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Kapitel 1.
Оглавление»Nunschärfen die Engel die Sensen und schlagen als Gottes Knechte die sündhaften Herrn.«
Thomas Müntzer, 1525
Es war eine freundliche Mainacht, der Mond schien hell. Ein lauer Wind strich durchs Geäst und ließ die Leichen leise schaukeln. Grimmig betrachtete Bruder Fresenius ihre entstellten Gesichter, die hoch oben – verdorbenen Früchten gleich – in den Baumwipfeln hingen. Die Augen hatte man ihnen ausgestochen, das Blut auf ihren Wangen lockte die Krähen. Von Gott und der Welt verlassen, sollten die Gehängten dem einsamen Wanderer als Mahnung dienen. Ihre kreuzweise gebundenen Schuhe verrieten ihren Stand. Sie stammten aus einfachem Bauerngeschlecht. Grund genug in diesen Tagen, dem grausamen Strafgericht der Fürsten anheimzufallen.
Erbarmungswürdiger konnte der Gekreuzigte selbst nicht ausgesehen haben. »Gott sei ihren Seelen gnädig«, murmelte der Kapuzinermönch und schlug das Kreuz. Er raffte seine blutgesäumte Kutte und setzte den Weg eilig fort. Es war Zeit, eine Herberge zu suchen, in der er vor marodierenden Söldnern oder versprengten Aufrührern sicher war. Die einen würden einen Mönch vielleicht nur zum Spaß, die anderen aus bitterem Zorn durch die Spieße laufen lassen. Auch quälte den Mönch inzwischen ein arger Hunger. Viel mehr als eine Handvoll Wintergerste hatte er in den letzten Tagen nicht gegessen.
Fresenius bahnte sich mit einigen Hieben einen Weg durchs Gestrüpp in den Schutz dicht stehender Bäume. Der Wald glänzte silbern, die Nacht war still, doch in den Ohren des Mönchs hallten noch immer die Geräusche der vergangenen Schlacht. Mächtig drängte sich ihm das Bild vom blutgetränkten Acker vor Frankenhausen auf, auf dem schreiend vor Schmerzen mehr als viertausend Bauern vor seinen Augen elend verreckten. Durchbohrt von den Hellebarden der Pikiere, zerrissen von Kanonensalven der fürstlichen Feldschlangen, niedergehauen von der Reiterei oder dahingemäht vom tödlichen Pfeilregen aus hart gespannten Armbrüsten. Vier Tage war es her, daß er im schlammigen Lehm am Rande des thüringischen Schlachtfelds gestanden und das schreckliche Sterben verfolgt hatte. Einzelne Gliedmaßen lagen verstreut zwischen den Elenden, es gab gar abgerissene Fäuste, die noch zuckten, sich wie flehend gen Himmel reckten.
Fresenius schritt schneller aus, so als wolle er den Bildern des Grauens davonlaufen. Nein, Feigheit trieb ihn nicht. Er war ein kampferprobter Mann von kräftiger Statur. Seine kantigen, höchst eigenwilligen Gesichtszüge, die viele als grob bezeichnet hätten, verrieten Mut und Entschlossenheit.
Bei Gott, es war nicht das erste blutige Gemetzel, das der Kapuziner erlebt hatte. Der Mann, der sein Haupt nun unter der spitzen braunen Kapuze verbarg, die seinem Orden den Namen capucii oder eben Kapuziner einbrachte, war vor weniger als fünf Jahren noch selber ins Feld gezogen. In den geschlitzten, bunten Hosen eines Landsknechtsführers.
Er hatte vor den Städten Italiens und im fernen Frankreich viele sterben sehen und manchen selber in den Tod geschickt. Im Namen des Kaisers, im Namen von Fürsten, manchmal im Namen der Gerechtigkeit und immer im Namen des Herrn. Nein, der Tod auf dem Schlachtfeld war ihm nicht fremd, und er hatte ihn nie gefürchtet.
Vielleicht lag es an seinem ungewöhnlich hohen Alter, knapp ein halbes Jahrhundert nämlich, daß er des Tötens schließlich müde geworden und seine Aufmerksamkeit beim Kampf erlahmt war. Ein feindlicher Heerführer hatte ihm im Gefecht von Piacenza die rechte Hand – seine Schwerthand – abgetrennt. Obgleich zum Soldatendienst untauglich, hatte Fresenius es als Zeichen der Gnade Gottes genommen, daß er die Schlacht überlebte, und sich zur Umkehr entschlossen. Nie mehr, so hatte er geschworen, würde er ein Schwert führen, und sein Noviziat begonnen. Die Einsiedelei, auf die der Orden der Kapuziner streng hielt, sollte ihn von seiner heißblütigen Kriegernatur kurieren.
Sein Ziel war innere Einkehr und sein Weg die Abkehr von dieser verzweifelten Welt. Seine Hoffnung ging ganz auf den Erlöser. Vor drei Jahren hatte er den Profeß der Kapuziner gesprochen, die Gelübde von Keuschheit und Armut abgelegt und sich in die Einsamkeit zurückgezogen.
Doch er hatte Zeit und Ort seines Eremitentums schlecht gewählt. Nahe Frankenhausen hatten nämlich seine karge, grob gezimmerte Hütte und sein magerer Acker gelegen. Zu nahe bei dem Feld, auf dem die Herren den Bauern ihre blutige Lektion erteilt und ihn jäh in die unglückselige Welt zurückgeholt hatten. Seine Hütte war verbrannt, sein kleines Feld verwüstet, sein innerer Frieden dahin.
