Читать книгу Zwei gegen Ragnarøk - Hans-Jürgen Hennig - Страница 12
FENRISWOLF UND MITGARDSCHLANGE
ОглавлениеGelangweilt stocherte Hilda in der Glut der Feuerstelle herum. Sie kniff die Augen zusammen und schaute fasziniert in das geheimnisvolle Glühen, das sie jedes Mal auslöste, wenn sie die Glut kräftig bewegte. Sie kicherte leise vor sich hin, wenn die Funken hell aufstoben und bald schien es ihr so, als ob da, in dem Glühen, eine geheimnisvolle Kraft wäre, die nach ihr rief; sie musste nur richtig hinhören, um sie zu verstehen. Aber, es klappte nicht, und obwohl sie so lange in die Glut schaute, dass ihr Blick verschwamm, kam ihr doch kein sinnvoller Gedanke. Die Magie des Moments war plötzlich verflogen und sie fühlte sich mit einem Mal richtig verlassen. Falki half wieder bei Steinar in der Schmiede und Alfger hatte ihr gestern, mit strahlendem Lächeln gesagt, dass er mit Ragnar jagen gehen durfte. Als er ihr das sagte, sah sie ihm an, dass er sich richtig wichtig und groß vorkam und das ärgerte sie. Na klar Alfger war älter als sie und auch mindestens einen Kopf größer, aber beim Bogenschießen war Hilda nicht schlechter als er, und sie konnte auch mindestens so gut schleichen wie er, wenn nicht sogar besser. Die Mutter war im Langhaus, bei den anderen Frauen. Bestimmt saß sie dort am Spinnrad, oder strickt. Selbst Skyggi, ihr ständiger Begleiter hatte sie verlassen und war mit der Mutter im Langhaus. Alle dort würden sich jetzt über Skyggi amüsieren, ihm irgendwelche Happen zustecken und er würde fröhlich umherhüpfen und sie nicht mal vermissen. Sie musste plötzlich lachen; Skyggi war immer hungrig und fraß alles. Er würde dort im Langhaus überall und an allem herumzupfen. Die Frauen müssten acht geben, dass er ihnen nicht einen bunten Faden aus dem Webstuhl zog. Dann verschwand ihr Lächeln wieder vom Gesicht und sie dachte: „Hier ist es stinkelangweilig“, aber dann fiel ihr der bevorstehende Abend ein und im gleichen Augenblick freute sich auch schon darauf. Sie wusste, dass er interessant werden würde. Alle würden wieder rund um das große Feuer sitzen und Alviturs Stimme lauschen, wenn er uralte Geschichten erzählte.
Immer, wenn es Vollmond war, saßen die Leute im Langhaus zusammen, um seinen Geschichten zu lauschen.
Hilda mochte die Erzählungen über die Götter am liebsten und niemand konnte sie so spannend erzählen, wie Alvitur. Aber was sollte sie nur so lange tun?
Sie überlegte wieder: „Sie könnte zu Elfa gehen, oder zu Stina. Aber wieso sind die beiden noch nicht hier gewesen? Ja, ja, Stina und Elfa werden bestimmt auch im Langhaus sitzen und dort mit Wolle etwas machten. Hm, ich könnte ja auch hinüber gehen und Wolle färben“, überlegte sie, „dann einen Tag lang mit roten oder grünen Armen herumlaufen und den kleinen Stufi damit erschrecken.“
Bei diesen Gedanken, musste Hilda kichern. Aber sie ging doch lieber mit den Jungen raus, kämpfen üben oder auf Abenteuersuche. Sie hätte Ragnar fragen sollen, ob sie auch mit zur Jagd gedurft hätte. Jagen wäre ja auch etwas Spannendes für sie gewesen, aber Ragnar belächelte sie immer so abfällig, weil sie ihm noch zu jung und zu klein war, wie er sagte. Hilda glaubte aber, dass er einfach etwas gegen Mädchen hatte, die jagen wollten.
