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Tyrannei der Werte?

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Dass Gerechtigkeit und die anderen Werte, deren Begriff einstweilen unbestimmt bleibt, die sozialen Beziehungen regeln sollen, besagt natürlich noch nichts darüber, ob sie es auch wirklich tun. Wie bei allen „Grundwerten“ kann man auch hier zunächst fragen, ob es nicht müßig sei, der Gerechtigkeit den Stellenwert eines ethischen Grundwertes zu verleihen, da die reichhaltige Geschichte des Begriffs der Gerechtigkeit nichts daran ändere, dass es noch nie eine gerechte Gesellschaft gegeben habe und wohl auch nie geben werde. Dazu ist zu sagen, dass das Argument umkehrbar ist und im Übrigen die Realität nur undifferenziert wiedergibt. Umkehrbar ist es deswegen, weil die Defizienz der Wirklichkeit niemals ein zureichender Grund für die Ablehnung eines Wertes sein kann. Wenn man sagt, es sei sinnlos, Gerechtigkeit zu fordern, weil es doch niemals eine gerechte Gesellschaft geben werde, so ist das Umgekehrte ebenso gültig: Eben weil es niemals eine gerechte Gesellschaft geben wird, ist es wichtig, dass sich jede Gesellschaft am Wert der Gerechtigkeit orientiert, ebenso wie es wichtig ist, dass sich jede Gesellschaft am Wert des Lebens orientiert, eben weil es noch niemals eine Gesellschaft gegeben hat, in der nicht gemordet und getötet wurde. Undifferenziert ist das Argument deshalb, weil es vom Zustand einer absoluten Gerechtigkeit ausgeht, die es in der Tat noch nie gegeben hat, ebenso wenig wie es bisher jemals eine absolut ungerechte Gesellschaft gegeben hat.

Trotzdem stellt sich die Frage, ob Wertorientierungen nicht grundsätzlich zu solchen Verabsolutierungen tendieren. Dass es eine „Tyrannei der Werte“ gibt, hat bereits N. Hartmann, selbst ein Vertreter einer nicht-relativistischen Werttheorie, gesehen (Hartmann 1949, 576). Die Tendenz dazu sieht Hartmann freilich nicht in der idealen Wertsphäre begründet, sondern im menschlichen Wertgefühl, welches leicht zur Einseitigkeit und Unduldsamkeit führe. Eben diese mögliche Tyrannei hat immer wieder zu Warnungen vor wertorientierten Gesellschafts- und Erziehungskonzepten geführt. So verwirft B. Rüthers zwar nicht den Begriff der Gerechtigkeit, warnt aber vor der Gefahr einer verabsolutierenden Deutung der Gerechtigkeit, da jeder Anspruch auf die Realisierung der einzig ‘wahren’ Gerechtigkeit die Gefahr von Dogmatismus und Totalitarismus mit sich bringe: „Der Totalitätsanspruch eines einzigen uniformen Gerechtigkeitsdogmas (‘die wahre Gerechtigkeit’) birgt – politisch umgesetzt – das Risiko von Diktatur und Terror“ (Rüthers 1993, 17).

Ähnlich wie B. Rüthers weist auch H.-M. Pawlowski auf diese Gefahr hin und fragt nach dem Grund für die Aggressivität der Werte, den er darin sieht, dass „jeder höhere Wert oder Höchstwert … darauf angelegt (sei), sich auf Kosten der niederen Werte durchzusetzen“ (Pawlowski 1994, 3). Diese Argumentationslinie verläuft etwas anders als diejenige von B. Rüthers, der mehr auf die Gefahr einer verabsolutierenden Interpretation von Wertbegriffen hinweist, führt aber zu ganz ähnlichen Konsequenzen: Der jeweils verabsolutierte Wert führe zur Verdrängung der anderen; er konkretisiere sich zudem in „verdinglichten“ „Bilder(n) des gewünschten Verhaltens“, wofür als Beispiel das goldene Kalb und die „toten“ Bilder Baals, Molochs oder Astaroths dienen. Die Frage, ob der Mensch Werte braucht, verneint Pawlowski, zumindest soweit es sich um verbindliche ethische Werte handelt. Folgen wir ein Stück weit dem Argumentationsgang Pawlowskis, so fällt indessen ein pragmatischer Widerspruch ins Auge. Er lehnt einerseits Werte ab als verpflichtende „Gegebenheiten, in denen der Grund dafür liegt, dass man sich für diese oder jene Sache einsetzt“ (ebd.). Wenn Werte für ihn überhaupt eine positive Bedeutung haben, dann lediglich als „Gegenstand eines unmittelbaren, einheitlichen (Wert-)Erlebens oder Wertfühlens“, als Gegenstand also, bei dem es keinen Irrtum und keine Wahrheit gebe, eben nur als Gegenstand „unseres Erlebens“ (ebd., 7). Eine Orientierung an Werten hilft ihm zufolge nicht und ist auch für den Christen überflüssig. Was der Christ für den Umgang mit Nicht-Christen benötige, sei indessen eine Antwort auf die Frage, „was dazu beitragen könne, daß wir weiterhin in gemeinsamer Freiheit in einer Gemeinschaft leben … können“ (ebd., 6). Das sei die politische Tätigkeit überhaupt, zu der den Christen schon die Nächstenliebe verpflichte, und es sei die Sorge um das Gemeinwohl; gemeinsame Überzeugungen seien weiterhin notwendig beim Asylrecht, beim Schutz des ungeborenen Lebens – und das alles ohne ins „Reden von Werten und Grundwerten“ zu verfallen (vgl. ebd., 10). Die Normen, die der Staat für das Zusammenleben mit Andersgläubigen zu befolgen habe, müssten geprägt sein von bestimmten „Prinzipien“, so etwa vom Verbot, jemanden entgegen seinem Glauben zu etwas zu zwingen, von der Anwendung eines „gleichen Maßstabs“ für alle religiösen Besonderheiten sowie von Kompromissfähigkeit (ebd., 10f.). Wer gegen diese Prinzipien verstoße, indem er z.B. jüdische Friedhöfe schände, der tue dies nicht aus Unkenntnis der Werte heraus, sondern weil es ihm „persönlich nicht zu lohnen scheint, sich an Normen zu halten“ (ebd., 13).

