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Freiwilligkeit, Rücksichten gegen sich selbst und gegen die Mitwelt

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Der Begriff der Moral ist mit den bisherigen Resultaten noch nicht hinreichend bestimmt. Kann man wirklich über den Begriff der Moral nicht mehr sagen, als dass er in abgestufter Allgemeinheit das festhält, was als „sittlich“ gilt und dies mit einem normativ-formalen Allgemeinheitsanspruch versieht?

Zumindest über ein weiteres Merkmal wird man sich ohne große Differenzen einigen können, sofern man nicht gerade die Verhaltenstheorie des Behaviorismus vertritt: Kaum jemand wird bestreiten, dass mit dem Anspruch auf Moralität die Unterstellung von Freiwilligkeit des Handelns verbunden ist. Ich handle nach normalsprachlichem Verständnis dann frei, wenn ich das tun kann, was ich tun will, bzw. wenn ich das nicht tun muss, was ich nicht tun will. Ein Bürger, der seine Steuern bezahlt, weil das Gesetz ihn dazu zwingt, wird kaum Anspruch auf moralisches Verhalten im Sinne der Gemeinnützigkeit erheben können, ebenso wenig wie ein Schüler, der nur deshalb darauf verzichtet, Schwächere zu tyrannisieren, weil er weiß, dass er sonst empfindlich bestraft wird. Handeln beide aber so, weil sie selbst es so wollen, ist zumindest eine Bedingung für Moralität erfüllt. Das bedeutet, dass moralisches Handeln insofern kontingent ist, als es ständig von der gleichzeitigen Möglichkeit des Gegenteils begleitet wird.

Für die Bestimmung weiterer Merkmale der Moral bietet sich die folgende Einteilung von O. Höffe an: „Moral … und Sitte stellen den für die Daseinsweise der Menschen konstitutiven (keinesfalls auf Fragen der Sexualmoral beschränkten) normativen Grundrahmen für das Verhalten vor allem zu den Mitmenschen, aber auch zur Natur und zu sich selbst dar“ (Höffe 1992, 185 f.). Er unterscheidet also zwischen Normen, die sich auf die eigene Person, Normen, die sich auf die soziale Mitwelt, und Normen, die sich auf die Natur beziehen.

Dass moralische Normen sich oft auf die soziale Mitwelt beziehen, dürfte unstrittig sein. Vielen Autoren zufolge ist sie sogar das einzige Bezugsfeld. So bestimmt z. B. J. Piaget Moral als „Gesamtheit von Beziehungen zwischen den Individuen“ (Piaget 1983, 414), und in dem instruktiven Werk von J. Kekes zur Moralität des Pluralismus heißt es kurz und bündig, moralische Werte seien „von Menschen gemachte Werte, bei denen Nutzen und Schaden in erster Linie die jeweils anderen betreffen“ (Kekes 1996, 18, übers. vom Verf.). Die Auffassung, dass es darüber hinaus auch moralische Normen gibt, die sich auf das Verhalten gegenüber der Natur beziehen, gehört nur dann zum unstrittigen Bereich der neueren Ethik, wenn man die Beziehung zur Natur so fasst, dass das Interesse des Menschen am guten Leben eingeschlossen ist. Immerhin verschließt sich aber heute kaum ein Ethiker grundsätzlich umweltethischen Fragestellungen, sodass der ethische Konsens in diesem weiten, die Anthropozentrik einschließenden Sinne auch die Anerkennung von Normen einschließt, die das „Verhalten zur Natur“ betreffen. So gesehen ist die Einbeziehung der Tiere in die „Goldene Regel“, die jedem Menschen gebietet, andere so zu behandeln, wie er selbst behandelt werden möchte, grundsätzlich kein Problem. Bereits J. Bentham formuliert z. B. ein Kriterium für den Umgang mit Tieren, welches auf der Goldenen Regel unter Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes beruht: „Die Frage ist nicht: können sie verständig denken? oder: können sie sprechen? sondern: können sie leiden?“ (zitiert nach Teutsch 1987, 76). Allerdings ist die Grenze der allgemeinen Anwendungsmöglichkeit für die Goldene Regel da erreicht, wo man ohne naturmystifizierende Voraussetzungen keine Form von Empfindung mehr unterstellen kann. Das bedeutet wiederum nicht, dass damit auch die Grenze des Wohlwollens und der Rücksichtnahme erreicht wäre. Man kann durchaus mit Pflanzen, Steinen, Landschaften schonend und in diesem Sinne wohl wollend umgehen ohne Unterstellung irgendeiner Form von Empfindung oder gar Bewusstsein. „Wohl wollen“ heißt hier einfach bewahren bzw. nicht zerstören wollen. Die ethische Begründbarkeit dieser Haltung ist eine ganz andere Frage, die hier nicht zu erörtern ist.