„Irgendwann werde ich es ihm schon zeigen“, dachte sie. „Ich bin ja mit dem Bogen nicht schlechter als die Jungen, im Gegenteil, ich war sogar oft die Beste, wenn wir zusammen geübt haben.“
Hilda legte entschlossen den Feuerhaken zur Seite. „Ich werde nachsehen, wo die anderen Mädels sind. Vielleicht finde ich eine, die mit mir zusammen Bogenschießen übt. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht.“
Sie suchte sich die wärmsten Sachen zusammen und zog ihre dicken Stiefel an. Hilda griff sich ihren Bogen und den Köcher mit Pfeilen, steckte sich noch ein Stück Trockenfisch in den Mund und verließ die Hütte.
Draußen empfing sie ein stürmischer, eiskalter Wind und die wirbelnden Schneeflocken sorgten dafür, dass sie kaum bis zur nächsten Hausecke sehen konnte. „Buh, ist das kalt und wie der Schnee unter den Füßen knirscht.“ Dann stapfte sie, mit gesenktem Kopf in Richtung Gemeinschaftshaus.
Aus den Rauchöffnungen des Hauses kam ziemlich viel Rauch, also ist dort auch etwas los, schlussfolgerte sie und beschleunigte ihre Schritte. Hilda öffnete die Tür ganz vorsichtig und nur einen Spalt breit, gerade so, dass sie hineinsehen konnte. Erst konnte sie nicht viel erkennen, weil es drinnen viel dunkler war als draußen, in der Schneehelligkeit. Als sich ihre Augen aber an das Halbdunkel des Hauses gewöhnt hatten, sah sie tatsächlich ihre Mutter beim Garn spinnen.
Elfa und Stina saßen, zusammen mit anderen Frauen, brav auf einer großen Bank, in der Nähe einer Kochstelle, strickten und sangen.
„Wie langweilig“, dachte sie, obwohl singen, das mochte sie auch gerne.
Dann sah sie dort, wo Fegurd und Tyra zusammen Wolle grün färbten, eine kauernde Gestalt, die langsam in Richtung des Färbekessels schlich. Jetzt erkannte sie auch die Schattengestalt, es war Arnors jüngere Schwester, Kibba.
„Was hat sie vor?“, fragte sich Hilda, aber sie ahnte, dass Kibba etwas aushecken wollte. Hilda wollte es genau wissen, und wenn es was Lustiges war, wollte sie mitmachen. So schlich sie sich vorsichtig ins Langhaus und hockte bald im Halbschatten, neben Kibba. „Was hast du vor, warum schleichst du hier herum?“
Kibba stutzte überrascht, weil sie sich ertappt glaubte, aber an Hildas Grinsegesicht sah sie, dass Hilda sie nicht verraten wollte. „Ich will mir die Hände grün färben und dann Stufi erschrecken“, sagte sie. „Der sitzt da hinten so schön brav und isst Honigäpfel. Ich will ihm ein paar davon klauen.“
Hilda nickte verstehend und legte ihren Finger auf den Mund. „Das klingt gut. Mach nur, ich klau mir dann auch welche davon.“
Kibba wollte weiter schleichen, da hielt Hilda sie fest.
„Warte. Nur mit grünen Händen …, das geht noch viel besser. Weißt du noch wie ich aussah, als ich unter der Eiche in den Schlamm gefallen war?“
Kibba grinste und nickte heftig. „Du meinst, ich soll mir auch das Gesicht grün machen?“
Nun nickte Hilda und grinste bis über beide Ohren. „Na klar, aber nicht nur Hände und Gesicht, auch die Haare. Das muss richtig gruselig aussehen“, flüsterte Hilda geheimnisvoll.
Kibba überlegte kurz und nickte dann. „Aber die Frauen am Kessel, sehen mich doch“, gab sie zu bedenken.
„Hihi“, machte Hilda, die werden nichts sehen, wenn ich sie ablenke. Komm.“
Hilda gab Kibba ein Zeichen, sich hinter die Frauen zu schleichen und trat dann aus dem Schatten. Sie ging offen auf die Frauen zu und grüßte laut und freundlich, dann begann sie ihnen Löcher in den Bauch zu fragen, was sie da färbten und warum soviel Wolle. Dann fielen ihr nur noch dumme Fragen ein: „Und warum färbt ihr grün und nicht gelb? Gelb finde ich doch viel schöner.“
Hilda sah, wie Kibba hinter den Frauen zum Farbeimer griff und musste innerlich schon kichern, doch sie musste die Frauen noch einen Moment lang ablenken und fragte, ob man auch andere Dinge im Kessel färben kann. Sie nahm ihren Bogen und rührte einfach im Farbkessel damit herum. „Bleibt der jetzt grün?“, fragte sie schelmisch.