In der Ferne schlug ein Hund an und riß Fresenius aus seiner düsteren Gedankenstille. Mit dem geschulten Ohr eines Waffengängers erkannte er die Richtung, aus der das Geräusch kam und daß es von Mauern gedämpft wurde. Auf gut eine halbe Stunde Weg schätzte er die Entfernung zu der wie immer gearteten menschlichen Behausung. Er zögerte kurz, denn so nötig eine sichere Unterkunft war, so unwillig ging er unter Menschen.
Seufzend wandte er sich schließlich nach rechts. Was half’s, besser dem Gekläff eines räudigen Köters folgen, als einem Trupp räudiger Mordbuben in die Arme laufen. Besser? Was blieb ihm anderes? Schließlich hatte er vor Gott geschworen: »Ich bin nicht mehr zum Kampf bereit.« Fern seiner heiligen Einfalt, fügte er nun allerdings hinzu: »Und ich bin schon gar nicht dafür gerüstet.« Resigniert betrachtete er die aus Eisen geschmiedete Hand, die mit Lederriemen an seinem rechten Armstumpf befestigt war. Mit einem Anflug von Wehmut dachte er an die schönen Zweihänder, mit doppelt geschliffenen Klingen, die er so oft geführt hatte, oder die Hakenbüchsen, deren Läufe er so kunstfertig gefeilt hatte. Seine Eisenklaue sah zwar bedrohlich aus, ja, sie glich dem Waffenhandschuh eines Ritters, doch sie war allein noch tauglich, die Riemen eines Kurzpflugs zu ziehen. Ich bin ein Krüppel, hatte der Mönch auch bitter gedacht, als er die tobende Schlacht zu Frankenhausen verfolgte.
»Herr, verzeih mir«, rief Fresenius an diesem Punkt in die Stille und scheuchte damit ein Käuzchen auf. Ach, schalt er sich innerlich, es ist immer dasselbe mit dir, kaum kommst du in Berührung mit der Welt, packt dich wieder die törichte, gottlose Ungeduld des Kriegers.
Deshalb hatte Fresenius in den letzten drei Jahren seine selbstgewählte Klausur nur selten verlassen. Nur wenn es ihm am Nötigsten mangelte, an Zunderschwamm oder einem Feuerstein etwa, war er zu Markte gegangen. Und jedesmal hatte er es bitter bereut. Es war schwer, geduldig die Ohren vor der Welt zu verschließen, wenn sie einen lärmend umgab. Seine lang geübte Geduld hatte jedesmal Schaden genommen bei diesen Ausflügen in das gemeine Leben mit all seinem Geränk und Gezänk.
Ein halbes Jahr war es her, da hatte er bei der Kirchmeß zum erstenmal diesen Aufruhr unter dem Pöbel zu spüren bekommen, der nun – wie auch anders – in allgemeinem Mord und Totschlag geendet war. Im Namen des Herrn. Fresenius verzog unwillig den Mund und zerbrach mit kräftigem Griff einen Zweig, der seinen Kopf streifte, so als wolle er sich beweisen, daß seine Linke durchaus noch fähig zu Kraftakten war.
Eine Flugschrift von einem Bauern Karsthans hatte damals auf dem Markt die Runde gemacht. Ein selbsternannter Prediger der Reformation hatte eine Krauttonne zur Kanzel gewählt und den frechen Text verlesen: »Die Pfaffen und Mönchsleut weiden sich prächtig, meiden nicht Wein und nicht Weib, das sieht man wohl an ihren feisten Bäuchen und Bälgen. Doch laden sie Gottes Zorn auf sich. Eher glaube ich, daß mein apfelgraues Pferdchen möge lesen und schreiben lernen, als das die Pfaffen und Bischöf selig werden.«
Deutliche Worte. Laut hatten die einfachsten Bauern, pockennarbige Hungerleider allesamt, ihre Zustimmung gebrüllt. Ja, Aufruhr lag dick in den Gassen wie der Geruch frisch gedüngter Äcker. Er, der Bekehrte, wollte nichts zu schaffen haben mit einem Kampf gegen Kirche und Papst, den die Aufrührer einen Wolf nannten. Doch die zerlumpten Marktweiber hatten garstig gefeixt und gescherzt über ihn, den Lumpenmönch, der seiner breiten Schultern und der eisernen Hand wegen nicht nach einem ehrlichen Bettler und christlicher Entbehrung und Demut aussah.
Sie wußten es nicht besser, und tatsächlich lief im Habit der Mönche allerlei Gelump herum. Aber Fresenius hatte es besser gewußt, sich aus allem herausgehalten und das Ende ihres unbotmäßigen Verhaltens vorausgesehen. Mit Sensen und Dreschflegeln war kein Krieg zu gewinnen.
Schon wieder dachte er an Waffen! Ärgerlich zertrat er einige Zweige und spornte sich zu einer schnelleren Gangart an, der Waldboden federte unter seinen Füßen. Schneller als angenommen erreichte er sein Ziel. Der Wald lichtete sich und gab den Blick auf eine einsame, doch recht stattliche Abtei frei. Eine Torfackel warf flackerndes Licht auf eine weißgekalkte Mauer, dahinter erkannte er die spitzen Schatten eines Kapellenturms. Der Anblick tröstete ihn.
Es war ein Augustiner, der die Luke im Tor auf sein Pochen hin aufriß. Fresenius erkannte ihn im unsteten Fackelschein an der Tonsur und dem schwarzen Habit.
»Der Geist der reinen Furcht und der kühnen Stärke Gottes sei mit Euch, lieber Bruder in Christo«, grüßte Fresenius den Nachtwächter, der ihn mißtrauisch musterte und eisern schwieg. »Könnt Ihr einem armen Bruder Herberge für eine Nacht gewähren?« fragte Fresenius, wiewohl ihm das ausdrückliche Betteln nicht lag. Der Augustiner öffnete nun auch das Gitter im Fenster und blickte an Fresenius herab.
