Читать книгу Moral und Erziehung in der pluralistischen Gesellschaft - Hans-Joachim Werner - Страница 18
Geschichte, Strebensethik
ОглавлениеSelbstentfaltungswerte sind keineswegs nur typische Werte der modernen Ego-Gesellschaft. Sie finden sich im Ansatz bereits bei den Griechen, wie man allein schon an dem delphisch-sokratischen Grundsatz sieht: „Erkenne dich selbst.“ Die gesamte Tugendlehre Platons ist nicht nur auf die Lehre von den Ideen bezogen, sondern auch vom Grundsatz der Selbsterkenntnis her zu interpretieren. Noch weiter in dieser Richtung geht Aristoteles, wenn er das höchste dem Menschen zugängliche Gut bestimmt als „Tätigsein der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit“, d.h. als Betätigung und Entfaltung der höchsten Möglichkeiten des Individuums (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1098).
Es handelt sich hier um eine Wertorientierung, die sich in der europäischen Tradition mit wechselnden Akzenten durchgehalten und in der Neuzeit ständig verstärkt hat. Wie nachhaltig diese Ideen das abendländische Denken beeinflusst haben, zeigt sich daran, dass die Verbindung von Selbstbestimmung und Freiheit bereits im frühen Christentum Anlass zu kritischen Rückfragen gibt: Woher, so fragt schon Augustinus, kommt das Böse, wenn Gott und seine Schöpfung gut sind? Die Antwort lautet für ihn: Das moralisch Böse ist untrennbar verbunden mit dem freien Willen des Menschen, der sich für oder gegen das Gute entscheiden kann. Auf die weitere Frage, ob es dann nicht besser gewesen wäre, wenn Gott auf die Schaffung eines Geschöpfes verzichtet hätte, welches sich für das Böse entscheiden kann und es auch immer wieder tut, antwortet Augustinus: „Wäre … die Bewegung, womit der Wille sich hierhin oder dahin wendet, nicht freiwillig und in unsere Macht gegeben, dürfte man den Menschen weder loben, wenn er zum Höheren, noch ihn schelten, wenn er zum Niederen die Angel des Willens dreht; ja man dürfte ihn nicht einmal ermahnen, diesem den Abschied zu geben, um das Ewige zu erlangen und nicht böse, sondern gut leben zu wollen“ (Augustinus 1962, 225).
Hier wird also die Fähigkeit, aus einem freien Willen heraus gut zu leben, so hoch bewertet, dass sie selbst als Bestandteil einer polaren Struktur, die eben auch die ständig präsente Möglichkeit des Bösen vorsieht, ihr Recht erhält. Freiheit ist hier die Fähigkeit, sich frei für ein bestimmtes Leben zu entscheiden, und so untrennbar mit der menschlichen Selbstentfaltung gekoppelt.
Schon die Betrachtung dieser Ursprünge des Gedankens einer freien Selbstbestimmung zeigt, wie unsinnig es ist, wenn Pluralismustheoretiker wie J. Blau, B. Blanke, U. Jürgens, H. Kastendiek einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen dem modernen Autonomiegedanken und dem klassischen Naturrecht konstruieren (vgl. Detjen 1988, 31ff.). Dass Selbstentfaltung und die in ihr implizierte Autonomie als Möglichkeiten eines endlichen Wesens grundsätzlich niemals grenzenlos sind, versteht sich von selbst. Diese Grenzen werden bereits durch die Natur und ihre Gesetze vorgegeben, sie werden aber auch im ethisch-moralischen Bereich gesetzt, wenn auch auf andere Art als durch Naturgesetze. Die moralischen Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind, beruhen auf dem Unterschied zwischen Sein und Sollen bzw. auf dem Unterschied zwischen Können und Dürfen. Dass menschliche Autonomie im Sinne möglicher Selbstbestimmung zwar nicht grenzenlos ist, aber wesentlich weiter reicht als die ihr gesetzten moralischen Schranken, zeigt sich gerade an der Feststellung des Augustinus, es sei besser, dass es ein Wesen gebe, welches sich zum Guten und Bösen bestimmen könne, als wenn man das Gute immer ohne freien Willen tue – allein schon deshalb, weil vom moralisch Guten in einem solchen Falle gar nicht mehr die Rede sein könne. Das weist bereits auf den Unterschied von Sein und Sollen hin: Die Seinsverfassung des Menschen schließt eine nicht grenzenlose, aber weit gefasste Autonomie ein; der Gebrauch dieser Autonomie indessen ist durch moralische Gesetze eingeschränkt, die er zwar brechen kann, aber nicht brechen soll. Die hier begründete Autonomie ist primär eine Autonomie des Könnens, nicht des Sollens.