Ganz schnell machte Hilda mit den Händen die Bewegung, so als ob sie sich das Gesicht wusch und Kibba im Hintergrund tat es ihr nach, aber mit der Farbe aus dem Eimer. Hilda konnte sich vor innerlichem Lachen kaum noch beherrschen. Ihr Glucksen unterdrückend hängte sich ihren nun grünen Bogen wieder um und verzog sich, zurück in eine dunkle Ecke. Die Frauen am Färberbottich schauten ihr kopfschüttelnd nach.
Kibba sah jetzt zum Fürchten aus, mit grünen Armen bis zum Ellenbogen, grünem Gesicht und grünen Haare, wie ein Waldschrat. Hilda zeigte nun auf Stufi, der ahnungslos bei seiner Mutter saß. Sie schlich rechts herum und Kibba links herum, dann brüllte Kibba plötzlich auf und lief mit vorgehaltenen Händen, irre stöhnend, auf Stufi los. Stufi war ein paar Jahre jünger als Hilda und kreischte erschrocken auf und kippte das Spinnrad seiner Mutter um, als Kibba vor ihm stand. Kibba sah wirklich fürchterlich aus, mit ihren grünen abstehenden Haaren und ihrem weit aufgerissenem Mund. Stufi bekam einen Weinkrampf und pinkelte sich in die Hosen, dass es an den Beinen herunterlief.
Hilda sah noch, wie Kibba sich das Schüsselchen mit den Honigäpfeln grapschte und spürte dann plötzlich eine Hand an ihrem Kragen. Die Mutter zog sie unsanft am Kragen mit nach Hause und redete ihr unterwegs heftig ins Gewissen. Wie zum Hohn saß Skyggi auf der Schulter der Mutter und krächzte unentwegt, als ob er auch mit Hilda schimpfte. Hilda war es plötzlich so, als ob sie immer kleiner wurde, aber als die Mutter dann fragte, wie sie Kibba dazu anstacheln konnte, sich ganz und gar grün zu färben, musste Hilda doch laut loslachen und fiel vor Lachen in den Schnee.
Mutter Hilda zog die Tochter wieder hoch und machte noch immer ein erzürntes Gesicht.
Aber dann erklärte Hilda: „Ich wollte ja eigentlich nichts von Stufi klauen, aber ich stellte es mir richtig gruselig, schön vor, wie Kibba wohl aussehen würde, mit grünen Haaren und grünem Gesicht, und da habe ich sie eben dazu angestachelt.
Als die Mutter dann sah, wie Hilda grinste, musste sie laut loslachen. „Die arme Kibba. Stufi wird heute Abend neue Honigäpfel zum naschen haben, wenn Alvitur seine Geschichten erzählt, aber Kibba wird als grünes Monster am Feuer sitzen müssen.“
Die Mutter lachte nun ihrerseits, dass sie sich dabei schüttelte.
Hilda fand das nun wieder überaus lustig und lachte über ihre Mutter.
„Was habt ihr denn getrunken?“, schallte plötzlich Ernirs Stimme aus dem Hütteneingang. „Was sitzt ihr hier vor der Hütte im Schnee und lacht euch krank?“
Mutter Hilda erzählte stockend, immer wieder von Lachanfällen geschüttelt, den Vorfall und klatschte vor Lust in die Hände.
Als sie mit ihrer Schilderung fertig war, guckte Ernir erst mit ernstem Blick auf Hilda, dann prustete er auch los und schlug sich vor Lachen auf die Schenkel.
„Arme Kibba. Hilda pass’ nur auf, wenn du morgen Arnor oder Steinar unter die Augen kommst. Sie ahnen bestimmt, dass du das ausgeheckt hast. Hahaha, du bist wirklich meine Tochter.“
Dann breitete er die Arme aus und schob Mutter und Hilda in die Hütte.
Drinnen, in der Hütte, stellte Ernir seinen Korb auf den Tisch und packte ein paar Fische aus.
„Mehr war heute nicht drin. Das Wetter ist zu schlecht. Wenn wir das Netz eingeholt haben, sind uns fast die Finger abgefallen, so eisig war es draußen. Der Wind blies heute sehr kalt — brrr. Keiner hatte noch Lust weiterzumachen, also haben wir heute sehr früher Schluss gemacht.
