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1 Der Aufbau des Gehirns 1.1 Stammhirn – Zwischenhirn – Großhirn

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Hunderte von Millionen Jahre benötigte die Evolution, um von primitiven Lebensformen ohne Gehirnausstattung über immer differenziertere Lebensformen, die eine zentrale koordinierende Steuerungseinheit für die vielen eintreffenden Umgebungsreize benötigten, immer komplexere Gehirne zu entwickeln. Das menschliche Gehirn ist nach Auffassung des Hirnforschers und Nobelpreisträgers Sir John C. Eccles das komplizierteste Gebilde des gesamten Universums (Eccles, 1987). Es funktioniert vollständig auf naturwissenschaftlich erklärbaren Prinzipien wie z. B. der elektrophysiologischen Weiterleitung von eintreffenden Sinnesreiszen und biochemischen Prozessen, u. a. in synaptischen Spalten. Je höher auf der Entwicklungsstufe der Evolution, desto entwickelter insbesondere das Großhirn, der sogenannte Neocortex. Auffällig ist, dass das Gehirn des Menschen größer ist als das der meisten Tiere, sein Gewicht variiert meist zwischen 1 200 und 1 800 Gramm.

Das absolute Gewicht des Gehirns sagt allerdings nichts aus, sondern eher das Verhältnis der tatsächlichen Gehirngröße zum erwarteten Gehirngewicht (der Encephalisationsquotient EQ), wobei die erwartete Gehirngröße unter Berücksichtigung der Körpergröße lebender Säugetiere berechnet wird. Der EQ liegt beim Menschen um 6,30, beim Schimpansen z. B. bei 2,48 und bei der Katze bei 1,01. Da dieser Quotient aber nicht viel aussagt – z. B. hat der Delphin einen EQ von 6,00 –, berücksichtigt man den Zuwachs des Neocortex im Vergleich zu anderen höher entwickelten Säugetieren (Cortexquotient [CQ]). Dann ergibt sich, dass der CQ beim Menschen 3,2-fach größer ausfällt als der von Primaten (Kolb & Wishaw, 1996).

Wir Menschen teilen den basalen strukturellen Gehirnaufbau mit allen höher entwickelten Arten: Den entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil, das Stammhirn, das Zwischenhirn und das Großhirn. Der entwicklungsgeschichtlich neueste Teil der Hirnentwicklung ist die Großhirnrinde und hier insbesondere der Neocortex, der – wie erwähnt – beim Menschen größer ausfällt und insbesondere durch verschiedenste Funktionen gekennzeichnet ist.

Im Folgenden werden die für unser Thema wichtigsten Hirnareale und ihre Funktionen in sehr knapp gehaltener Form dargestellt, damit ein grundlegendes Verständnis der Gefühls- und Emotionsentstehung für die therapeutische Arbeit an den Emotionen und Affekten von Kindern und Jugendlichen zugrundegelegt werden kann. Erst ein grundlegendes Verständnis der funktionalen Organisation des Gehirns ermöglicht den Brückenschlag zur Psychologie (Roth, 1996).

In Abbildung 1.1 sind die für unsere Zwecke wichtigsten Hirnbereiche dargestellt ( Abb. 1.1).

Das Stammhirn (Übergangsbereich zwischen Brücke und Rückenmark) umfasst Zentren für die lebensnotwendigen Funktionen des Organismus (z. B. die Formatio reticularis). Darin befindet sich eine Reihe von Kernen, die für die Regulationen des Wasserhaushalts des Körpers, die Atmung oder die Regulierung des Kreislaufs zuständig sind, hier läuft alles automatisch und unbewusst ab.

