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Pluralismus, Liberalismus, Freiheit
ОглавлениеDie Begriffe „Pluralismus“ und „Liberalismus“ überschneiden sich teilweise, sind jedoch nicht deckungsgleich. „Pluralismus“ ist zunächst Ausdruck einer realen, gleichrangigen Vielheit (James 1977, 145), die im Liberalismus als einer politisch-ethischen Theorie legitimiert wird – etwa als das Recht von menschlichen Individuen, ihr Leben selbst zu bestimmen. Der Pluralismus als Theorie setzt die gegebene Vielheit ebenso wie die Anerkennung der Individualrechte voraus, versteht sich selbst aber überwiegend weniger als Individual- als vielmehr als Gruppentheorie (vgl. Detjen 1988, 124) und setzt insofern einen anderen Akzent.
Die Beziehung zwischen Pluralismus und Liberalismus wird hier anders als z.B. bei Galenkamp (1993, 152–155) so verstanden, dass das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe grundsätzlich nicht antagonistisch ist. Für das Individuum ist es a priori somit keineswegs eine Zumutung, Gruppeninteressen zu seinen eigenen zu machen, was natürlich konkrete Spannungen nicht ausschließt.
Es gibt demgegenüber allerdings eine Position des radikalen Liberalismus, die z.B. von I. Berlin vertreten wird. Dieser sieht in der Tradition J. S. Mills die Freiheit des Einzelnen primär als negative Freiheit, als Freiheit also von Behelligung oder Störung durch andere (Berlin 1995, 201 ff.), gleich ob diese Beeinträchtigung vom Staat, von gesellschaftlichen Gruppen oder von anderen Individuen ausgeübt wird. Zwar spricht Berlin auch von positiver Freiheit, die sich aus dem Wunsch ableitet, sein eigener Herr zu sein, d.h. eigene Entscheidungen zu treffen, Absichten bewusst verfolgen zu können, selbstbestimmt zu leben, der eigenen Vernunft zu folgen (vgl. ebd., 211ff.). Aber da sich nach Berlin auch die positive Freiheit nur aus dem inneren Selbstbezug ergibt, bezieht auch sie sich in einer Außenperspektive primär „im Kern auf das Fernhalten von etwas oder von jemandem“ (ebd., 240). Freiheit und Verlangen nach Status und Anerkennung durch andere, nach Integration von Interessen in gemeinsamer Abhängigkeit, sind nach Berlin verschiedene Ausrichtungen, die indessen leicht miteinander verwechselt werden (ebd.). Diese Verwechslung führt nach Berlin zur Bereitschaft zur Unterordnung unter ein „höheres Selbst“ (ebd., 211 f.), dessen Herkunft und Zusammensetzung undurchschaut bleibt, zum verwirrenden Begriff „gesellschaftlicher Selbstbestimmung“ und macht es in letzter Konsequenz möglich, „daß Menschen, die sich der Autorität von Oligarchen oder Diktatoren unterwerfen, behaupten können, dies mache sie auf irgendeine Weise frei“ (ebd., 240).
Das wäre natürlich eine verhängnisvolle Verbindung: Jede Autorität kann sich ja im Prinzip die positive Wertbesetzung des Begriffs der Freiheit zunutze machen und das Erreichen der Freiheit an ihr politisches oder ideologisches Programm binden. Trotzdem ist diese Verbindung auch im Rahmen der Berlin’schen Position nicht notwendig, weil der von ihm gegenüber dem Streben nach Freiheit als andersartig charakterisierte Wunsch nach sozialer Anerkennung, gegenseitigem Verständnis, Solidarität, Brüderlichkeit – nach allem also, was der Bildung von Gemeinschaften zugrunde liegt – eine eigene Motivationskraft besitzt: Er „zielt auf etwas, das die Menschen ebenso dringend brauchen und für das sie ebenso leidenschaftlich kämpfen“ (ebd.). Diktatoren müssen somit auch nach Berlin gar nicht auf die Energieverschiebung vom Freiheitsstreben auf das Streben z. B. nach Brüderlichkeit setzen, da letzteres doch seine eigene Motivationskraft besitzt. Die Gefahr des Missbrauchs besteht hier natürlich ebenso wie beim Freiheitsbedürfnis; man muss sie erkennen und sich ständig ihre Möglichkeit vergegenwärtigen, aber man wird sie nicht durch eine künstliche Begriffsbeschränkung ausschalten können.