Hilda guckte auf die Makrelen und meinte: „Aber das reicht doch für uns heute Abend. Ich glaube, das Jagen im Wald ist doch besser. Ich wäre so gerne mit Alfger mitgegangen, aber Ragnar wollte mich nicht dabei haben“, maulte sie.
Ernir tröstete sie mit den Worten: „Mach dir nicht so viel draus, die werden alle schon noch merken, was in dir steckt. Das mit Kibba war zwar gemein, aber auch sehr geschickt eingefädelt und gut schießen kannst du auch. Geh weiter Bogenschießen üben, dann schießt du uns ein paar Schneehühner zum Essen.
Da fällt mir noch etwas ein. Wenn Falki kommt, sollten wir darüber reden, wann wir mit unseren Sachen ins Langhaus umziehen. Ich glaube, der Winter wird noch kälter werden, oder wollen wir in unserer Hütte bleiben?“
Die Mutter fing an zu grübeln und Hilda machte sich lieber davon.
Hilda war wieder guter Dinge und nahm sich vor, mit Lipurta zusammen Bogenschießen zu üben. Sie lenkte ihre Schritte in die Richtung Gunnars Gerberei. Den Weg zu Gunnars Hütte musste man nicht unbedingt sehen, man konnte ihn auch riechen, denn die Gerberei stank oft sehr übel. Gunnar hatte ihr mal erzählt, was er in seiner Gerberwerkstatt alles zum Gerben brauchte; Salz, Öle, Eichenrinde und sogar Pipi oder auch manchmal das Gehirn von Tieren – bääh und all diese Zeug stank gewaltig. Als Gerber war ja Gunnar der Beste hier in Björkendal, wenn es darum ging, aus Tierhäuten oder Fellen etwas Nützliches zu machen, aber meistens hielten sich die Leute ihre Nasen zu, wenn sie an seiner Hütte vorbei gingen. Der Gerbereigeruch war schon lange in Hildas Nase, da erreichte sie endlich die Hütte und klopfte an.
Rannveig steckte den Kopf zur Tür raus und begrüßte sie freundlich: „Guten Tag, Hilda, komm rein.“
Als sich Hildas Augen an das Licht in der Hütte gewöhnt hatten, sah sie, dass Lipurta zu Hause war. Sie saß in einer Ecke und bearbeitete Lederschnüre mit Fett. Ihr Gesicht hellte sich etwas auf, als sie Hilda sah.
Rannveig schaute Hilda freundlich an und fragte: „Komm, setz dich. Magst du etwas Heißes trinken? Ich hab hier noch eine schöne Brühe.“
„Hm, ja, aber eigentlich wollte ich Lipurta fragen, ob sie Lust hat, mit mir Bogenschießen zu üben,“ antwortete Hilda.
„Ich hätte auch gerne eine heiße Brühe“, meldete sich Gunnar aus seiner Werkstattecke, am Ende der Hütte. Er saß am Feuer und bearbeitete ein paar Lederteile.
Vor Neugier wurde Hildas Hals immer länger. Wenn irgendwo etwas gemacht wurde, was sie noch nicht kannte, war es für sie immer spannend, es zu beobachten und zu verstehen, was dort geschah. Ihr fiel ein, wie der alte Egill das mal nannte, als sie bei ihm zuschaute. Mit den Augen stehlen, hatte er das genannt.
Rannveig goss Brühe in zwei Holzbecher, und als sie sah, wie interessiert Hilda zu Gunnar schaute, schob sie ihr die beiden Becher hin und sagte: „Hier nimm und bring’ Gunnar auch eine Brühe.“
Hilda nahm die beiden Becher und ging mit vorsichtigen Schritten nach hinten, zu Gunnar.
Ihre Augen waren schneller, als ihre Füße und schon bei Gunnar angelangt, dass sie nicht die Lederteile sah, die vor ihr auf dem Boden lagen. Hilda stolperte, und schwupp lag sie vor Gunnar auf dem Boden. Sie hatte zwar die beiden Becher noch in der Hand, aber sie jetzt waren leer und die heiße Brühe tränkte die auf dem Boden liegenden Lederteile.