Das Zwischenhirn (Diencephalon) bzw. Mittelhirn befindet sich zwischen dem Stammhirn und dem Großhirn. Es umfasst vegetative Aufgaben – etwa die Balance zwischen dem sympathischen und parasympathischen Nervensystem –, steuert den Biorhythmus und ebenfalls die Emotionen. Das limbische System (vom Lateinischen Limbus = Saum; da die zugehörigen Strukturen einen doppelten Ring um die Basalganglien und den Thalamus bilden) als zentraler Bereich des Zwischenhirns ist an Gedächtnisleistungen beteiligt und spielt die entscheidende Rolle bei der emotionalen Bewertung von Ereignissen in der äußeren Umwelt. Besonders wichtig ist das limbische System bei der Herstellung von emotional-affektiven Zuständen in Verbindung mit Vorstellungen, Gedächtnisleistungen, Bewertungen, Auswahl und Steuerung von Handlungen (Roth, 2001). Zum limbischen System gehören u. a. die Basalganglien, der Hippocampus, der Gyrus cinguli, der Thalamus, der Hypothalamus und die Amygdala.


Abb. 1.1: Hirnaufbau des Menschen

Der Gyrus cinguli (nicht abgebildet) umschlingt weite Teile des limbischen Systems und ist an kognitiven und emotionalen Funktionen beteiligt.

»Der ventrale Bereich steht mit emotionalen Funktionen im Zusammenhang und unterhält Verbindungen zur Amygdala, zum Nucleus accumbens, zur Insula und zum Hypothalamus. Im dorsalen Teil spielen sich hingegen eher kognitive Prozesse ab« (Medlexi, Abruf am 28.03.2020).

Der Thalamus als größter Teil im limbischen System ist Sammel- und Durchgangsstelle für alle Sinneseindrücke (nur ohne Geruchssinn), auch aus dem Stammhirn. Auf dem Weg zur Großhirnrinde werden hier eingehende Reize umgeschaltet. Der Thalamus entscheidet, welche Sinneseindrücke in das Bewusstsein gelangen sollen (»Tor zum Bewusstsein«).

Der Hypothalamus ist zentrale Koordinierungsstelle zwischen dem endokrinen und dem Nervensystem. Als solche reguliert er vitale Funktionen wie Wachstum, Körpertemperatur, Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, zirkadiane Rhythmen wie Schlaf und das vegetative Nervensystem (Huggenberger et al., 2019).

Der Hippocampus (»Seepferdchen«) ist entscheidend bei Gedächtnisfunktionen, für die Abspeicherung neuer Informationen in Gedächtnisinhalte.

Die Hypophyse (Hirnanhangdrüse) ist wichtig für den Stoffwechsel des Organismus und steuert den Hormonhaushalt. Als Drüse produziert sie z. B. GH (growth hormone), ACTH (adrenokortikotropes Hormon, ein Stresshormon), FSH (Follikel-stimulierendes Hormon) für die Reifung von Eizellen, Spermienzellen oder TSH (Thyroid-stimulierendes Hormon) für die Schilddrüsenfunktion.

Die Amygdala ist eine zentrale bewertende Instanz, insbesondere im Hinblick auf die emotionale Bedeutung. Angst und Aggressivität sind die zentralen Emotionen, die hier geweckt werden können, aber auch Freude und Sexualtrieb.

Die Großhirnrinde (Cortex cerebri)ist der evolutionsbiologisch jüngste Teil des Gehirns. Sie hat eine Gesamtfläche von 2 200 cm2, die in zahlreichen Furchen und Windungen in einer Dicke von nur ca. 2 bis 5 mm versteckt ist. Da sie eine die beiden Hemisphären überspannende Struktur aus grauer Substanz ist, wird sie auch als Mantel (Pallium) bezeichnet. Die Zahl der Nervenzellen besteht aus unvorstellbaren fast 90 Milliarden Neuronen in sechs horizontalen Schichten. Der Cortex cerebri lässt sich in fünf bis sechs große »Lappen« einteilen (je nach Autor): Frontallappen, Parietallappen, Occipitallappen, Temporallappen, sowie Insellappen und Limbischen Lappen. Der Neocortex (auch Isocortex) nimmt hierarchisch, funktionell und topographisch das höchste Niveau des Telencephalons (Endhirn) ein und ist verantwortlich für die höheren zerebralen Funktionen wie Sprache, abstraktes Denken, Sozialverhalten, Lernvermögen usw. (Huggenberger, 2019).