Mit dem Begriff des Naturrechts wird diese Differenz von Sein und Sollen nicht beseitigt, aber doch überbrückt. Max Weber definiert das Naturrecht als „Inbegriff der unabhängig von allem positiven Recht und ihm gegenüber präeminent geltenden Normen, welche ihre Dignität nicht von willkürlicher Satzung zu Lehen tragen, sondern umgekehrt deren Verpflichtungskraft erst legitimieren“ (M. Weber 1972, 497). Diese Verpflichtungskraft gründet der klassischen Metaphysik zufolge in der nicht nur „natürlich“, sondern auch metaphysisch verstandenen menschlichen Natur, die jedes Individuum prägt und so seine Entfaltungsmöglichkeiten mitbestimmt, indem sie nicht nur „natürliche“ Möglichkeiten und Grenzen bereitstellt, sondern auch Urteile über das begründet, was eine gute, d. h. angemessene und nicht-gute, d. h. unangemessene Entfaltung darstellt. Ein so verstandenes Naturrecht bildet keinen Widerspruch zur Autonomie, sondern umgekehrt ihre Grundlage, damit allerdings auch ihre Grenze. In diesem Rahmen finden wir das Prinzip einer freien, autonomen Selbstbestimmung bereits in der klassischen Metaphysik. So bestimmt Thomas von Aquin die Freiheit durch die Formel: „Frei ist das, was Ursache seiner selbst (causa sui) ist. Was nämlich für sich selbst nicht Ursache des Handelns ist, ist nicht frei im Handeln“ (Thomas von Aquin, Summa contra gentiles II, 48). Dass Thomas damit keine absolute, schrankenlose Autonomie meint, sondern eine Autonomie des Handelns, die eine Wesensnatur und damit auch deren Schranken voraussetzt, wird durch den folgenden Satz klar: „Der Wille bewegt dadurch, daß er das Ziel will, sich selbst zum Wollen dessen, was auf das Ziel ausgerichtet ist“ (Thomas von Aquin, Summa Theologiae I/II, q. 9, a.3 c.). Er setzt also eine innere Zielrichtung voraus, die durch das metaphysisch verstandene Wesen vorgegeben ist: „Nach Thomas setzt die eigenschaftliche Selbstursächlichkeit des Willens einmal die substantiale Selbständigkeit des Seins voraus, als deren Ausdruck sie erscheint“ (Lakebrink 1968, 438).
Weitergeführt und mit einem neuen Akzent versehen wird der Gedanke der Selbstbestimmung in der Philosophie des Idealismus, wobei die Differenzen innerhalb dieser Epoche beträchtlich sind, hier aber nicht weiter berücksichtigt werden können. Eine Art Leitmotiv bildet der Begriff der Autonomie, der über alle unterschiedlichen Interpretationen und Konkretionen hinweg philosophisch auf den Begriff des sich selbst bestimmenden vernünftigen Subjekts verweist. Eine philosophische Grundlegung erfährt dieser Begriff bekanntlich in den moralphilosophischen Schriften Kants und in seiner Bestimmung der Unmündigkeit, die auch den Begriff der Mündigkeit festlegt: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Kant, Aufklärung 1983, 53). Das hat auch für Kant bereits politische und geschichtliche Konsequenzen, wie sich in seinen geschichtsphilosophischen Traktaten zeigt. Der damit verbundene Gedanke einer vernünftigen, jedoch nicht nur geistigen, sondern auch politischen und sozialen Selbstbestimmung wird auch von den modernen Vertretern der kommunikativen Ethik in den Vordergrund gestellt. Der Begriff einer „idealen Kommunikationsgemeinschaft“ z. B., der auf Habermas und Apel zurückgeht, dient als Orientierungslinie einer „langfristigen Emanzipationsstrategie der Verwirklichung des Humanum, der Selbstverwirklichungsmöglichkeit freier und autonomer Menschen in der weltbürgerlichen Gesellschaft“ (P. Müller 1992, 250; vgl. J. Habermas 1971, 136ff.).