„Auweia, Gunnar, Rannveig, das tut mir leid. Das wollte ich nicht“, stieß Hilda hervor. Dann rappelte sie sich hoch und stellte die leeren Becher mit tief betrübtem Gesicht auf den Tisch.
Lipurta saß im Hintergrund und feixte schadenfroh.
Hilda stand geknickt vor Gunnar und fragte zaghaft: „Gunnar, wie kann ich das wieder gutmachen? Es tut mir so leid um die schönen Lederstücken.“
Gunnar runzelte etwas die Brauen und meinte dann: „Mir tut es leid um die gute, fette Brühe. Na ja, wenn du es wirklich wieder gutmachen willst, dann holst du jetzt neue Brühe und schaffst es auch, sie hierher zu stellen. Dann schaust du zu, was ich hier mache.
„Rannveig, bringe doch bitte noch eine Öllampe her“, rief er.
Diesmal schaffte es Hilda, ohne zu stolpern, zwei gefüllte Becher vor Gunnar abzustellen.
Sie setzte sich zu ihm und nachdem sie von der Brühe getrunken hatte, schaute sie gespannt auf seine Hände.
„Eigentlich wollte ich Lipurta fragen, ob sie mit mir kommt, dass wir zusammen Bogenschießen üben. Es ist ja noch Zeit bis Alvitur seine Geschichten erzählt, aber ich möchte auch gerne sehen was du da machst, wenn ich schon mal hier in deinem Stinkehaus bin“, sagte Hilda, nun schon wieder etwas mutiger, zu Gunnar.
Lipurta mischte sich ein und meinte: „Mit dem Bogen schießen wird das wohl heute nichts mehr. Es dämmert ja gleich, oder wollen wir Sterne abschießen?“
„Schade“, erwiderte Hilda, aber es tat ihr nicht wirklich leid, denn sie schaute schon wieder ganz gespannt auf Gunnars Hände. „Was machst du da? Was wird das?“, fragte sie.
„Na, Hilda, wie sieht das hier aus?“
Hilda überlegte kurz. „Ich glaube, wenn du die Teile da zusammennähst, könnte es ein Köcher für Pfeile werden.“
„Stimmt, das soll es auch einer werden, ein neuer Köcher, für Ragnar“, erwiderte Gunnar. „Sieh mal, die Teile sind aber jetzt noch sehr weich, richtig wabbelig.
Wenn ich jetzt daraus einen Köcher machen würde, dann würde er doch am Gürtel immer herumschlabbern. Ich muss also das Leder steifer machen, damit es die Form behält, und genau das will ich jetzt machen.“
„Hm“, machte Hilda, fasste die weichen Lederteile an und fragte dann: „Und wie kriegst du das Leder fest?“
Gunnar deutete auf dem Topf, der über einem kleinen Feuer hing. „Hiermit, mit geschmolzenem Wachs. Wenn du dich dafür interessierst, komme doch einfach morgen vorbei. Ich zeige dir das dann in aller Ruhe. Vielleicht brauchst du ja auch eine Messerscheide, oder auch einen Köcher, dann können wir den zusammen herstellen.“
„Oh, ja, das wäre toll“, rief Hilda begeistert aus. „Ich glaube, ich würde gerne eine Messerscheide herstellen, die man an den Gürtel hängen kann und ein schönes Muster soll auch drauf sein. Ich kenne da jemanden, der nur so eine olle Hülle für sein Messer hat.“
„Na gut, versprochen“, sagte Gunnar, „komm also, wenn du nichts anderes zu tun hast, und merke dir auch, wie groß das Messer ist, damit die Scheide auch zum Messer passt.“
Nachdem Hilda noch eine ganze Weile interessiert zugeschaut hatte, stieß Gunnar sie an. „Nun geht aber ihr beiden, sonst verpasst ihr heute noch Alviturs Geschichten.“
Lipurta meldete sich: „Hier Vater, die Schnüre sind auch fertig. Es sind ganz viele. Ich geh dann mal mit Hilda.“ Sie legte vor Gunnar ein ganzes Knäuel frisch gefetteter Lederschnüre hin und griff sich ihren dicken Winterpelz.
„Kommt ihr auch mit?“, fragte Hilda.