»Der Herr mit dir«, brummte er mißmutig, »doch nach einem Bruder in Christo siehst du mir nicht aus.« Fresenius, der den Zustand seiner Kutte, die von Lehm verkrustet und mit Blut verschmiert war, für diese Einschätzung verantwortlich machte, verbarg seine eiserne Hand im weiten Ärmel der Kutte, um keinen Argwohn zu erregen. Er beeilte sich, eine Erklärung zu geben: »Bruder, verzeiht mein Aussehen. Vier Tage und Nächte bin ich nun auf Wanderschaft. Ihr habt gewiß gehört von der großen Schlacht bei Frankenhausen, nun, da komm’ ich her und nur deshalb ...«
Der Augustiner unterbrach ihn mit einem erstaunten Ausruf: »Ihr habt die Schlacht gesehen?«
Fresenius schien es, als mische sich in das Erstaunen ein unseliges Maß an höchst weltzugewandter Neugier, dabei war er sich sicher, daß er einen Augustinereremiten vor sich hatte, der ebenfalls zur Abkehr von allem Diesseitigen verpflichtet war.
»Ja, von Frankenhausen komm’ ich«, sagte er knapp und für einen kurzen Moment in den barschen Ton eines Hauptmannes zurückfallend. Der Augustiner kicherte. »Welch ein Glück, welch unverschämtes Glück.« Fresenius stutzte. Glück war die letzte Empfindung, die er mit den Bildern des Schlachtfelds verband. Doch bevor er eine Frage stellen konnte, entriegelte der Augustiner das schwere Tor und zog ihn herein. »Sei uns willkommen, Freund, du kannst mir einen großen Dienst erweisen.«
Verwundert schaute der Kapuziner nun auf seinen Glaubensbruder herab. Nein, der hatte weiß Gott keinen Grund, die Nase über Fresenius’ Aufzug zu rümpfen. Der ging ja selbst in einer kotverschmierten, schmuddligen Kutte einher. Auch stank der Kerl erbärmlich nach saurem Schweiß, scharfen Zwiebeln und süßem Wein. Seine Ausdünstungen vermischten sich mit dem beißenden Geruch eines Schweinekobens und dem Ruß der Pechfackel, mit dem der Augustiner dem späten Gast nun den Weg wies. Vorbei an den Wirtschaftsgebäuden und dem Schlafsaal seiner Brüder.
»Mein Name ist Bruder Servantus, seid willkommen. Hier entlang, guter Mann. Ihr müßt hungrig sein. Ich denke, von unserer Schweinelende dürfte noch ein Fetzchen übrig sein, und eine Kanne Wein könnte uns beiden nicht schaden.«
»Wein?« fragte Fresenius halb erstaunt, halb entsetzt und stolperte beinahe über ein schwarzes Bündel zu seinen Füßen.
Servantus kicherte, das Bündel schnarchte. »Das ist Bruder Egidius, er weiß noch mehr über Wein als ich, er studiert ihn eifrig.« Er gab dem berauschten Mönch einen Tritt, ein Grunzen war die Antwort. Servantus zuckte die Schultern und wandte sich wieder Fresenius zu. »Nun, wir haben genug davon. Unser Prior duldet keine Nachlässigkeit bei der Abgabe des Zehnts. Er nimmt auch nur vom Besten, schließlich muß der Wein ab und an auch als Blut Christi dienen, wenn der bischöfliche Abt seine Inspektion vollzieht. Ihm können wir schlecht den sauren Tropfen anbieten, den die Bauern zum Meßwein behalten.«
Mehr als die allzu übliche Gier des Priors entsetzte Fresenius die Nachlässigkeit im Glauben: »Aber, Ihr seid Eremiten, wenn ich Eure Kleidung recht erkenne, gilt für Euch nicht auch das Gebot der Enthaltsamkeit? Ich kenne die Regel des heiligen Augustin nicht genau, doch ...«
Wieder unterbrach ihn sein Begleiter mit einem Kichern und wies ihm den Weg durch eine niedrige Tür. »Oh, ich kenne sie auch nicht, doch unser Prior ist ein großzügiger Mann und stammt wie die meisten unserer Brüder aus adligem Haus. Eremit, was zählt das schon? Ich wurde geboren als dritter Sohn des Grafen von Pernau. Ist es meine Schuld, daß sein Gut für drei Söhne kein Auskommen sicherte? Nur der Not halber nahm ich dieses schäbige Gewand an«, er zupfte an seiner Wollkutte, »das scheint mir Entbehrung genug. Enthaltsamkeit, Schweigen, Keuschheit und reichlich Gebete sind gewiß löbliche Dinge, doch unter der sancta laetitia verstehe ich etwas anderes.«
Fresenius wurde an einen groben Tisch gedrängt, nahm sich jedoch kaum Zeit, den Raum – es war die Klosterküche – genau zu inspizieren. »Sancta laetitia?« fragte er statt dessen mit gerunzelter Stirn. »Na, der heiligen Freude wegen, versteht Ihr denn kein Latein?« Fresenius verstand es tatsächlich nicht besonders gut, er war länger Krieger als Scholar gewesen, doch soviel war ihm klar, mit der Gottesfurcht des Bruder Servantus war es nicht weit her. Er wollte das Thema lieber meiden, um nicht in unchristliche Wallung zu geraten. Schon im Feld waren ihm adlige Nichtsnutze, die nur ihrer Geburt, aber nicht ihrem Können eine herausragende Position und Befehlsgewalt verdankten, ein Dorn im Auge gewesen.
