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4. RUSSLAND-REISE (1863)

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Sonntag, 24. Mai 1863:

Ich bin jetzt in Wien und habe mir vorgenommen, mit dem Schiff die Donau bis zur Mündung ins Schwarze Meer hinabzufahren. Dort werde ich sehen, wie ich weiterkomme. Ich habe vor, über das Schwarze Meer nach Transkaukasien zu gehen, wo ich mir gerne einmal das Kloster Etschmiadzin ansehen möchte, von dem ich schon so viel gehört habe. Von dort aus würde ich gerne bis ans Kaspische Meer reisen oder, falls das mit zu großen Umständen verbunden ist, irgendwie sonst nach Norden zu gelangen suchen, denn ich möchte gerne den Don oder die Wolga kennen lernen und dann meine Reise nach Moskau fortsetzen. Ich hatte nämlich in Dresden die Bekanntschaft eines russischen Offiziers gemacht, der sich Iwan Semenoff nannte. Wir hatten uns beim Billard getroffen. Er war ein ausgezeichneter Spieler und ein höchst ehrenwerter Mann. Wir waren Freunde geworden und ich hatte versprechen müssen, ihn oder wenigstens seine Mutter zu besuchen, wenn ich einmal nach Moskau kommen sollte.1

Montag, 15. Juni 1863:

Es hat auf den Tag genau drei Wochen gedauert, bis ich hier in Tultscha, der großen Hafenstadt im Donaudelta, angekommen bin. Da bis hierher die Hochseeschiffe aus dem Schwarzen Meer kommen, hoffe ich, dass ich eine Gelegenheit zur Weiterfahrt finde. Es war eine erlebnisreiche Reise mit Hindernissen, teils auf dem Fluss, teils zu Land, da die Donau noch nicht überall schiffbar ist, etwas abenteuerlich, aber schön. Ich kann mir vorstellen, dass dann, wenn sich einmal alle Staaten, durch die dieser zweitgrößte Strom Europas fließt, einig sind und ein durchgehender Schiffsverkehr auf der Donau möglich gemacht wird, diese Reise auch für weniger abenteuerempfindliche Leute ein Vergnügen wird. Zu viele staatliche Interessen sind momentan noch zu berücksichtigen.

Montag, 22. Juni 1863:

Heute bin ich in Batum, der Hauptstadt von Russisch-Kaukasien, angekommen. Batum liegt an einer Bai, die den besten Ankerplatz im östlichen Schwarzen Meer bieten soll, und ist der Haupthandelshafen Transkaukasiens und gleichzeitig auch Kriegshafen. Die Einwohnerzahl könnte über 5.000 betragen. Nun suche ich von hier aus eine Gelegenheit, um in die Gegend von Eriwan zu kommen, von wo etwa zwanzig Kilometer westlich das Kloster Etschmiadzin liegt.

Dienstag, 30. Juni 1863:

Ich hatte schon einiges von dem berühmten armenischen Kloster gehört, das seltene Schätze besitzen soll. Ursprünglich stand hier die uralte Stadt Wagharschabad, die im Jahre 302 von König Tiritades gegründet worden war. 524 erbaute der Patriarch Narses das Kloster, das mit seiner hohen Mauer und seinen acht Türmen einer Festung ähnlicher sieht als einem Kloster der armenischen Kirche. Ich war in einer Herberge in der Nähe des Klosters untergekommen, in einer Gegend, die noch zum alten Wagharschabad gehörte. Vier Mal war ich insgesamt im Kloster Etschmiadzin,2 um mir die kostbaren Reliquien anzusehen und um mich mit den Mönchen zu unterhalten. Man kann daran glauben oder nicht, wenn man hört, welche Kostbarkeiten hier angeblich aufbewahrt werden: Das bedeutendste Stück soll die Lanze sein, mit der Christus am Kreuz durchbohrt wurde; dann sieht man ein Stück der Arche Noah und die rechte Hand des heiligen Gregor. Wer die heilige Hripsime war, von der ein Stück ihres Schädels hier aufbewahrt wird, weiß ich nicht. Weitaus mehr noch interessierte mich die Bibliothek, in der sehr seltene Werke, wie zum Beispiel alte Bibelhandschriften, aufbewahrt werden, an die ich aber nur herankam, nachdem ich mit maßgebenden Mönchen darüber ins Gespräch gekommen war. Nach einigen Tagen, als ich meinen Wissensdurst genügend gestillt und auch die beiden Filialklöster von Etschmiadzin, nämlich Kaiane und Hripsime, kurz besucht hatte, setzte ich meine Reise nach Zentral-Russland fort.