„Nein, Hilda, heute nicht. Gunnar will den Köcher fertig machen und ich leiste ihm hier lieber Gesellschaft, als nutzlos dort herumzusitzen. Wir kennen doch all die Geschichten, die Alvitur dort erzählt. Aber geht nur, es ist schon spannend, wie er das immer macht.“
Rannveig hielt den beiden Mädchen noch zwei Äpfel und zwei Stücken Trockenfleisch hin, dann strich sie Lipurta kurz über den Kopf. „Nun lauft ihr zwei Hübschen, sonst bekommt ihr nur noch einen Platz in der hinteren Reihe.“
Die Mädchen zogen ihre Kapuzen weit über den Kopf, banden die Kragen fest zu und machten sich auf den Weg zum Langhaus.
Inzwischen war es draußen schon dunkel geworden und der von ihren Füßen aufgeworfene Schnee stob im Vollmondlicht hell auf. Der Weg war zwar nicht weit, aber trotzdem fassten sich die Mädchen an den Händen und liefen mit schnellen Schritten.
Nachdem sie die Tür hinter sich zugemacht hatten, brauchten sie einen Moment, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten.
Hilda schnüffelte: Es roch nach Feuer, nach Heu, Leder und nach Essen. Im Dämmerlicht sah sie, dass schon fast alle Bänke um die Feuerstelle herum besetzt waren und die Gesichter derer, die in der ersten Reihe saßen leuchteten im Feuerschein. Das allgemeine Gemurmel war so laut, dass Hilda Lipurta anstieß und sich die Ohren zuhielt. Auf den zwei Bänken vor dem Feuer saßen hauptsächlich die kleinen Kinder, die sich ja kein Wort von den Erzählungen entgehen lassen wollten. Sie saßen eng aneinandergekuschelt, in dicke Pelze gehüllt und hatten allesamt erwartungsvolle Gesichter. Auf den hinteren Bänken saßen schon ein paar Erwachsene, die immer noch gerne den uralten Geschichten lauschten. Natürlich war es für sie auch eine passende Gelegenheit, Gespräche in gemütlicher Runde zu führen. Hilda entdeckte Bjarki und Arnor, die schon auf den Bänken am Feuer saßen. Arnors Schwester Kibba, Stina und Elfa, saßen auch schon dort, aber wo waren Falki und Alfger? Dann musste Hilda grinsen, als sie sah, dass Kibbas Haare und ihr Gesicht immer noch einen grünen Schimmer hatten. Im Hintergrund hantierten ein paar Frauen, an einem kleinen Feuer und machten Getränke warm. Für die Kinder gab es an solchen Abenden immer Kräutertee, der mit etwas Honig gesüßt war. Die Erwachsenen tranken bei solchen Gelegenheiten lieber warmen Met und manch einer von ihnen so viel, dass er dann das Ende der Geschichte verpasste und auf der Bank zu schnarchen anfing. Hilda und Lipurta schoben sich an den Bänken vorbei, dorthin, wo Arnor saß. Dabei verrenkte Hilda laufend ihren Hals und hielt nach Alfger Ausschau.
Von Falki wusste sie, dass er ganz sicher noch in der Schmiede war. Er würde bestimmt zusammen mit Steinar herkommen. Da schob sich auch schon Steinars riesige Gestalt durch die Eingangstür, begleitet von Birta, und hinter ihnen huschte Falki ins Haus.
Falki rief schon vom Eingang her: „Hilda, ich komme ja schon! Ist bei dir noch ein Platz frei?“
Kurz darauf kamen Hildas Vater, Finnur der Bootsbauer, mit seiner Frau Selja und Haida. Alle reckten ihre Hälse und hielten nach freien Plätzen Ausschau. Da dröhnte Steinars Bassstimme durch das Gemurmel der Leute: „Macht doch mal Licht. Hier ist es ja dunkel, wie in einer Bärenhöhle!“
Eine Stimme rief zurück: „Bring doch deine eigene Ölfunzel mit!“
„Wo sind denn noch ein paar Lampen?“, fragte Falki die Frauen am Kochfeuer.
„He, he, wollt ihr hier ein Lichterfest feiern?“, fragte prompt eine von den Frauen.
