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Bewertungsprobleme

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Natürlich kann man gegen diese Wertorientierung einwenden, dass aus ihr gerade die Probleme entstehen, die mit den Schlagworten „Werteverfall“, „Relativismus“, „Orientierungslosigkeit“ verbunden sind. Man kann ferner dagegen einwenden, dass die typische Selbstanmaßung des Menschen unserer Zivilisation genau aus dieser Fokussierung auf sein Können hervorgeht, der philosophisch wiederum die Priorität der Existenz vor dem Wesen entspricht. Wenn es unter ethischem und/oder metaphysischem Aspekt kein Wesen des Menschen gibt, welches den konkreten Entfaltungen seiner Existenz von vornherein Grenzen setzt, so kann sich die Offenheit des Könnens leicht in ein Katastrophenszenarium verwandeln, denn die schlimmen Möglichkeiten des Menschen sind heute so beschaffen, dass ihre Verwirklichung den guten Möglichkeiten jede Realisierungschance nähme. Zumindest scheint die Deutung der Selbstentfaltung als eines moralischen Wertes das zu fördern, was in der modernen Ego-Gesellschaft ohnehin jeder tut: sich um sich selbst zu kümmern und sich rücksichtslos zu entfalten.

Dies alles ist zuzugeben, ändert aber nichts daran, dass die Selbstentfaltung des Individuums zu den für eine pluralistische Gesellschaft typischen Werten gehört.

Zweifellos haben Selbstentfaltungswerte eine anthropologische Basis und insofern in jeder Gesellschaftsform einen Stellenwert. Dass sie darüber hinaus aber in besonderer Weise mit der Struktur der pluralistischen Gesellschaft verbunden sind, ergibt sich aus den beschriebenen Merkmalen des Pluralismus und seiner Beziehung zum Liberalismus. Dieses Verhältnis wurde oben so bestimmt, dass ein ontischer Pluralismus, d.h. eine real bestehende Vielheit von Lebenseinstellungen, Wertorientierungen usw. Grundlage des Liberalismus ist. Der Liberalismus als normative Theorie vertritt argumentativ das Recht auf diesen ontischen Pluralismus, d.h., er versucht die grundsätzliche Legitimität des Pluralismus argumentativ abzusichern. Da das Recht auf Selbstentfaltung eo ipso ein Recht der „positiven Freiheit“ ist, fällt darunter auch das Recht auf Mitwirkung in Gemeinschaften, sodass der ethische und soziologische Pluralismus die Weiterführung des Liberalismus ist und diesen voraussetzt. So gesehen bilden also Selbstentfaltungswerte eine normative Basis für den Pluralismus als Theorie.

Man kann sogar vermuten, dass der Begriff des freien Willens und der Begriff der Selbstentfaltung eine so enge Symbiose bilden, dass beide Inhalte sich langfristig nur gemeinsam verwirklichen konnten, sodass die Aufhebung des einen auch die Aufhebung des anderen bedeuten würde.

Sucht man also nach Normen und Werten, die die pluralistische Gesellschaft selbst hervorgebracht hat und die sich aus ihrem Wesen ergeben, so findet man zunächst Werte der Selbstentfaltung, die in jeweils polaren Beziehungen freilich auf jeweils unterschiedliche Schranken stoßen: auf die Schranken, die uns die nicht-metaphysisch verstandene Natur vorgibt; auf die Schranken, die uns das metaphysisch verstandene Naturrecht sowie moralische Normen setzen, und auf die Schranken, die unsere jeweils individuellen Lebensverhältnisse, unsere Faktizität bzw. unsere „Geworfenheit“ uns setzen. Hinzu kommen natürlich die Schranken, die die positiven Rechtsverhältnisse der Gesellschaft setzen. Diese bilden allerdings im Unterschied zu den zuvor beschriebenen Schranken keinen Pol im Rahmen der Selbstentfaltung, sondern begrenzen sie von außen, damit sie nicht unter Missachtung aller anderen Schranken chaotische und zügellose Formen annehme.

Was das hier entwickelte Konzept angeht, so ist daran zu erinnern, dass die Rücksichten gegen sich selbst aus ethischer Perspektive mit den Rücksichten gegen die Mitwelt im Gleichgewicht stehen. Nur wenn das Gleichgewicht auf Kosten der Rücksichten gegen die Mitwelt grundsätzlich aufgehoben wird, werden die oben erwähnten Möglichkeiten zur Realität. Wer bis zur Selbstaufgabe nur die Interessen anderer bedient, verletzt das Gleichgewicht, ebenso und erst recht natürlich derjenige, der nur die eigenen Interessen verfolgt. Dass Letzteres in unserer Gesellschaft häufiger vorkommt, ja zu einer beherrschenden Tendenz wird, ist freilich nicht zu bestreiten. Es zeigt sich allein schon daran, dass Kinder zur Ausnahme werden und Familien entgegen öffentlichen Beteuerungen mehr und mehr vernachlässigt werden. In einem auch moralisch sehr wichtigen Wirklichkeitsbereich drohen in der Tat einseitig interpretierte Selbstverwirklichungsprozesse die anderen Dimensionen zu verdrängen. Die moralischen Folgen spüren wir bereits jetzt, die sozialen Folgen werden uns bald zu schaffen machen.

Moral und Erziehung in der pluralistischen Gesellschaft

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