Einer Erläuterung bedarf die Annahme moralischer Normen, die sich auf das Verhalten des Individuums „zu sich selbst“ beziehen. Ist die Moral einmal im Sinne Piagets definiert durch den zwischenmenschlichen Bezug, so bleibt ja offenbar kein Raum für ichbezogene moralische Normen. Dagegen steht die Tradition der Ethik, die auf ganz gegensätzlichen Wegen zur Ansetzung ethischer Normen im Verhältnis des Individuums zu sich selbst gekommen ist. Für die antike Ethik, die das „gute Leben“ in grundsätzlich allen Dimensionen des Begriffs als zielführend betrachtet, ist dies ein selbstverständlicher Gedanke. Das zeigt sich insbesondere in der Ethik des Aristoteles, der seine Ethik im Kontext einer wesensorientierten Selbstverwirklichung entwickelt. Aber auch die Ethik Kants stellt bekanntlich Normen, die sich auf das handelnde Individuum selbst richten, im Begriff der Pflichten gegen sich selbst ins Zentrum, ja sie gewinnt letztlich dadurch ihren rigorosen Charakter.

In der Gegenwart befassen sich verschiedene Ethiker mit der Frage, ob die Ansetzung moralischer Normen, die das Verhältnis des Individuums zu sich selbst betreffen, sinnvoll sei. Von besonderer Relevanz für die hier erörterte Thematik ist dabei das Konzept von H. Krämer. Nach ihm versteht sich die Ethik seit Kant vorwiegend als Moralphilosophie, wobei Moral als Inbegriff der sittlichen Pflichten verstanden wird. Dabei seien bei Kant die Pflichten des Einzelnen gegen sich selbst insofern dominant gewesen, als die Pflichten gegen andere erst durch sie fundiert worden seien (Krämer 1995, 9ff.).

Krämer kritisiert an Kant vor allem zwei Punkte. Erstens sieht er den Begriff der Pflichten gegen sich selbst als widersprüchlich an. Eine Pflicht gegen sich selbst vermenge unzulässig die Begriffe „Wollen“ und „Sollen“, und zwar so, dass notwendig immer das eine zu kurz komme. Wenn ich etwas solle, mein empirisch wahrnehmbares Wollen jedoch infolge meiner Neigung in eine ganz andere Richtung weise, so sei die Quelle des Sollens eben nicht mehr in mir selbst zu suchen. Pflichten haben nach Krämer immer einen sozialen Hintergrund, sie beruhen immer auf Forderungen der Anderen gegen mich, deren Berechtigung letztlich nur „durch Majoritäten“ (ebd., 53) entschieden werden kann. Die Moralphilosophie stellt also nach Auffassung Krämers zu Recht das Prinzip der Pflicht ins Zentrum, aber eben nicht in Gestalt der Pflichten gegen sich selbst, sondern der Pflichten gegen andere. Das Sollen, das mit der Pflicht verbunden ist, wurzelt in einem fremden Wollen, sodass das moralische Gewissen ein auf christlichen oder anderen Traditionen bzw. Entwicklungsgeschichten „internalisiertes soziales Sollen“ sei, da es ein „frei flottierendes Sollen“ nicht geben könne (ebd., 44ff.). Moral ist für Krämer also grundsätzlich anders als für die kantische Tradition „extern“ ausgerichtet, sie mutet dem Individuum eine Einschränkung seines Eigenstrebens und damit einen Konflikt zu, den er als Nötigung empfindet (vgl. ebd., 47).