»Was für ein Dienst ist es, den ich für Euch tun soll?« fragte er statt dessen knapp, während der feiste Mönch seine enge Kutte der Bequemlichkeit halber über seinen Strick schob und ihm aus einem eisernen Kessel einen Batzen Fleisch mit Brei in eine Schüssel häufte. Sich selbst setzte der Augustiner einen Krug vor und schenkte kräftig vom Faßwein ein.
»Nun«, sagte er und kratzte sich den glänzenden Schädel, »es ist so, daß unser hochverehrter und hochwohlgeborener Abt gewiß eine Chronik der Schlacht wünscht. Doch von uns weiß keiner etwas Rechtes davon, außer daß sie gewonnen wurde und sonst nur das, was unser Holzknecht im Dorf aufgeschnappt hat. Ich kann aber schlecht eine Chronik verfassen aus dem, was ein Holzknecht uns zuträgt. Der bischöfliche Abt ist selbst ein gewandter Kriegsherr und nimmt es daher mit Schlachtberichten sehr genau. Im Vertrauen, er ergötzt sich geradezu daran.« Wieder kicherte der Mönch.
»Wieso geht Ihr nicht selbst hin nach Frankenhausen und fragt die Leut?« Aufrichtig empört sah der Augustiner ihn an und nahm einen kräftigen Schluck, bevor er protestierte: »Wo denkt Ihr hin, wir sind Eremiten, wie Ihr richtig erkannt habt. Was haben wir mit dem gemeinen Volk oder der Welt zu schaffen?«
»Auch ich bin Eremit, gehöre überdies zum gemeinen Volk, und glaubt mir, nichts liegt mir ferner, als mich mit der Welt zu befassen«, erklärte Fresenius mit einem Anflug seiner alten Ungeduld.
»Lieber Bruder, ich wollte dich nicht beleidigen. Der geistliche Stand adelt dich. Und vor Christus sind zumindest wir gleich«, ging der Augustiner über die Bemerkung vom gemeinen Volk hinweg.
Schweigend widmete der Kapuziner sich seinem Braten, packte ihn mit der Linken und biß vorsichtig hinein. Sein Magen nahm so reiche, fette Kost nur widerwillig an und zwang ihn zu bedächtigem Essen.
»Ihr wollt keinen Wein? Dabei plaudert es sich angenehmer«, schmeichelte der Augustiner. Fresenius schüttelte den Kopf. Als sein erster Hunger gestillt war, milderte sich seine Stimmung, und insgeheim bat er Gott um Vergebung für seinen Mißmut gegenüber Servantus. Er hatte nicht das Recht, über diesen Mann zu urteilen, die Wege zum Herrn waren schließlich vielfältig und verworren.
»Ihr wollt also von der Schlacht hören?« Schläfrig nickte der Augustiner, überzeugend wirkte sein Interesse nicht. »Nun, am Montag nach Cantate, dem 15. Mai also, zog sich ein Haufen von bald fünftausend bewaffneten Bauern am Weißen Berg zusammen.«
»So viele?« fragte Servantus, und ein Schauer des Entsetzens durchfuhr ihn, er bekreuzigte sich.
»Vielleicht waren es sogar ein-, zweihundert mehr«, fuhr der Kapuziner ungerührt fort, als ehemaliger Kämpfer wußte er Truppenstärken recht gut zu schätzen. »Sie kamen aus ganz Thüringen und schlugen ein Lager auf. In Flugschriften und Reden führten sie Beschwerde gegen Landes- und Lehnsherren, darunter kirchliche wie weltliche.«
Servantus schüttelte voll Abscheu das Haupt, auf seinem kahlen Schädel tanzten die Schatten der Flammen. »Solch ein dreister Pöbel. Das kommt alles von dieser Wittenbergischen Nachtigall, diesem Kerl Luther, der lästerlichen Unsinn von der Gleichheit und Freiheit vor Gott predigt. Aber was kann man erwarten von dem Sohn eines schmutzigen Bergmanns?«
Fresenius mißfiel die dumpfe Selbstgerechtigkeit des Mönches. Er selbst hielt nicht viel von Luther, aber es drängte ihn, obwohl es unklug war, dem Kerl vor ihm ein wenig aus der Welt der Armen zu berichten, die er gut kannte.
»Ich denke eher, daß es Teuerung und Not, die harte Fron und die hohen Abgaben sind, die sie aufmüpfig machen, dazu das Verbot zu fischen, zu jagen oder Holz zu schlagen«, bemerkte er mit fester Stimme, »sie leiden Hunger, wißt Ihr.«
Die sterbenden Bauern hatten verhärmt und elend ausgesehen, gerade so, wie er seinen Vater, einen einfachen Landmann, in Erinnerung hatte.
Servantus quälte weder Hunger noch die Erinnerung daran. »Ihr übertreibt Euer Mitleid, guter Mann. Was schimpfen diese Karsthänse über Armut? Der Herr selbst hat sie schließlich zum verfluchten Stand erklärt. So steht es in der Bibel, im Buch Mose, wenn ich mich recht entsinne. Das wird ihnen bitter bekommen, wenn sie an Gottes Werken rütteln. Und nun fahr fort mit der Schlacht, laß ihr Blut endlich fließen!«
»Der Acker war rot davon. Es ist ihnen wahrlich bitter bekommen«, sagte Fresenius trocken, »sie sind fast alle tot.«
»Ja, der Herr ist gerecht, Amen«, sagte Servantus befriedigt, dann setzte er unwirsch hinzu: »Aber der Tod ist nicht genug für solche Mordbuben, solch gottloses Gesindel. Im ewigen Feuer der Verdammnis sollen sie schmoren, man sollte ihnen die Augen mit glühenden Zangen ausreißen, die Zungen spalten, ihre Kinder müssen büßen bis ins siebte Glied!« Der Wein gab seiner christlichen Inbrunst Feuer.