Sonntag, 26. Juli 1863:

Vom Kloster Etschmiadzin war ich wieder zurückgereist nach Batum, wo ich bei meiner Ankunft noch am gleichen Tag ein Schiff erreichte, das mich über das Schwarze Meer durch die Meerenge von Kertsch im Osten der Halbinsel Krim und durch das Asowsche Meer nach Taganrog brachte. Die Hafenstadt Taganrog liegt auf einer Landzunge am Asowschen Meer. Sie war 1698 von Zar Peter I. gegründet und vor wenigen Jahren (1855) von einer englischfranzösischen Flottille zerstört worden und befindet sich jetzt noch im Wiederaufbau. Nicht sehr weit davon fließt der Don, in mehrere Arme verzweigt, ins Asowsche Meer. Nördlich davon liegt das Gebiet der Donischen Kosaken, die als großes Reitervolk bekannt sind und die ich nicht näher beschreiben muss. Mich interessierte besonders ihre Reitkunst und ich muss sagen: Alle Achtung! Selbst die fast unübertroffenen indianischen Prärievölker Nordamerikas könnten noch einiges von den Kosaken lernen. Natürlich musste ich auch ein Kosakenpferd zwischen meine Schenkel nehmen. Mit einem Dampfer fuhr ich dann den Don so weit hinauf, bis dahin, wo er sich etwa auf sechzig Kilometer der Wolga nähert. Hier stieg ich aus und erreichte in östlicher Richtung die Kreisstadt Zarizyn an der Wolga. Nach dem Städtchen Sarepta, das südlich von Zarizyn liegt und 1765 von den deutschen Herrnhutern gegründet wurde, kam ich leider nicht, denn ich hatte Gelegenheit, mit einem Dampfer die Wolga aufwärtszufahren; mein nächstes Ziel war ja eigentlich Moskau.

Mittwoch, 29. Juli 1863:3

Das freundliche, an der Wolga liegende Subzow lag hinter mir, und die Troika, deren ich mich bediente, flog auf der Straße nach Moskau hin. Als wir an einem Gasthaus vorbeikamen, hielten wir an und legten eine Reisepause ein. Auf meine Frage, wem das Pferd gehöre, das neben der Tür stand, antwortete mir der Wirt, dass der Besitzer ein Rittmeister von Semenoff sei, der nach dem Flüsschen gegangen sei. Vielleicht war es mein Dresdener Bekannter und ich konnte ihn hier treffen. Ich folgte dem schmalen Pfad, der sich durch die Wiese schlängelte, bis in die Büsche, zwischen denen er sich bald verlief. Als ich ein höhnisches Lachen hörte, blieb ich stehen. Es mussten da zwei Personen beisammen sein, die höchstens zwanzig Schritte vor mir standen. Auf einem kleinen Umweg durch die Sträucher gelangte ich in ihren Rücken. Den Rittmeister kannte ich nicht, und der andere Mann musste erst kürzlich einem russischen Gefängnis entwischt sein, wie ich vernahm. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Beide planten irgendein Verbrechen. Sie wollten sich heute Abend nochmals mit einer Frau namens Wanda in einem Garten bei den Eichen treffen. Ich hatte zwei Verbrecher belauscht. Diese Angelegenheit ging mich etwas an, da der Offizier den Namen meines Freundes trug.

In Moskau stieg ich im Hotel Petershof ab. Die Familie Semenoff wohnte in derselben Straße. Ich schickte meine Karte hin, und kaum war der Bote wieder zurück, so hörte ich eilige Schritte und Iwan trat ein. Natürlich musste ich in seinem Haus, einem Palast, wohnen und er stellte mich dann sofort seiner Mutter vor. Später lud er mich zum Billardspiel ein, an dem auch die Gesellschafterin seiner Mutter teilnehmen würde. Ich stand am Fenster. Unten lenkte ein Reiter nach dem Tor. Es war der Dragonerrittmeister, den ich belauscht hatte. Er hieß Kasimir und war der Vetter von Iwan, doch der wollte von diesem nicht viel wissen. Da trat die Gesellschafterin ein, Fräulein Wanda Smirnoff. Es war Schreck, der sie so fürchterlich erbleichen ließ, als sie mich erblickte. Die ‚stille, ernste, fromme‘ Gesellschafterin war Adele Treskow, eine ‚alte Bekannte‘.

