Wunden mit Salz eingerieben? Habe ich ihn nicht angekettet und in seine Trainingsanzughose scheißen lassen? Erst urinieren, und dann, irgendwann, auch scheißen? Oder auch nicht irgendwann, vielleicht sofort, weil ihm seine Angst von Anfang an seine Würde genommen hat? Haben wir uns angesehen dabei? Er und ich? Hatten wir gerötete Gesichter, war da so etwas wie Faszination in unseren Augen? Augen, die vor Scham zusammengeschrumpft sind wie kleine schwarze Käfer? War das Lachen, unser Lachen, nicht auch von Herzen? Von bösem Herzen, das weiß, dass da kein Gott ist, der uns straft? Oder haben wir ihn uns heimlich gewünscht? Gott? Haben wir uns gewünscht, bestraft zu werden? Haben wir Angst gehabt? Hat unser raues Lachen Angst überspielt? Hatten wir voreinander Angst? Angst, beim ersten Anzeichen von Schwäche die Rollen zu tauschen? Haben wir nicht gerade die Rollen getauscht? Haben wir Mitleid miteinander gehabt? Oder habe ich ihn weiter malträtiert? Mit einer Rose? Mit einem blatt- und blütenlosen, getrockneten Rosenstrunk voller zentimeterdicker Dornen? Habe ich ihm nicht den schrecklichen Turnanzug heruntergerissen? Ist das nicht meiner? Mein Trainingsanzug? Habe ich mich darin eingeschissen? Oder er? Habe ich ihm nicht überall, besonders aber am Hals, auf der Brust, unter den Armen und auf den Handinnenflächen Risse in die Haut gezogen? Habe ich ihn nicht singen lassen? Habe ich nicht auf diesem Jungen gespielt, wie man auf einer Geige spielt? War nicht jeder Streich ein neuer Klang? Habe ich nicht herausgefunden, welche Körperstellen welche Art von Schmerz und damit welche Art von Gesang erzeugten? Habe ich das Lied nicht wie ein Crescendo gespielt, eine sich immer mehr steigernde Replica intensiver Empfindungstöne? Forte, fortissimo, furioso? Und habe ich ihm dann, als er über und über gezeichnet war und der Gesang dolendo morendo versiegte, habe ich ihm nicht, als schließlich kein Ton mehr aus ihm herauszuholen war, habe ich ihm nicht dann den Strunk so fest und tief in den gespreizten Anus gesteckt, dass die Dornen sich in ihm wie Widerhaken festkrallten? Womit mir ein finaler Ton aus ihm herauszuspielen gelang, smorzando con dolore?
Ich räche diesen Körper nicht ...
Und habe ich ihm nicht noch im Ausklingen einen Zahn aus dem offenen Mund herausgebrochen? Die vorderen oberen Schneidezähne vielleicht? Mit derselben Schere, mit der ich ihm schon ein paar Zehen abgetrennt hatte? Vielleicht nicht sehr präzise, die Klingen einer Rosenschere finden nur schwer Halt in einem Mund; ging es nicht nur gerade so, dass ich etwas vom Gebiss zu fassen bekam? Oder war es die Zunge? War das, was dann erklang, nicht wie eine murmelnde Quelle? Eine Quelle roten Wassers, die aus ihm sprudelte? Herausfloss, wie auch in ihn hineinfloss, und war es nicht allmählich sehr schwer zu verhindern, dass er das Bewusstsein verlor?
Murmelnder, glucksender Bach, ganz nah, neben der Hütte, Bächlein im Walde ...
Ich atme diesen Körper nicht,
diesen Körper atm' ich nicht!
Und habe ich ihm nicht deswegen einen Hoden abgeknipst? Nicht ab-, sondern durchgeknipst, durchgeschnitten, mit der Rosenschere mittendurch, nur um ihn bei Bewusstsein zu halten? Und war ich diesbezüglich nicht erfolgreich? Brauchte es nicht all meiner Kraft, um ihn festzuhalten vor lauter Gegenwärtigkeit?