Bei der Konzeption Berlins drängt sich auch die Frage auf, ob der der negativen Freiheit hiermit zuerkannte Vorrang nicht auf einer künstlichen Formalisierung beruht. Besteht die positive Freiheit nur im selbstbestimmten Leben – was immer das inhaltlich sein mag –, so bietet sich für eine nähere Charakterisierung dieser Freiheit in der Tat vorrangig das negative Prädikat an. Was ist selbstbestimmtes Leben? Sicher ein Leben „ohne Störung oder Bevormundung durch andere“. In der Realität heftet sich diese Form aber an bestimmte Inhalte wie: selbständig Kaufentscheidungen treffen, sich selbst ein Urteil über politische Parteien bilden, eine eigene Berufswahl treffen, selbst über die Aufnahme und Gestaltung zwischenmenschlicher und sozialer Beziehungen entscheiden und so auch selbst etwaige Gruppenzugehörigkeiten festlegen. In der konkreten Wirklichkeit tritt die Form der freien Entscheidung stets in Verbindung mit bestimmten Inhalten auf, und es besteht kein Grund, diese Bezogenheit aus dem Begriff der positiven Freiheit auszuklammern. Wenn ich einem Fußballverein beitreten will, so will ich nicht erstens selbständig entscheiden und zweitens dem Verein beitreten, sondern beides bildet im Regelfall eine phänomenale Einheit, deren Komponenten ich allerdings formalanalytisch voneinander trennen kann.
Natürlich sind damit die von I. Berlin beschriebenen Risiken nicht gegenstandslos geworden. Es gibt Gruppenbindungen, die die Freiheit des Individuums nicht entfalten, sondern behindern, und es gibt auch politische Ideologien, die das auch von Berlin konzedierte innere Bedürfnis nach Bindung ausnutzen. So gab und gibt es auch Diktaturen, die sich offenbar auf eine De-facto-Zustimmung der Betroffenen berufen können. Nur werden diese Risiken nicht geringer, wenn man den Begriff der Freiheit so einschränkt, wie dies bei Berlin der Fall ist. Ausschalten lassen sie sich grundsätzlich überhaupt nicht; den von ihnen ausgehenden realen Gefahren lässt sich nur durch ein entsprechendes Bewusstsein und durch die Wirksamkeit der anderen Merkmale des Pluralismus begegnen.
Unter der Voraussetzung, dass die Gruppenbeziehungen, die das Individuum einschließt, zur positiven Freiheit gehören, bilden der Liberalismus als Individualtheorie und der Pluralismus als Gruppentheorie somit keinen Gegensatz. Dieser Zusammenhang hat, wie J. Detjen ausführt, bereits die frühe englische Pluralismustheorie geprägt, die dabei auf die von Thomas von Aquin oder sogar schon von Aristoteles begründete Denktradition zurückgreifen könnte (Detjen 1988, 430f.). Die legitime Pluralität von Individuen mit ihren teils gemeinsamen, teils unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebenseinstellungen bis hin zur Würde jeder einzelnen Person ist demnach die Basis, auf der sich Gruppenzugehörigkeiten und Gruppenbeziehungen entfalten. Diese stellen ihrerseits eine wichtige Bedingung für die Entfaltung des Individuums dar, insofern dieses ja nicht in einem urwüchsigen und geschichtslosen Naturzustande lebt, sondern seine jeweilige Identität in sozialen, kulturell vorgeprägten Wechselbeziehungen entwickelt. So ist nach W. Kymlicka kulturelle Mitgliedschaft geradezu eine Vorbedingung individueller Freiheit, denn die kulturelle Gemeinschaft ist eben das Gebilde, „in welchem die Individuen ihre Ziele und Bestrebungen bilden und revidieren. Die Menschen innerhalb derselben kulturellen Gemeinschaft teilen eine Kultur, eine Sprache und eine Geschichte, die ihre kulturelle Zugehörigkeit festlegen“ (Kymlicka 1989, 135, übers. vom Verf.).