Читать книгу Moral und Erziehung in der pluralistischen Gesellschaft - Hans-Joachim Werner - Страница 12
Allgemeinheitsstufen
ОглавлениеDer Begriff der Ethik als „Theorie der Moral“ provoziert die Rückfrage nach der Bedeutung von „Moral“. Dass mit diesem Begriff einerseits die persönliche Sittlichkeit gemeint sein kann, andererseits aber auch die gesellschaftlich anerkannte Sittlichkeit, wurde bereits erwähnt; mit der Benutzung des Prädikats „sittlich“ ist die Aufgabe der Begriffsbestimmung jedoch nicht gelöst, sondern nur verschoben. Wenn A. Pieper z.B. in einer Quasidefinition schreibt: „Dabei ist mit Moralität vorerst jene Qualität gemeint, die es erlaubt, eine Handlung als eine moralische, als eine sittlich gute Handlung zu bezeichnen“ (ebd.), so geht dies offenbar über die Übersetzung der lateinischen „mores“ nicht hinaus.
Die aktuelle Diskussion folgt verschiedenen Differenzierungswegen. Der eine betrifft die Differenz der verschiedenen Allgemeinheitsgrade des Moralischen, der andere die Bedeutung der normativen Betrachtungsweise.
Man kann Moral als einen Bereich individueller rationaler und/oder emotionaler Entscheidungen und Setzungen betrachten, sodass moralische Entscheidungen und moralische Wertorientierungen grundsätzlich individueller Natur sind. Dieser Position sind die Vertreter des Emotivismus zuzuordnen, insofern für sie die Bedeutung des Terminus „gut“ nur in der persönlichen Zustimmung besteht. A. MacIntyre, der im „Verlust der Tugenden“ vor allem eine Konsequenz des Emotivismus sieht, bemerkt kritisch, dass moralische Begriffe oft auch benutzt werden, um diese persönliche, nicht-begründbare Orientierung zu verschleiern. In der Sprache der Moral sei es oft so, dass „das offene Geltendmachen von Grundsätzen nur als Maske für das Ausdrücken persönlicher Vorlieben dient“ (Mac-Inytre 1987, 35). Die individualistische Moralkonzeption in ihrer konsequenten Form geht davon aus, dass moralischen Urteilen nicht nur individuelle Gedanken- und Formungsprozesse zugrunde liegen, sondern dass solche Urteile und die in ihnen zum Ausdruck kommenden Wertpräferenzen auch nur für dieses Individuum gelten.
Die nächste Allgemeinheitsstufe ist die der jeweiligen Gruppe, in deren Wertorientierungen die ihr angehörigen Individuen einbezogen sind. Hierzu zählt grundsätzlich der Kommunitarismus, so wie er sich etwa bei Ch. Taylor äußert: „Da das freie Individuum seine Identität allein in einer Gesellschaft und Kultur einer bestimmten Art aufrechterhalten kann, muss es sich kümmern um die Gestalt dieser Gesellschaft und Kultur als Ganze“ (1985, 207; vgl. Reese-Schäfer 1995). Hierzu zählen auch die Vertreter einer evolutionären Ethik, sofern sie überhaupt bereit sind, die mit dem „Egoismus der Gene“ gesetzten Grenzen zu überschreiten und wenigstens die Realität eines „reziproken Altruismus“ anerkennen, d. h. eines Altruismus, der im moralischen Bereich das Gleichgewicht von Geben und Nehmen im Rahmen sozialer Beziehungen anerkennt. So erscheint Moral als „die Summe der Regeln (Normen), die von den Individuen einer Sozietät zu befolgen sind, damit diese Sozietät funktionsfähig bleibt. Es sind Regeln des Zusammenlebens, die das Überleben der Sozietät gewährleisten sollen“ (Wuketits 1999, 52).
Die nächste Stufe geht über die Gruppen- bzw. Gemeinschaftsorientierung hinaus, insofern nun die Gesellschaft als ganze in den Blick kommt, die bestimmte Gruppen bzw. Gemeinschaften als Teilformationen enthält. Als moralisch oder sittlich gelten auf dieser Stufe die Wertorientierungen, die eine Gesellschaft zusammenhalten. Die Gesellschaft, die auf dieser Stufe den Orientierungsrahmen bildet, wird meistens mit dem jeweiligen Staat identifiziert, obwohl gerade die Theorie des Pluralismus „Gesellschaft“ und „Staat“ stets unterschieden hat. Insofern auch die in einem Staat organisierte Gesellschaft eine Art „Wirbewusstsein“ entwickelt, welches sich in verschiedenen Symbolen äußert, ist mit dieser Organisationsform die Möglichkeit des Patriotismus verbunden. Das zeigt sich mit einer gewissen Tendenz der Staatsmystifizierung etwa bei E. Durkheim, der schon für die Grundschulerziehung fordert, man müsse die Idee einer göttlichen absoluten, allwissenden und helfenden Macht ersetzen durch die Idee einer gesellschaftlichen entsprechenden Macht, die ebenso wie die Idee Gottes ein nie umgreifbares, geheimnisumwittertes Ganzes bezeichne und so die gleiche ganzheitliche Bindungs- und Prägekraft entfalte (vgl. Durkheim 1995, 30ff.; 1973, 129ff.). Eine starke Hervorhebung der Moralität als Bindeglied der Nation findet sich auch bei R. Bellah und anderen Kommunitaristen (vgl. Bellah u.a. 1987, 287ff.), wobei es hier freilich vor allem um die Moralität des Bürgersinnes geht, der in allen Demokratien von großer Bedeutung ist, nicht also um nationale Egoismen oder gar um Überlegenheitsdenken.