Der zweite Kritikpunkt betrifft den heutigen Status der Moralphilosophie überhaupt. Dadurch, dass in der Nachfolge Kants in der Ethik infolge der Dominanz des Pflichtbegriffs eine hedonismusfeindliche Grundorientierung maßgeblich geworden sei, ergebe sich für die gesamte Ethik zu Recht der Vorwurf einer „Motivationsschwäche“ (ebd., 21), denn wenn sich moralisches Wollen und Handeln immer nur gegen die eigenen Neigungen durchsetzen muss, wenn zudem das angestrebte Gute aus ethischer Perspektive immer nur das für den „jeweils Anderen Gute“ (ebd., 67) ist, stellt dies zumindest eine permanente Überforderung des Individuums dar. Man erinnert sich, dass bereits Schiller in diesem Sinne gegen Kant polemisiert hatte: „Gerne dien’ ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung. / Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin. / Da hilft kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, / Und mit Unmut dann tun, was die Pflicht dir gebeut.“

Krämers eigener Entwurf einer integrativen Ethik nimmt nun beide Komponenten auf: Die auf das eigene Selbst bezogenen Normen müssen grundsätzlich einem ursprünglichen Wollen bzw. Streben nach Glück bzw. Selbstentfaltung entsprechen und stellen sich somit als „Strebensethik“ dar. Die Strebensethik versucht, „anratend über Handlungsziele aufzuklären und das entsprechende richtig regulierte Verhalten in Gang zu setzen“ (ebd., 77), und geht dabei vom „anthropologischen Radikal“ der „Selbstbestimmungskompetenz“ (ebd., 93) aus. Daneben steht die Ethik als Moralphilosophie, die sich auf das Verhalten gegenüber den Mitmenschen bezieht und sich als Pflichtenlehre und -reflexion darstellt. Dominant ist in diesem Verhältnis die Strebensethik, die durch die moralphilosophisch begründeten Pflichten lediglich beschränkt bzw. „gehemmt“ wird. Die Strebensethik hilft also nach Krämer dem Menschen bei der Klärung dessen, was er selbst will, die Moralphilosophie klärt ihn darüber auf, was er anderen gegenüber tun soll.

Die hier entwickelte Konzeption greift auf einige der Ideen Krämers zurück, während andere eher kritisch gesehen werden. Kritisch gesehen wird die Ablehnung des Begriffs von Pflichten des Einzelnen gegen sich selbst, die im Übrigen von den meisten Ethikern auch nicht geteilt wird. J. Wilson unterscheidet z.B. soziale Bedürfnisse von Tugenden, die auf das eigene Selbst bezogen sind (Wilson 1990, 79f.), V. Hösle nimmt im Prinzip die gleiche Einteilung wie O. Höffe vor, wenn er „auf der Ebene der Wertrationalität Pflichten gegenüber der Natur, gegenüber sich und anderen Vernunftwesen“ (Hösle 1992, 36 f.) unterscheidet. Auch die erfahrungsbezogene Betrachtung des Phänomens selbst zeigt, dass es durchaus sinnvoll ist, von Pflichten gegen sich selbst zu sprechen. Vorsätze wären sinnlos, wenn sie nicht von einer Selbstverpflichtung getragen würden, und nur eine willkürliche reduktionistische Betrachtungsweise kann diese Selbstverpflichtung an zuvor extern auferlegte Pflichten binden. Es ist somit sinnvoll, von Bestrebungen, aber auch von Pflichten des Einzelnen sich selbst gegenüber zu sprechen.