Neben diesen Richtungen, die wie Kant Autonomie und Selbstentfaltung an die Struktur einer gesetzgebenden Vernunft binden, finden sich jedoch auch andere Orientierungen, die eben diese Prozesse in Richtung einer sich immer deutlicher artikulierenden Individualität deuten. Die Grenzen, die hier der Selbstentfaltung gezogen sind, sind eher durch die jeweils individuelle Faktizität gesetzt als durch normative Grenzen einer zugrunde liegenden metaphysischen Natur oder einer autonomen Vernunft. Schon das Freiheitspathos, welchem man zuweilen in Texten der Existenzphilosophie begegnet, hat seinen Ursprung in dieser geistigen Struktur, durch die der Mensch sich immer wieder aus den Verhältnissen, in denen er lebt und meist dahinlebt, befreien und neu entwerfen kann. Genau dies ist der Sinn der existenzphilosophischen Umkehr der Priorität von Wesen und Existenz. Der Mensch ist demnach „an sich“ bloße Existenz, nicht durch irgendeine metaphysische Wesensstruktur oder durch apriorische Gesetze der Vernunft festgelegt, sondern offen für eben die Entwürfe, durch die er sich eine Form und somit ein Wesen gibt. Der modische Begriff der Selbstverwirklichung mag aus der Perspektive dieser Philosophie ein Missverständnis sein: Deutet man ihn in einem nicht-trivialen Sinne als den Prozess, in welchem das Individuum sich ernstlich auf sein eigenes Können besinnt und handelnd bezieht, so wird man kaum bestreiten können, dass es sich hier um die existenzielle Konsequenz einer existenzialen Daseinsdeutung handelt. H. Fahrenbach beschreibt dieses Verhältnis in Bezug auf Heidegger so: „Der existenziale Entwurf eigentlichen existenziellen Seinkönnens kann … die faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens nicht vorgeben oder vorweg bestimmen, sondern nur den Horizont umreißen, innerhalb dessen ein existierendes Dasein sich seine Möglichkeiten als eigentliche bestimmen und wählen kann“ (Fahrenbach 1970, 119). Auch hier ist die freie Selbstentfaltung nicht ein beliebiges Wählen oder gar Konstruieren potenziell unendlich vieler Möglichkeiten, sondern gebunden an die jeweils unterschiedlichen Lebensverhältnisse, in denen sich der Einzelne findet und die er irgendwie zu „übernehmen“ hat. Auf dieser Basis entwirft sich das Selbst auf seine Möglichkeiten hin, wobei die Frage, ob es über diese faktischen Beschränkungen der Autonomie auch noch moralische gibt, in der Existenzphilosophie nicht einheitlich beantwortet wird. Jedenfalls wird die Wertorientierung in den entsprechenden Entwürfen viel enger an das individuelle Selbstsein gebunden, was seinen Niederschlag auch in der Pädagogik gefunden hat. So schreibt z.B. A. Schavan über die Bildung des Gewissens: „Gewissenserziehung bedeutet: erzieherischen Beistand leisten bei der Entfaltung des dem Menschen wesensmäßig zukommenden Wertempfindens und seiner Möglichkeit zu individueller Wertbindung.“ Wertempfinden und individuelle Wertbindung bezeichnet sie in Anlehnung an Heidegger als „Existenzial des Menschen“ (Schavan 1980, 323).