»Dafür«, unterbrach Fresenius den Redefluß mit schneidender Stimme, »sorgen bereits die Fürsten. Glaubt mir, sie werden nicht ruhen, bis sie jedem Bauern sein Leben zur Hölle gemacht haben.« Der Galgenbaum kam ihm in den Sinn. Servantus aber lehnte sich zufrieden zurück und gab seiner ehrlichen Erleichterung durch ein kräftiges Rülpsen Ausdruck. Wieder stahl sich der deutliche Geruch scharfer Zwiebeln in Fresenius’ Nase, mit einem Wedeln seiner linken Hand versuchte er ihn zu vertreiben. Servantus rückte seinen Schemel näher zum Feuer und legte seine Beine auf den Tisch, um sie nach Flohstichen zu untersuchen. »Ein lästiges Geschmeiß«, schimpfte er, und es war unklar, ob er die Flöhe oder die Bauern meinte.
»Wollt Ihr nun von der Schlacht erfahren oder nicht?« knurrte Fresenius ungehalten.
»Oh gewiß, aber Ihr schwatzt so viel vom Elend der Landleute, daß mir ganz langweilig davon wird. Mir brummt schon der Schädel.«
»Am Wein kann das wohl nicht liegen?«
Kichern. »Ach, Ihr seid mir aber ein Bruder Sauertopf, erzählt mir lieber, wie die Fürsten dem Gesindel den Garaus machten. Wie gesagt, der bischöfliche Abt liebt solche schmückenden Einzelheiten.«
»Aus dem Hinterhalt«, sagte der Kapuziner, und gegen seinen Willen ballte sich seine linke Faust, es mußte der Kriegsmann in ihm sein, der die Faust ballte. »Die Bauern hatten einen Brief mit ihren Forderungen an die Fürsten geschickt und wollten mit dem Landgrafen von Hessen, dem Herzog von Braunschweig und dem Herzog von Sachsen verhandeln, die mit ihren Reitereien und Söldnerheeren herbeizogen.«
»Verhandeln?« kreischte Servantus und schlug sich auf die Knie, als habe der Kapuziner einen gelungenen Scherz gemacht. »Ja, verhandeln«, sagte Fresenius heiser, »sie wollten, so sagten sie, kein Blut vergießen.«
»Hahaha, Angst hatten sie, diese feigen Schwätzer, diese Feldmäuse«, meinte Servantus zu wissen.
Damit lockte er den Kriegsmann in Fresenius endgültig aus der Reserve. Ungestüm brach er hervor: »Was verstehst du, der du im Speck deiner Gleichgültigkeit wohnst, von Feigheit oder Tapferkeit? Nennst du einen Haufen Hungerleider feige, die mit Fischspießen, rostigen Flinten, Dreschflegeln oder Sensen gegen ein wohlgerüstetes Heer von geharnischten Reitern und Kanonen ziehen?« Servantus nahm die Füße vom Tisch, rückte den Schemel näher heran und blitzte Fresenius wütend an. »Besinne dich, wer du bist, Bruder. Verblendet nenn’ ich das, gotteslästerlich, verderbter als die Saat Satans.« Der Kapuziner zuckte, fürwahr, er hatte nicht wie ein Geistlicher, sondern wie ein Krieger gesprochen. Im Hof schlug der Hund an. »Willst du nicht sehen, wer die Nachtruhe stört?« fragte Fresenius versöhnlich und ernsthaft bemüht, seinen unseligen Groll zu mildern. Was hatte er sich nur wieder hinreißen lassen! Der Mann, so feist und versoffen er sein mochte, hatte ja recht. Die Bauern waren Irrgläubige, verlorene Seelen, der Kampf war nicht ihr Geschäft, Demut ihre Berufung.
Servantus bemerkte den milderen Ton und war leicht zu beschwichtigen. Er lehnte sich wieder zurück.
»Wollt Ihr nicht nachschauen?« fragte Fresenius ein zweitesmal und aus echtem Interesse, denn der Hund kläffte beharrlich weiter. Servantus bewahrte seine eben zurückgewonnene Seelenruhe und seine bequeme Position nahe beim Feuer. »Ich brauche nicht nachzuschauen. Es wird der Prior sein. Er hat heute nacht zu tun.«
»Wird er nicht erzürnt darüber sein, daß Ihr Eure Nachtwache so vernachlässigt?«
»Oh, eben das Gegenteil. Er schätzt in Nächten wie diesen meine Nachlässigkeit.«
Der Kapuziner krauste die Stirn. Servantus zwinkerte ihm verschwörerisch zu: »Er ist nicht allein, versteht Ihr?« Fresenius schüttelte den Kopf.
»Nun, er hat heute seine Messe im nahegelegenen Nonnenstift gehalten, und gewöhnlich pflegt er danach eine der Novizinnen mit hierher und gesondert ins Gebet zu nehmen. Sancta laetitia, Ihr wißt schon.«
»Das kann nicht wahr sein.«
»O mein Gott, Ihr wißt wirklich nichts von der Welt. Soll ich Euch die Früchte der nächtlichen Bemühungen zeigen? Sie liegen unter dem Lehm des Schweinekobens verscharrt. Die Schöße der Bräute Jesu Christi sind selten jungfräulich, aber oft recht fruchtbar.«
Fresenius erstarrte unter dem Kichern des Mönches, das nun zu einem fetten Lachen anschwoll. »Und Ihr nennt die – Bauern verderbt«, zischte Fresenius schließlich voll Ekel und Abscheu. »Was sagt Ihr?« fragte Servantus, sich die Lachtränen aus den Augen wischend. Der Kapuziner besann sich, er war kein Bekehrer, die Mission nicht seine Pflicht.