Verkeilt sein, miteinander, ihn abstoßen, abschneiden wollen, doch ich ersticke daran, an ihm, an einer Bettdecke, die mich erwürgt, Bettdecke, die mich nicht schlafen lässt, mit ist albtraumhaft schlecht, fieberschlecht, ich will mich übergeben, aber der Traum lässt mich nicht los, er hat mich umklammert wie damals die Fesseln, die ich sprengen wollte, ich explodiere in Raserei und muss kotzen - nein!
Ich höre die Quelle.
Rotes Wasser.
Bachkiesel, die mit dem Blut spielen. Mit denen das Blut spielt. Rotes Fließendes im Quellwasser dunkle Schlieren ziehend. Ist das das Schwere? Das Dunkle auf der Leinwand?
Vielleicht ist dieses Schwere gar nicht meins. Aber ich weiß, dass es da ist. In mir. Dieses zu Tode foltern. Doch wenn das nicht meins ist, warum kenne ich dann alle Details? Mein Kopf ist also nicht leer, offensichtlich. Ich weiß um die Verbrechen, die meiner Zeit oder meiner Welt. Ich habe also eine: eine Zeit, eine Welt.
Ich träume diesen Körper nicht,
träumen tut der Körper mich.
Dann ist der nackte und verstümmelte Aljoscha wieder angekleidet, die Wunden sind verschwunden. Ungeschehen. Stattdessen bin ich es wieder, der angekettet ist, nur (nur!) angekettet, oder immer noch, und er, der andere, hat die Rosenschere in der Hand. Aber sie haben noch gar nicht angefangen, er und die Komplizen an seiner Seite. Böse Jungs, die sie sind und sich im Recht wähnen, dies hier tun zu dürfen. Und Aljoscha, ihr Anführer, sieht mich an und hat dasselbe gesehen wie ich, er ist Teil der Folter.
Ich träume diesen Körper nicht,
träumen tut der Körper mich.
So versuche ich, das mir Ausgemalte auszuwischen. Mir mit meiner imaginierten Hand das Bild meiner Rache mitsamt mir selbst fortzuwischen. Mir nichts mehr auszumalen. Mich und ihn mir nicht mehr erscheinen zu lassen. Weder den, der da liegt, noch den, der ihn demütigt. Aber ich kann nicht verhindern, dass wir uns durch das Schwarze hindurch immer wieder doch erscheinen. Aljoscha, der mich demütigt, und jetzt - nur einen Blitz weiter - ist er es wieder, beide Armen hochgerissen und an der Kette aufgehängt, er, ich? Mit dem Rücken an einer weiß gefliesten, überall blut- und kotbeschmierten Wand, die nackten Beine verdreht, kraftlos verdreht, das Gesicht unkenntlich zerfließend und die Stelle zwischen den Beinen ein dunkler, schlammiger See.
Ich blute diesen Körper nicht,
diesen Körper blut' ich nicht!
Die frühen sommermorgendlichen Vögel singen, und ich höre die verblassenden Bachkiesel und das Wasser miteinander spielen. Und der durch Vorhänge wehende Wind ist noch immer mild und freundlich zu meiner Haut. Ich fühle Gesicht, Arme, Bauch, Beine. Noch immer meine ich auf einer Waldlichtung zu liegen und mit geschlossenen Augen die Insekten zu hören, und die anderen Tiere des Waldes; und ich rieche Baumharze und alle vorstellbaren Feld-Wald-Wiesen-Düfte, es ist der frische Holzduft gefällter Bäume, alter ehrwürdiger Bäume, die einem Erweiterungsbau der Klinik weichen müssen. Und ich weiß noch immer nicht, wer ich bin. Ich lasse die Augen geschlossen.
Ich atme diesen Körper nicht,
diesen Körper atm' ich nicht!
Ich atme diesen Körper nicht,
diesen Körper atm' ich nicht!