Auf der anderen Seite ist es auch nicht angemessen, das moralische Verhalten des Einzelnen gegenüber den Mitmenschen nur dem Begriff der Pflicht zuzuordnen, so als sei die eigene Anerkennung der Bestrebungen des Anderen prinzipiell „abgenötigt“ (Krämer 1995, 47). Warum soll man hier nicht der eigenen Erfahrung vertrauen, die die Verse Schillers bestätigt: „Gerne dien’ ich den Freunden“? Krämer ist ja zuzustimmen, wenn er bemerkt, die Orientierung an der hedonismusfeindlichen Moralphilosophie Kants belaste die Ethik in praktischer Hinsicht mit einer „Motivationsschwäche“ (ebd., 21), da das Individuum sich ständig Zumutungen ausgesetzt sehe, die sich gegen seine eigenen Neigungen richten. Gerade in pädagogischer Hinsicht bereitet eine Ethik, die ihre normative Wirkung nur gegen alles durchsetzen kann, was den eigenen Wünschen entspricht, kaum überwindbare Schwierigkeiten. Aber warum soll man sich dann beim Versuch einer anderen Interpretation der ethischen Realität auf die eine Seite beschränken, während man der anderen Seite, die anders als bei Kant nun auch noch vom Wollen befreit wird, erst recht ein Motivationsproblem zuschiebt? Wenn eine „reine Sollensethik“, wie N. Hartmann sagt, eine „sittliche Verblendung“ ist (Hartmann 1949, 9) und das elementare Wertgefühl ein „Billigen, Bejahen, Vorziehen eines durchaus Inhaltlichen“ (ebd., 118) ist, dann gilt dies auch für die moralischen Normen, die sich auf das Verhalten zur Mitwelt beziehen.

Es ergibt sich daher folgendes Bild: Der Begriff der Moral umfasst, so wie Höffe und andere es darstellen, Werte und Normen, die sich auf das Verhältnis des Individuums zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zur Natur beziehen. Mitmensch und Natur können bei aller moralrelevanten Unterschiedlichkeit im Begriff der „Mitwelt“ zusammengefasst werden. Interpretiert man diese Normen und Werte auf die handelnden Subjekte hin, so können sie Pflichtcharakter annehmen, aber auch den eigenen Neigungen bzw. Bestrebungen entsprechen, ohne dass dies im Einzelfall unterschieden werden müsste. Dabei wird nicht unterschieden zwischen den Normen, die sich auf das Selbstverhältnis des Individuums richten, und den Normen, die sich auf das Verhältnis zur Mitwelt richten, sodass sie auf beiden Seiten Pflichten- und Strebenscharakter annehmen können. So wie es Pflichten und Bestrebungen in Bezug auf die Mitwelt gibt, gibt es beides auch in Bezug auf das eigene Selbst. Es besteht somit auch kein Grund, den Gegenstand der Moralphilosophie nur für die Pflichten gegen andere zu reservieren, da Moral beides umfasst: das Verhalten gegen sich selbst und das Verhalten gegen andere. Fassen wir die Begriffe „Bestrebung“ und „Pflicht“ zusammen im Begriff „Rücksicht“, so ergibt sich für die Struktur der Ethik bzw. Moralphilosophie ein ellipsenartiges Schema mit den beiden Bereichen „Rücksichten gegen sich selbst“ und „Rücksichten gegen die Mitwelt (Mitmensch/Natur)“, wobei jeder der beiden Bereiche sowohl Bestrebungen als auch Pflichten erhält.

Entsprechend dem Bild der Ellipse stehen die beiden Seiten nicht beziehungslos nebeneinander; vielmehr besteht zwischen ihnen eine ständige Wechselbeziehung, sodass ein Verhältnis zu sich selbst nicht ohne ein Verhältnis zur Mitwelt zu gewinnen ist und die Beziehungen zur Mitwelt immer vom jeweiligen Selbstbild mitgeformt werden. Die beiden Seiten halten sich, solange sie eine Ellipse bilden, im Gleichgewicht, und aus ethischer Perspektive sollen sie auch ein Gleichgewicht bilden.

Moral und Erziehung in der pluralistischen Gesellschaft

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