»Nichts, guter Mann. Ich bin nur müde von den Anstrengungen der letzten Tage.«
»Ihr seid müde? Ist das der Dank für ein so prächtiges Stück gesottenes Schwein? Ein Mittelstück noch dazu und mit Honig gesüßter Gerstenbrei«, wurde Fresenius noch einmal jeder Bissen in den Mund gezählt. Doch die Rechnung, die Servantus aufmachte, war noch nicht zu Ende. »Müde. Müde. Was soll denn ich sagen? Ich scheue keine Mühe, um es Euch wohl gehen zu lassen, Ihr schlagt Euch den Wanst voll und speist mich mit Euren mageren Schlachtberichten ab, lästert Gott, redet den Armen das Wort. Was soll mir das nutzen?«
»Ihr batet mich um diesen Dienst.«
»O nein, nein, darum bat ich nicht. Ich bat Euch um eine Chronik für den bischöflichen Abt. Eine, die ich vorzeigen kann.«
Endlich verstand der Kapuziner. Sein Gastgeber wollte sich um die mühselige Schreibarbeit drücken. »Ich bin Kapuziner. Wie du vielleicht weißt, lehnen wir jede wissenschaftliche Tätigkeit ab, sie scheint uns nicht tauglich, um Gott zu finden.«
Wieder brach der Augustiner in Gelächter aus. »Das also ist es. So verquer hat mir noch keiner erklärt, daß er nicht schreiben kann. Ja, ja, das gemeine Volk ist wirklich nicht allzu verständig.« Der Kapuziner erhob sich von seinem Schemel und richtete sich zu seiner ganzen, stattlichen Größe auf. »Ihr irrt, ich bin des Schreibens durchaus mächtig, und es liegt mir fern, Euch etwas schuldig zu bleiben. Führt mich in die Schreibstube.«
»Nur wenn Ihr versprecht, all diesen Unsinn über die Not der Bauern wegzulassen.«
»Ich werde mein Bestes geben«, sagte Fresenius grimmig. Stolz verbarg er weiterhin seine eiserne Kralle im Kuttenärmel, wiewohl sie eine treffliche Entschuldigung gewesen wäre, das Amt des Chronisten nicht zu übernehmen. Daß er auch mit der Linken die Feder führen konnte, grenzte schließlich an ein Wunder. Servantius führte ihn in eine Schreibstube und verschwand grußlos.
Das unruhig flackernde Licht des Öllämpchens warf kleine tanzende Schatten auf die weißgekalkte Wand der Klosterzelle. Bruder Fresenius trat in Gedanken versunken hinter eines der grob gezimmerten Schreibpulte. Fröstelnd rieb er mit seiner grobknochigen linken Hand seine Schultern. Kühlere Nachtluft drang jetzt durch ein vergittertes Mauerloch, das Fenster zu nennen eine Übertreibung gewesen wäre.
Immer noch schlug der Hund an, und immer noch taten seine Gedanken ungebärdige Sprünge. Mißmutig blickte er auf das Pergament herab, Chroniken und Studien waren nicht seine Sache. Nur eine einzige wissenschaftliche Leidenschaft hatte der Bauernsohn je gekannt. Es war die Lektüre von Werken der Kriegs- und Waffentechnik, wie Abrahams »Feuerwerksbuch« über das Schießpulver von 1422 oder das wenige, was ihm während seiner Zeit in Italien von dem zeitgenössischen Universalwissenschaftler Leonardo da Vinci über Fluggeräte oder den Bau von Tauchglocken zum Angriff auf Belagerungsflotten in die Hände gekommen war.
Doch dieses Kapitel war abgeschlossen, den Kämpfer in sich hatte er besiegt, so predigte er sich selbst. »Meine Demut ist so vollkommen«, murmelte Fresenius mit einem Anflug von Sarkasmus, »daß ich sogar zu dem lästigen Dienst bereit bin, den du, Servantus, mir aufzwingst.« Er tunkte einen frisch geschnittenen Gänsekiel in ein Tintenfaß und glättete das frische Pergament aus ungegerbter Ziegenhaut mit der eisernen Faust. Immer noch gab man in Klöstern dem Pergament den Vorzug vor dem groben, grauen aus Lumpenbrei geschöpftem Papier, auf das die Bauern ihre Forderungen und Städter ihre Bücher drucken ließen. Handschrift und Pergament, für die gelehrten Augustiner bedeuteten sie ein Festhalten an der alten, göttlichen Ordnung.
Die beweglichen Buchstaben hingegen, so schimpften sie, die dieser Kerl Gutenberg erfunden hatte, brachten auch die Gedanken der einfachsten Leute in Bewegung. Gierig lasen sie oder – besser – ließen die meisten sich vorlesen, was so mühelos aus den städtischen Druckerpressen hervorquoll. »Rasch geschaut, rasch verdaut, nix als Scheiß«, scherzten die Handschreiber.
Fresenius schrieb zögernd und etwas ungelenk die ersten Worte: »Dies sind die Annalen des Klosters von Pernau zu Thüringen. Zu berichten ist von dem großen Schlachten und Sterben der Bauern vor Frankenhausen im Jahre des Herrn 1525.« Das war wohl ausgedrückt für einen, der das Schreiben verabscheute. Fresenius lächelte über seinen Anflug von Eitelkeit.
Doch dann drängten sich die Geräusche der Schlacht wieder auf. Der Angriff der fürstlichen Reiterei hatte den Bauernhaufen unvorbereitet getroffen, als sie – unbewaffnet, am Fuße ihres Berglagers – wie die Schäflein der Predigt ihres Führers gelauscht hatten. Verzückt und darauf vertrauend, daß noch der Waffenfriede zwecks Verhandlungen herrsche. Doch die Fürsten hatten keinen Frieden gewahrt. Nein, so konnte er das nicht schreiben. Von Tapferkeit mußte die Rede sein, nicht vom Hinterhalt.