Als eine transformierende Aufnahme solcher Gedanken versteht sich die bereits beschriebene „Strebensethik“, in deren Rahmen lobend hervorgehoben wird, die Existenzphilosophie habe einen „entteleogisierten und prinzipiell unbegrenzten Freiheitsbegriff formuliert und auch andere Grundbegriffe der Tradition in eine Dimension der Formalisierung zurückgenommen, der modalontologisch der Vorrang der Möglichkeit vor der Wirklichkeit korrespondiert“ (Krämer 1995, 193). Drückt man dies entsprechend dem Selbstverständnis der Strebensethik, die sich ja auch als eine praktische Beratungsdisziplin versteht, etwas weniger abstrakt aus, so ergibt sich im Rahmen dieser Wertorientierung ein Schema mit den Formen „Selbstwahl“, „Selbsterhaltung“, „Selbstverwirklichung“ und „Selbststeigerung“ (ebd., 240), wobei entsprechend dem existenzphilosophischen Vorrang der Möglichkeit vor der Wirklichkeit ein starker Akzent auf dem „Können“ liegt. Die Strebensethik soll als Beratungsdisziplin den Einzelnen auf das aufmerksam machen, ja ihn konkret für das disponieren, was er prinzipiell kann. Die „Könnenskategorie“ beschreibt so die „Kernzone der Strebensethik“ und das „Selbst“ ist das „volle Können aller Vollzüge insgesamt“ (ebd., 164 f.). Selbsterhaltung, Selbstverwirklichung, Selbststeigerung auf der Basis einer ursprünglichen Selbstwahl sind demnach Normen als selbstgesetzte „Erwartungsmuster“, die die Freiheit als Wert voraussetzen. Sie können im Sinne einer Beratung von außen an das Individuum herangetragen werden, aber nur unter der Voraussetzung, dass sie auf ein entsprechendes inneres Muster stoßen, welches sie als Impulse aufnimmt. Der eigentliche Wert liegt dabei weniger in den tatsächlich erfolgenden Realisierungen, im Vollzug einer Tätigkeit oder in dem Produkt, welches dabei entsteht, sondern in der Freiheit, sich eben dazu zu bestimmen, also im „Gesamtvolumen der Könnensweisen“ (ebd., 166).
Konkret bedeutet dies die Aufgabe, spezielle Themen- und Regelfelder zu bearbeiten, die bislang vernachlässigt oder an andere Disziplinen abgetreten wurden. Darunter fällt z.B. das Thema „Gesundheit“ (ebd., 282ff.). Das kann nicht bedeuten, dass Ethiker nun die Aufgabe von Ernährungsberatern oder gar Ärzten zu übernehmen hätten, wohl aber, dass sie solche Problemfelder auf „Lebenspläne“ beziehen, also z.B. den Stellenwert der Gesundheit für das eigene Leben betrachten. Als weiteres Themenfeld wird der Umgang mit der Güterwelt genannt (ebd., 289ff.), welches ja in der Tat einen wichtigen Könnensbereich betrifft und eine große erzieherische Bedeutung besitzt. Krämer weist darauf hin, dass besonders das Gebiet der individuellen Güterpraxis derzeit weitgehend unbetreut sei (vgl. ebd., 289), und macht darauf aufmerksam, dass in der Wertethik und vorher bereits im Utilitarismus Kriterien wie Extensität, Intensität, Dauer, Sicherheit, Höhe, Stärke, Konsequenzen usw. erarbeitet worden seien, die zwar kein Gesamtkalkül ermöglichten, aber doch in den ethischen Umgang mit diesen Themen eingebracht werden sollten (vgl. ebd., 290).
Wichtig sind sodann die strebensethischen, also auf das eigene Selbst bezogenen Aspekte des Umgangs mit anderen sowie die Dimension des Lebenssinnes, dessen ethische Erörterung durch eine Topik von Spezialregeln voranzutreiben sei (vgl. ebd., 297 f.). Der Umgang mit der Zeitdimension des Lebens (vgl. ebd., 300 ff.), also z. B. die Schärfung des Bewusstseins der Unwiederbringlichkeit des Lebens, der Akzeleration des individuellen Lebensganges bis hin zur Fähigkeit, Ziele zeitlich zu ordnen und aufeinander abzustimmen, beschließt die Beispielreihe.
All diese Themen, die die Ethik in enger Kooperation mit anderen Disziplinen wie Psychologie, Pädagogik und Theologie zu bearbeiten hat, stehen unter dem Diktat einer „Meta- und Superregel“, die die Grenzen der Selbstwerdung beschreibt und im Übrigen zu den allgemeinen Normen führt: Werde der du bist! Sei Person! Bevorzuge richtig! Tue möglichst viel um seiner selbst willen! Informiere dich und lasse dich informieren! (Vgl. ebd., 282.) Kant hätte diese Inhalte im Prinzip gelten lassen, nur eben nicht die Glücksorientierung, sondern die Pflichtorientierung als Maßstab genommen.