Der pragmatische Widerspruch besteht in der offensichtlichen Tatsache, dass hier mit Wertorientierung gegen Wertorientierung argumentiert wird. Werte werden verbal nicht direkt negiert, aber der individuell bzw. weltanschaulich-religiös geprägten Gefühlsebene zugeordnet. Welchen Status aber sollen dann Freiheit und Gemeinschaftlichkeit haben? Jeder soll ja Pawlowski zufolge nach den Elementen suchen, die zum Leben „in gemeinsamer Freiheit in einer Gemeinschaft“ beitragen können. Nach welchen Kriterien soll entschieden werden, welche Elemente zu einem solchen Leben beitragen können? Die gefühlsmäßig limitierten oder gar individualisierten Werte können es ja wohl nicht sein, da sie subjektiv sind. Wäre es nicht sinnvoll, die mit „Freiheit“ und „Gemeinschaft“ bezeichneten Gehalte als ideale und kognitiv darstellbare Orientierungsmuster zu verstehen, die auch die Beziehungen zwischen Anhängern verschiedener Weltanschauungen und Religionen regeln? Und warum soll man für solche Orientierungsmuster, die Pawlowski selbst einfordert, nicht den semantisch ausgewiesenen Begriff „Wert“ benutzen? Dies gilt auch für die weiteren Ausführungen Pawlowskis: die Sorge um das Gemeinwohl, die gemeinsamen Überzeugungen in Bezug auf das Asylrecht und den Schutz des ungeborenen Lebens. Das sind Formulierungen, die selbst schon so „werthaltig“ sind, dass die im gleichen Zusammenhang in Anspruch genommene Abstinenz von jedem Wertbezug wirklichkeitsfremd wirkt. Noch deutlicher gilt dies schließlich für die dem Staat zugewiesene Rolle. Entweder wird staatlichen Institutionen positivistisch und damit auch willkürlich das Befolgen bestimmter Prinzipien verordnet, oder es stehen Wertorientierungen im Hintergrund, die sich in diesem Falle eindeutig auf Toleranz und Gleichheit beziehen. Das gilt für den Staat ebenso wie für das Individuum. Letzteres zeigt gerade das von Pawlowski selbst benutzte Beispiel. Die Motive für Friedhofschändungen sind im Einzelnen sicher unterschiedlich und im Ergebnis immer schändlich. Das Motiv, welches Pawlowski angibt, dürfte indessen eher eine mindere Rolle spielen: die Kalkulation, es lohne sich nicht, sich an Prinzipien zu halten. Folgt man dieser Logik, so müsste ja umgekehrt nicht etwa die Achtung vor den Verstorbenen und vor anderen Religionen für die Befolgung der Normen maßgeblich sein, sondern die Kalkulation, es „lohne sich“, sie einzuhalten. Viel wahrscheinlicher ist es, dass bei Friedhofschändungen solche Kalkulationen kaum eine Rolle spielen, sondern dass entweder eine Irreführung durch ideologische, von Vorurteilen genährte, unreflektierte Gefühlsmuster vorliegt, oder dass bloße Gedankenleere, also eben doch so etwas wie eine Unkenntnis der Werte in Form eines vernachlässigten Wertbewusstseins zu einem solchen Verhalten führt.

So wird der Aufsatz Pawlowskis contra intentionem nicht nur zu einem Plädoyer für Wertorientierung überhaupt, sondern auch für eine Orientierung am Wert der Gerechtigkeit. Denn wenn man fragt, welche Wertvorstellung hinter der Forderung nach Toleranz im Umgang der Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften miteinander und hinter der Forderung nach einem gleichen Maßstab steht, so bietet sich zunächst die Gerechtigkeit als Orientierungsmuster an.

Moral und Erziehung in der pluralistischen Gesellschaft

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