»Es war eine Kriegslist«, rief sich Bruder Fresenius zur Ordnung. Eine erlaubte Kriegslist der Herren.
In Mühlhausen, so rief er sich ins Gedächtnis, hatten Rebellen die Getreide- und Fleischvorräte des Deutschritterordens an die Stadtbettler verteilt. Was für ein Frevel gegen die gottgewollte Weltordnung! Denn wie hieß es in der Bibel? Die hier unten ein Jammertal durchleben, werden hernach im Himmel die Fürsten sein.
Fresenius schob den Gedanken an das brennende Frankenhausen, in dessen Mauern die Fürsten ein schreckliches Blutgericht unter den letzten geflohenen Schwärmern abgehalten hatten, beiseite und griff beherzt wieder zur Feder. Chronistenpflicht.
»Schon zuvor war über ein Jahr wohl große Unruhe im ganzen Land. Vom Klettgau bis in den Schwarzwald zogen Bauern eine Spur aus Blutrunst und Büberei bis hin zu uns ins Thüringische. Sie brandschatzten Burgen und Klöster, verstreuten Reliquien. In Frankenhausen empfingen sie ihre gerechte Strafe.« Ja, das las sich gut, das klang nach Tatsachen und nicht nach wirren Glaubenszweifeln.
Allein, so schlich sich plötzlich wieder ein ketzerischer Gedanke in Bruder Fresenius’ militärisch geschultes Hirn, war es nicht eine ungleiche Schlacht gewesen? Schilderte er nicht den Sieg des Giganten über Armselige und schob dabei die Schuld der Maus statt der Katze zu? Er war doch schließlich Waffenkenner!
Ach, die Bauern waren Opfer eines blinden Irrglaubens geworden. Selbst Luther, auf den sich einige beriefen, hatte die Kämpfer eine räuberische Rotte gescholten. Die Bauern zu Frankenhausen aber wurden geführt von einem wahrhaft argen, falschen Propheten, der Thomas Müntzer hieß und den Armen predigte, Gott habe ihm das Schwert aus der Schrift verliehen. Wozu er die Bibel in teutscher Sprach und den Propheten Daniel zitierte und verkündete: »Die Herren sind nur Diener des Schwerts, das nötlich ist, um die Gottlosen zu vertilgen und das Volk zu schützen. Wo die Fürsten dies aber nicht tun, so soll ihnen das Schwert genommen und wider sie erhoben werden.«
Das Schwert aus der Schrift. Wieder hielt Fresenius inne, gedankenverloren fuhr er sich mit dem Ende des Federkiels über die Oberlippe und starrte auf die kleinen züngelnden Schatten an der Wand. Teuflische Schatten, die sich in kleine sensentragende Gnome verwandelten, winzige tanzende Bauern. »Höllenbrut«, zischte Fresenius und war geneigt, gleich Luther auf der Wartburg, sein Tintenfaß nach ihnen zu werfen und »Weiche von mir, Satan!« zu rufen. Satan? Er dachte an den kaum vierzehnjährigen Frankenhäuser Buben, dessen stilles, furchtsames Gesicht vor seinen Augen von den Stahlstacheln eines Morgensterns zerschmettert worden war.
Zuckend war der Junge niedergesunken, sein Gesicht eine einzige blutende Wunde. Kurz zuvor hatte er mit seligem Blick aus hell leuchtenden Augen noch das von Müntzer angestimmte Pfingstlied gesungen:
Komm zu uns Schöpfer, Heil’ger Geist,
erleucht dein’ arme Christenheit,
erfüll unser Herz,
das zu dir seufzet, mit innerlichem Schmerz.
Die klare, reine Stimme des Knaben, gemischt mit dem rauhen Gesang aus vielen Männerkehlen hatte Fresenius mächtig ergriffen; da wurde nicht müde geleiert wie im Chor von satten, feisten Klosterbrüdern. Inbrunst gab der Melodie leuchtende Kraft und trug sie weit über das Feld.
Lächerlich, schimpfte Fresenius seine plötzliche Schwäche und versuchte ärgerlich einen Tintentropfen von dem Pergament zu kratzen, wobei dieser Form und Gestalt eines Blutspritzers annahm.
Nein, vielleicht nicht lächerlich. Es war ihnen ein heiliger Ernst gewesen. Und wer die Bibel in weltlichem Sinne las, der konnte Stellen wie die über das Schwert, das man gegen falsche Fürsten erheben dürfe, aus dem Propheten Daniel wohl wirklich falsch deuten.
So wie dieser Müntzer, der vor der Schlacht frech gepredigt hatte, mit zerquälter, zorngefurchter Stirn und in flammender Sprache.
»Was aber sind die Fürsten? Sie sind nichts als stierwütige Tyrannen, schinden die Leute. Unser Blut vertun sie mit Hofieren, mit unnützer Pracht, mit Huren und Spitzbuben. Es hat Gott geboten im Deuteronomium, es soll ein König nicht viele Pferde mit sich führen und keine große Pracht veranstalten. Auch soll ein König täglich das Gesetzbuch in den Händen haben. Was aber tun unsere Fürsten? Sie nehmen sich des Regierens nicht an, hören die armen Leute nicht, sprechen nicht Recht, halten die Straßen nicht rein, wehren nicht Mord und Raub, verteidigen nicht die Witwen und Waisen, fordern den Gottesdienst nicht. Diese dürftigen Madensäcke verderben uns Arme mit immer neuen Lasten, das Land mit unnötigen Kriegen. Rauben, Brennen, Morden, das sind fürstliche Tugenden. Und selbst wenn solches zu dulden wäre, so kann Gott doch das nicht dulden, daß sie den falschen Gottesdienst der Pfaffen und Mönche verteidigen.«
Das war ein grobes Stück. Und kurz vor Ende dieser Predigt hatten die Fürsten denn auch ihren Angriff gewagt, um der Lästerei ein Ende zu setzen. Im Namen des Herrn.