Sucht man nach einem allgemeinen Begriff, der die „Rücksichten gegen sich selbst“ inhaltlich kennzeichnet, so bietet sich der Begriff „Selbstentwicklungsstreben“ an. Er besagt mehr als der Begriff „Selbsterhaltung“, der nach Hobbes das Grundmotiv menschlichen Handelns ausdrückt, und anderes als der Begriff „Selbstverwirklichung“, der nicht nur infolge inflationärer Abnutzung jegliche Bedeutungsschärfe verloren hat, sondern auch zu dem heute so beliebten Überforderungsvokabular gehört: Wer sich selbst verwirklichen will, muss in Analogie zur „creatio ex nihilo“ zum Schöpfer seiner selbst werden – eine Aufgabe, die schon aus logischen und metaphysischen Gründen eine unsinnige Überforderung darstellt. „Selbstentwicklung“ vermeidet demgegenüber sowohl Unterforderung als auch Überforderung, wobei freilich der Begriff in einer weiten Bedeutung zu fassen ist. In dem Begriff wird das Selbst sowohl als Subjekt wie als Objekt gesetzt. Er meint „Entwicklung des Selbst“ (= Objekt) und „Entwicklung durch das Selbst“ (= Subjekt), beides freilich in den Grenzen, die jeder Entwicklung gesetzt sind. Das Selbst kann nicht in jede beliebige Richtung entwickelt werden, und es kann, anders als es exzessive Emanzipationstheorien behaupteten und forderten, sich nicht von jeder beliebigen Abhängigkeit befreien und Geschöpf seiner selbst sein. „Selbstentwicklungs-“ bzw. „Selbstentfaltungsstreben“ impliziert somit eine Berücksichtigung der Entwicklungsgrundlagen, die die Grenzen der Entwicklungsmöglichkeiten festlegen; es bedeutet darüber hinaus eine Offenheit für die fördernden Einflüsse, die von außen kommen, sowie eine wachsende Bereitschaft, diese Einflüsse selbst zu prüfen, zu gewichten, sie aus eigenen Kräften zu verstärken und zu ergänzen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass „Selbstentwicklung“ semantisch wohl eine Zielrichtung, aber keinen Stillstand meint. Der Mensch als leiblich-seelisch-geistiges Wesen entwickelt sich ständig weiter, sodass in gewisser Weise „Selbstentwicklung“ selbst als Ziel fungiert. Dabei werden in den verschiedenen Lebensphasen allerdings sehr verschiedene Akzente in Bezug auf die Dynamik dieses Prozesses gesetzt. In der Kindheitsphase ist „Selbstentwicklung“ sehr stark von äußeren Einflüssen abhängig, während das Selbst als Subjekt der Entwicklung noch zurücktritt. In der Phase der Adoleszenz tendiert das Selbst dazu, den eigenen Möglichkeitsraum zu entdecken und sich gleichzeitig gegen auferlegte Einflüsse abzuschirmen, sodass in dieser Phase wenigstens ideell Selbstentwicklung einige Züge von Selbstverwirklichung annimmt. Im Erwachsenenalter erfolgt ein weitgehender Ausgleich von inneren und äußeren Gegebenheiten und Möglichkeiten, sodass Selbstentwicklung hier einen realistischen Charakter annimmt. Im Alter scheint die Entwicklung zum Stillstand zu kommen, ja im Sinne eines Verfalls sich in die Gegenrichtung zu kehren, sodass Selbstentwicklung sich auf den Grenzwert der Selbsterhaltung zu reduzieren scheint. Dieser Eindruck führt jedoch in die Irre. Er entsteht dadurch, dass sich der Blickwinkel des Beobachters auf äußere Signale, vor allem auf die körperliche Erscheinung, konzentriert und einschränkt. Die innere, geistig-seelische Entwicklung geht weiter entsprechend den geistigen und seelischen Herausforderungen, die diese Lebensphase mit sich bringt. Das große Problem ist nicht der Abbruch der Entwicklung, den das Leben nur als Tod kennt, sondern die Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit in Bezug auf das, was sich innen abspielt und entwickelt.