Meine Bekanntschaft mit Adele ‚von‘ Treskow lag schon einige Zeit zurück. Ich lernte sie in einem Bahnhof im Ruhrgebiet kennen, wo sie ebenso wie ich den Zug nach Düsseldorf verpasst hatte. Da wir noch lange Zeit bis zur Abfahrt des nächsten Zuges hatten, suchten wir ein Kaffeehaus auf, wo wir beide Klavier spielten. Dort gesellte sich ein Mann zu uns, der sich als ‚Assessor Max Lannerfeld‘ vorstellte und die ‚Sängerin Adele von Treskow‘ von Berlin her kannte. Außerdem war noch ein reicher Viehhändler aus Köln da. Obwohl ich kein Spieler bin, ließ ich mich auf ein Kartenspiel mit finanziellem Einsatz ein. Ich aber wusste sofort, woran ich war; ich hatte es mit Gaunern zu tun. Ich gewann einige Male und verlor dann einmal. So hielt ich fest, bis vierzig Taler lagen. Da griff ich in die Tasche und zog drei Fünfzigtalernoten heraus. Das war mein Reisegeld, im Augenblick mein ganzes Vermögen. Ich sagte, dass ich diese Summe zusätzlich setzen würde, wenn ich jetzt gewänne. Und ich gewann. Dann strich ich das Geld ein. Es kam zu einem Wortgefecht, wobei sie verrieten, dass sie mich absichtlich hatten gewinnen lassen, um dann meinen erhöhten Einsatz zu kassieren. Ich verließ den Raum und meldete dem Wirt, dass verbotenes ‚Kümmelblättchen‘ gespielt worden war. Als einige Kellner in das Zimmer traten, war das Trio durch das Fenster entflohen. – Es war einige Monate später. Ich war wieder daheim in Dresden und gerade unverhofft von einer Reise zurückgekommen. Ich muss bemerken, dass ich mich damals für kurze Zeit als Redakteur hatte anstellen lassen. Mein Zimmer befand sich an meiner Arbeitsstelle. Da sah ich im Setzersaal noch Licht und hörte auch das Geräusch einer Handpresse. Als ich in den Raum trat, stand vor mir der ‚Herr Assessor Max Lannerfeld‘. Er hatte sich Passmuster gedruckt, die trotz der Unzulänglichkeit der alten Presse scharf ausgefallen waren. Die Polizei erschien und bemächtigte sich des Gefangenen. Die Untersuchung ergab, dass der Herr Assessor ein polnischer Schriftsetzer war, der längere Zeit in Berlin gearbeitet hatte. Später war er mit seiner Freundin, einer geborenen Polin, auf Reisen gegangen. Die ‚Sängerin‘ wurde nicht aufgefunden. Der Herr Assessor wurde zu einer längeren Haft verurteilt.4

Zurück nach Moskau: Iwan Semenoff führte mich später in den Garten. Dabei konnte ich feststellen, dass dies der Ort war, wo das vereinbarte Stelldichein der beiden Verbrecher stattfinden sollte. Iwan befand sich an diesem Abend mit seiner Mutter im Theater. Noch vor Mitternacht begab ich mich leise in den Garten. Es mochte drei Viertel nach zwölf sein, als ich leichte Schritte vernahm, und wirklich erkannte ich in der Nahenden die Gesellschafterin. Kaum eine Minute später erschien eine männliche Gestalt. Seit ich diese Wanda erkannt hatte, wusste ich auch, wer er war: der frühere angebliche Assessor. Sie unterhielten sich über mich, konnten dann aber nicht weitersprechen, denn der Rittmeister kam. Ich erlauschte, dass man am folgenden Tag, wenn Iwan mit seiner Mutter das Haus verlassen hatte, einen Juwelier mit seinen kostbarsten Stücken in die Villa bestellt habe, um ihn auszurauben und dann mit der Beute zu verschwinden.

Donnerstag, 30. Juli 1863:

Am Morgen war es mein erstes, Iwan davon Mitteilung zu machen. Er erstarrte vor Erstaunen. Dann eilten wir auf das Polizeiamt. Iwan kannte einen der höheren Polizeibeamten, zu dem ich ihn begleitete. Dieser hörte unserem Bericht aufmerksam zu und nickte dann. Er kannte den Assessor, einen Polen namens Mieloslaw, ein höchst gefährlicher Mensch, der kürzlich erst aus dem Gefängnis entsprungen war. Mit mehreren verkleideten Polizeibeamten kehrten wir zu Iwans Palast zurück und beobachteten ihn unbemerkt. Eine Viertelstunde verging; da kam eine Droschke herbei und hielt vor dem Gittertor. Ein einzelner Herr stieg aus; er trug einen winzigen Koffer. Es war der Juwelier Schikawiersky. Kurze Zeit darauf verschwanden die verkleideten Polizisten im Eingang des Palastes. Wir gingen mit hinein und drangen mit den Polizisten in die Räume. Im Zimmer stand der frühere Schriftsetzer in der Livree des Hauses; etwas weiter vor ihm befand sich Wanda, als Baroneska verkleidet. In der Hand hielt sie bereits den kleinen Koffer. Auf dem Stuhl lag mehr, als er saß, der Juwelier. Er war gewürgt worden. Die Steine, die geraubt werden sollten, hatten einen Wert von mehreren hunderttausend Rubel. Mieloslaw wurde gefesselt. Ebenso erging es seiner Gehilfin.

Freitag, 31. Juli 1863:

Am Nachmittag kam die Kunde, dass der Rittmeister in der hochflutigen Moskwa ertrunken sei.

Mittwoch, 7. August 1863:

Ich blieb mehrere Tage Gast von Iwan Semenoff und seiner Mutter. Er zeigte mir die Schönheiten Moskaus, die ich allein nie in dieser großen Weltstadt gefunden hätte. Besonders der Kreml hatte es mir angetan. An der Beerdigung des Rittmeisters nahm ich nicht teil. Mieloslaw wurde mit seiner Gehilfin auf Lebenszeit nach Sibirien verbannt. Heute ist der Tag des Abschieds von Moskau und den gastfreundlichen Semenoffs. Ich werde über Minsk und Warschau in meine Heimat zurückkehren.

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