Die blakende Fackel schickte stinkenden Ruß zur Decke. Pesthauch der Hölle, fluchte Fresenius, doch dachte er dabei an einen Regenbogen. Ja, einen Regenbogen, deutlich sah er ihn jetzt wieder vor sich. So deutlich wie zu Frankenhausen.
Als die erste Kanonensalve die Versammlung der Bauern zersprengte, die Leiber einiger von ihnen zerriß und die geharnischte Reiterei herangaloppierte, hatte Müntzer in den Himmel gezeigt. Fünftausend Hälse reckten sich empor.
Ein mächtig schillernder Regenbogen umkränzte die Sonne. Ein Regenbogen genau wie der, den Müntzers Bundesgenossen auf ihre Fahnen malten. Jenem Regenbogen nachgeformt, den Gott, nachdem er mit der Sintflut alle verderbten Menschen vertilgt hatte, in die Wolken setzte, zum Zeichen, daß sein Bund mit Noah und seinen Söhnen ein ewiger sei. »Sehet«, hatte Müntzer gerufen, »sehet, Gott gibt uns ein Zeichen, daß wir recht tun. Flieht nicht, sondern kämpft! Ihr seid Kämpfer Gottes, und dies ist eine Schlacht im Namen des Herrn.«
Fresenius erschauerte, als er an diese Szene dachte. Die Feder entglitt seiner linken Hand. Die letzten Zeichen von Abgeklärtheit wichen aus seinen Zügen. Der Kapuziner starrte auf einen Riß in der Mauer, und plötzlich war es ihm, als ginge dieser Riß mitten durch sein Herz, dem er lange sein Recht versagt hatte. Nun schlug es wild aus wie ein sich aufbäumendes Pferd. Fresenius wehrte sich vergeblich gegen dieses aufbrausende Gefühl, ihm rauschte das Blut in den Ohren. Er unterlag.
Da war ein Regenbogen gewesen. Ja. Und dieser Regenbogen hatte auch seine Seele erleuchtet. Mitten auf einem Schlachtfeld. Es durchfuhr ihn eine Erkenntnis, die größer war als alles, was er je empfunden hatte. Müntzer war kein Ketzer, sondern vielleicht ein Gesandter Gottes, ein Kämpfer gewiß, und ein zwar grober, aber auch großer Mann. Der Eine unter Tausenden, der verkannte Messias vielleicht. Fresenius griff beherzt und begierig zur Feder, aus seinem tiefsten Innersten flossen nun die Worte. Es waren Worte, an Gott gerichtet. Welcher Frevel und welche Lust, sich ihm einmal direkt anzuvertrauen. Servantus sollte seine Chronik haben. Kratzend flog die Feder über das Pergament. In nichts glich die Schrift des Kapuziners den wohleinstudierten, schön geschwungenen Buchstaben, mit denen die Augustiner gewöhnlich ihre Chroniken zu führen pflegten. Auch vergaß er, Sand über die frische Tinte zu streuen, so daß einige Worte häßlich unter dem Ärmel seiner groben Kutte verschmierten.
Ein reißender Schmerz ging durch jeden einzelnen Satz. Er schrieb nieder, was er gesehen und empfunden hatte. Und dann schloß er mit einem letzten, verzweifelten Satz: »Herr, führe mich in den Kampf, auch wenn die Sache verloren ist, denn hier auf Erden ist unsere Hölle.«
Fresenius ließ die Feder sinken, wieder bellte im Hof der Hund. Ja, es war etwas verkehrt in der Welt, und das war nicht die Bibeldeutung Müntzers, denn die nahm das Heilige Wort ernst und wörtlich. Fresenius sank auf die Knie, Tränen schössen in seine Augen, strömten seine Wangen herab.
Nie zuvor hatte er etwas Ähnliches empfunden, tiefsten Schmerz und tiefste Beglückung zugleich, den Mut zum eigenen Gedanken. Und dann war es Fresenius, als ströme durch das Mauerloch nicht mehr der Gestank vom Schweinekoben, sondern der süße Duft der Nazarener-Rose. Lieblich und betörend schwer.
Der Kapuziner legte sich nieder auf die kalten Ziegel und schloß die Augen. Vor ihm erschien das Bild einer heiligen Frau. Sanft war ihr ovales, weißes Gesicht, doch ihre Lippen, ihre Augen waren nicht zu erkennen. Die Mutter Gottes? Nein, nicht die Mutter Gottes. Und dann hörte er eine wunderbare Stimme. »Du bist ein Krieger Gottes, und dein Kampf ist nicht zu Ende.«
Fresenius erschrak nicht. Erst als der süße Duft verflog und er widerwillig die Augen öffnete, durchrieselte ihn ein Schauer. Die Glocke läutete zur Prim. Zeit zum ersten gemeinsamen Gebet der Brüder, sechs Uhr morgens. Fresenius trat ans Fenster. Im blasser werdenden Mondlicht glänzte das Stroh im Hof, als sei es von Silber gesponnen. Die Glocke verhallte ungehört, keiner der Brüder eilte zum Gebet. »Dieser Ort liegt fern von dir, Herr«, murmelte der Kapuziner, schnürte Kutte und Bündel und machte sich auf den Weg.