Man kann den Cortex nach seinem stammesgeschichtlichen Alter in den älteren Archicortex und den (sehr alten) Palaecortex sowie den neueren Neocortex unterteilen. Der Unterschied besteht in der geringeren Schichtung bei den Nervenzellen in den älteren Arealen, z. B. bei der hippocampalen Formation (Archicortex) und beim Riechhirn (Palaecortex). Der Neocortex ist der Teil der Großhirnrinde, der für multisensorische und motorische Funktionen zuständig ist.

Es gibt unzählbar viele Faserverbindungen vom Zwischenhirn zum Großhirn (s. im Folgenden). Das wichtigste Umschaltorgan des Zwischen- bzw. Mittelhirns zum Cortex cerebri ist der Thalamus. Das Zwischenhirn umfasst u. a. den Thalamus, den Hypothalamus, den Hippocampus, die Amygdala, den Gyrus cinguli, den Nucleus accumbens und wichtige andere, die alle eine bedeutsame Funktion beim Erkennen und Bewerten von Ereignissen außerhalb des Organismus haben. Das Zwischenhirn ist für unsere Zwecke besonders wichtig, weil es neben den genannten Funktionen für die Gefühle zuständig ist. Hier entstehen Emotionen und Affekte.

Die Großhirnrinde erhält ihre zuführenden Informationen (Afferenzen) überwiegend vom Thalamus. Diese Informationen umfassen Sinneswahrnehmungen der verschiedenen Sinnesorgane.

»Extrathalamische Afferenzen kommen hauptsächlich aus der Amygdala, dem basalen Vorderhirn (cholinerge Afferenzen) einschließlich des Septum, den Basalganglien, dem Hypothalamus, den Raphekernen (serotoninerge Afferenzen), dem Locus coeruleus (noradrenerge Afferenzen) [die Raphekerne und der Locus coeruleus liegen im Stammhirn; Anmerk. v. d. Verf.], und dem tegmentalen Höhlengrau (dopaminerge Afferenzen) [Nervenzellkörper im Mittelhirn, eine Schicht, die ventral an den inneren Liquorraum grenzt und Angst- und Fluchtreflexe koordiniert; Anmerk. v. d. Verf.]« (Roth, 1996, S. 153).

Der präfrontale Cortex befindet sich im Frontallappen. Hier finden Steuerungen der Motorik und der Emotionen statt. Als »Organ der Zivilisation« bezeichnet, reguliert dieser Hirnbereich ethisch-moralische Entscheidungen. Verletzungen können zum Verlust von Scham- und Schuldgefühlen führen, d. h. Läsionen können die Persönlichkeit drastisch verändern. Der präfrontale Cortex dient als Schaltstelle zwischen dem Neocortex und dem limbischen System. Emotional-affektive Regungen werden bei intaktem präfrontalen Cortex stets von hier aus in enger Zusammenarbeit mit dem limbischen System reguliert.

Der Parietallappen organisiert und reguliert räumliches Denken und feinmotorische Abstimmungen für Hand- und Augenbewegungen. Er liegt leicht seitlich (Scheitellappen) hinter dem Frontallappen.

Der Occipitallappen liegt am Hinterhaupt. Er verarbeitet visuelle Reize und stellt das Sehzentrum des Gehirns dar.

Der Temporallappen umfasst den auditiven Cortex, den Hippocampus und das Wernicke-Sprachzentrum. Er ist wichtig für das Erkennen von Objekten.

Emotionen und Affekte bei Kindern und Jugendlichen

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