Die allgemeinste Stufe ist die der Menschheit insgesamt. Die Frage nach der Moral stellt sich hier als Frage nach Werten, Normen und Tugenden, die unabhängig von Zeit und Ort eine Basis in der menschlichen Natur haben und insofern überall eine gewisse Akzeptanz finden. Ansätze für solche Interpretationen finden sich bereits im Mittelalter, so z. B. in der Unterscheidung zwischen den theologischen Tugenden, die eines besonderen religiösen Gnadenaktes bedürfen, und den Kardinaltugenden, die als natürliche Tugenden allen Menschen zugänglich sind, oder auch in der Bestimmung „natürlicher Neigungen“, die sich auf die Hierarchie der menschlichen Wesenskomponenten stützen (vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I–II, q. 94, a.2 c). In ähnliche Richtung zielen heute kulturanthropologische Vergleiche, deren Resultate von Ethikern zu oft vernachlässigt werden, wie R. Kane kritisch bemerkt. Er selbst unterscheidet zwischen allgemeinen strukturellen Gemeinsamkeiten („structural features“), grundlegenden Werterfahrungen („basic value experiences“), sozialen Werten („social values“), egoistischen Orientierungen („egoistic motives“) und Ausdrucks- und Bedeutungswerten („expression and meaning“). Religionsvergleichende Untersuchungen mit dem Ziel der Definition eines gemeinsamen „Weltethos“ präzisieren diese Dimension durch Aufweisung ethischer Perspektiven der Weltreligionen, die, wie H. Küng bemerkt, in „Maximen elementarer Menschlichkeit“ zusammenkommen. So finden sich in allen Weltreligionen die Verbote zu töten, zu lügen, zu stehlen, Unzucht zu treiben sowie das Gebot, Eltern und Kinder zu lieben (vgl. Küng 1990, 80ff.). Ein ähnlicher Ansatz findet sich bei M. Nussbaum, die zwar keinen Anspruch auf die Fundierung allgemeiner menschlicher Eigenschaften, Bedürfnisse und Fähigkeiten in einem anthropologischen Konzept erhebt, unter Rückgriff auf Aristoteles aber doch allgemeine Erfahrungsbereiche nennt, die mit der conditio humana gegeben sind (Nussbaum 1998, 120f.).
Der zweite oben genannte Argumentationsstrang betrifft die Bedeutung der normativen Betrachtungsweise. In der Darstellung der Allgemeinheitsstufen haben sich deskriptive und normative Betrachtungsweise vermischt, sodass im Prinzip auf jeder Stufe gefragt werden kann, ob die jeweils maßgeblichen Orientierungen die richtigen sind, ob es gut ist, dass man den entsprechenden Rahmen als verbindlich akzeptiert. Offensichtlich ist es so, dass bei der Bestimmung des Begriffs „Moral“ die normative Betrachtungsweise nicht eliminiert werden kann. Auch eine radikal-liberale Position, die etwa dem Grundsatz folgt, dass jeder das Recht hat, sich nach sich selbst zu richten, kann Bewertungen nicht vermeiden. Selbst in der radikalen Ablehnung jeder allgemeinen Norm durch M. Stirner steckt ein normatives Element, was sich etwa in den Worten zeigt: „Ein Mensch sein, heißt nicht, das Ideal des Menschen zu erfüllen, sondern sich, den Einzelnen darstellen“ (Stirner 1986, 176).
Der normative Status, der mit dem Begriff der Moral verbunden ist, zeigt sich in seiner Eigenart in dem in ihm enthaltenen Begründungspostulat, in dem grundsätzlich ein universalistischer Anspruch erhoben wird. Es kommt dabei gar nicht einmal so sehr auf die Art der Begründung an, sondern mehr auf die Rationalität des Begründungsanspruchs selbst. Das zeigt sich selbst an der positivistischen Begründung, die einfach in einem Hinweis auf die bestehenden Fakten und Vorschriften – etwa Gesetzesvorschriften – besteht. So unterschiedlich die Vorschriften im Einzelnen sein mögen, das Begründungsmuster ist immer dasselbe. Auf die Frage, warum man in geschlossenen Orten nicht schneller als 50 km/h fahren soll, wird im Rahmen dieser Begründung z. B. geantwortet: weil eine Rechtsverordnung dies verlangt. Dahinter steckt implizit der Anspruch, dass der rechtliche Rahmen der entscheidende Maßstab für das Verhalten des Einzelnen ist, die Basisnorm also, dass jeder diesen Rahmen akzeptieren sollte. Stellt man diese Basisnorm selbst in Frage, so wird man etwa als Antwort erhalten, dass dies die einzige Möglichkeit ist, Ordnung in die menschlichen Angelegenheiten zu bringen, d.h., man wird erneut eine Begründung erhalten, deren Anspruch sich im Prinzip an jeden richtet, der Argumente überhaupt anerkennt. Ob der Fragende damit zufrieden ist oder seinerseits ein ganz anderes Begründungsmuster ins Spiel bringt, ist damit natürlich nicht entschieden. Aber auch wenn er Letzteres tut, wird sich in anderem Rahmen der universalistische Anspruch der Begründung wiederholen.