Die Normen, die sich auf diese Werte beziehen, sind entsprechend der Weite des Begriffs der Selbstentfaltung selbst sehr unterschiedlich. Sie lauten in ihrer allgemeinsten Form etwa: Erkenne dich selbst (Sokrates/Platon); verwirkliche die in deinem Wesen angelegten höchsten Möglichkeiten (Aristoteles); verwirkliche und beachte das, was deine eigene, von Gott geschaffene Natur dir vorgibt (Thomas von Aquin); prüfe bei allen Ansprüchen, die von dir selbst oder von außen an dich herangetragen werden, ob du mit deiner Vernunft zustimmen kannst (Kant); werde der du bist; sei Person; bevorzuge richtig (Existenzphil./Strebensethik, vgl. Krämer 1992, 282). Will man entsprechend dem hier zugrunde gelegten Sinn von Normen solche Leitlinien etwas konkreter fassen, so ergeben sich als Beispiele die folgenden Präskripte: Prüfe zunächst, in welchen Vorurteilen du befangen bist, und frage dich dann nach deinen konstanten Wertorientierungen (Sokrates/Platon); erkenne, dass deine höchsten Möglichkeiten in geistiger Betätigung liegen (Aristoteles); erkenne, dass deine Natur verschiedene Schichten enthält (z.B. Sinne und Geist), und beachte, dass aus jeder Schicht eigene Prinzipien hervorgehen (Thomas von Aquin); beachte, dass deine Vernunft eine möglichst breite Entfaltung deiner Anlagen erfordert und sich so gegen Faulheit und Bequemlichkeit richtet (Kant); bring deine Wünsche mit deinen Handlungs- und Lebensmöglichkeiten in Übereinstimmung, entwickle Prioritäten und entwirf dir dann entsprechende Handlungspläne (Strebensethik).
Ein Missverständnis gilt es abzuwehren, welches sich an den Begriff der „Rücksichten gegen sich selbst“ heften kann. Es wurde aufgezeigt, dass es auf der einen Seite durchaus sinnvoll ist, von Pflichten gegen sich selbst zu sprechen, ohne dass dies auf der anderen Seite als Bedingung einer moralischen Einstellung sich selbst gegenüber anzusehen ist. Auch Bestrebungen bzw. Neigungen fallen unter diese Einstellung. Das wirft die Frage auf, ob Akte, die der unmittelbaren Befriedigung von ichbezogenen Wünschen, Neigungen usw. dienen, als „moralisch“ bezeichnet würden, sodass wir dann vor der eigenartigen Konsequenz ständen, den Besuch eines Erlebnisparks oder die Teilnahme an einer „Love-Parade“ als moralische Akte einstufen zu müssen. Auf diese Weise würde am Ende alles, was in einer kürzlich erschienenen Publikation mit dem Titel ›Spaßpädagogik‹ belegt wurde (Kraus 1998), nun noch eine gleichsam moralische Weihe erhalten. Der Begriff der Entwicklung schließt indessen eine solche Interpretation aus, weil er sich erstens auf längere Zeiträume bezieht, als sie in einzelnen Erlebnisphasen gegeben sind, und weil er sich zweitens auf die Person als leiblich-seelisch-geistige Einheit richtet. Einzelne Spaß machende Erlebnisse sind keineswegs als unmoralisch abzuqualifizieren, sofern sie nicht in die Rechte und Bedürfnisse anderer eingreifen und sofern ihre Häufung nicht die personale Entwicklung behindert, aber sie zielen in der Regel auf rasche Befriedigung ab und stellen insofern keinen Beitrag zur Entwicklung dar. Sie sprechen darüber hinaus in der Regel nur oberflächliche Seiten der Person an und lassen insbesondere die geistige Dimension weitgehend unberücksichtigt. Eben diese aber kann nicht ausgeblendet werden, wenn man den Begriff „Moral“ nicht willkürlich benutzen will. „Selbstentwicklung“ bezieht sich auf die Ganzheit der Person und hat so die langfristige Integration von Denken, Fühlen und Handeln im Blick.