„Schau mal dort rechts, neben den Regalen, dort müssten noch ein paar Lampen herumstehen. Öl ist hier bei mir.“
Selja rief scherzhaft: „Steinar, du kannst wohl im Dunkeln Alviturs Stimme nicht hören?“ Dann lachte sie laut über ihren eigenen Witz. „Steinar wird wohl alt, der kann im Dunkeln nicht mehr gut hören. Ha, ha!“, kam noch eine spitze Bemerkung von Hildas Mutter und die Frauen kicherten.
Steinar lachte selber mit und drohte den Frauen mit dem Finger.
Falki holte zwei Lampen, füllte Öl nach und hängte sie an die beiden Pfosten, neben der hintersten Reihe, wo der Lichtschein des Feuers nicht mehr hinreichte. Als umsichtiger Kopf stellte er auch gleich fest, dass Alviturs Stuhl noch nicht am Feuer stand und er rief: „Arnor, pell dich mal aus deinem Fell und komm her! Wir holen Alviturs Stuhl und stellen ihn hier vorne ans Feuer!“
Arnor stand wirklich auf, obwohl er am liebsten sitzen geblieben wäre. Er ächzte gekünstelt, wie ein alter Mann, schob sich schnell noch einen Bissen in den Mund und fragte dann, übertrieben laut: „Falki, du kannst wohl den kleinen Stuhl nicht alleine tragen?“
Wer in seiner Nähe saß, sah, dass Arnor bei dieser Frage über das ganze Gesicht grinste. Alviturs Stuhl war nämlich ein riesiges, großes Monstrum, aber mit prächtig beschnitzten Armstützen und einer großen Rückenlehne, die oben von zwei schönen Wolfsköpfen gekrönt war.
Falki stand schon neben dem Stuhl und wartete, dass sich Arnor endlich bei ihm einfand, damit sie ihn gemeinsam an den vorbestimmten Platz tragen konnten. Doch Arnor ging breit grinsend auf Falki zu und sprach so laut, dass es wieder alle hören konnten: „Falki lass mal, das mache ich lieber alleine, damit du dich nicht verhebst.“
Nun musste Falki grinsen. Er wusste ja, dass es Arnor nur darauf ankam, hier vor allen Leuten zu zeigen, wie stark er war.
Arnor wuchtete den Stuhl hoch über seinen Kopf und ging mit ihm bis zu Feuerstelle. Dort stelle er ihn mit Schwung und lautem Krach so ab, dass er genau an der richtigen Stelle stand.
Wie ein Sieger stand Arnor neben dem Stuhl in Pose und reckte seine Brust. Falki, hinter ihm, klatschte laut in die Hände und rief: „Na prima, du Recke, hast ja Kraft wie ein Troll!“
Aus dem Halbdunkel, von der Bank der Mädchen, kam nun wirklich eine lautes und begeistertes Klatschen und plötzlich klatschen auch alle anderen mit. Falki und Hilda reckten ihre Hälse um zu sehen, welche von den Mädchen da Arnors Verehrerin war. Gleich drei Plätze links neben Hilda saß Stina und klatschte begeistert, mit glänzenden Augen, in ihre Hände. Nun wurde Arnor plötzlich etwas verlegen. Er wollte sich nur einen kleinen Spaß machen, aber nun war er plötzlich der Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit und die Leute beklatschten ihn. Er wusste nicht so recht, was er tun und wo er hinsehen sollte und als dann plötzlich Stille um ihn herum war, weil das Klatschen aufhörte, kam er sich richtig verlassen vor. Es war so still, dass man jetzt sogar das Feuer knistern hörte. Er drehte sich zu Falki um, doch der schaute an ihm vorbei, zur hinteren Tür. Jetzt bekam auch Arnor den Grund für die plötzliche Stille mit und dass die Leute nicht ihn anstarrten, sondern in das Dunkel hinter ihm. Im Schein einer Fackel näherten sich zwei Gestalten, Alvitur und an seiner Seite Sölvi, der für ihn die Fackel trug.
Die plötzliche Stille im Langhaus war fast hörbar. Die Flammen des großen Feuers knisterten jetzt scheinbar viel lauter als vorher. Selbst die Frauen am Kochfeuer schlossen für einen Moment ihre Münder und hielten inne. Auf allen Plätzen wurde es mucksmäuschenstill. Beschienen vom flackernden Schein der Fackel, trat Alviturs große, schlanke Gestalt ins Licht. In seinem blauen Filzmantel, der auf der Brust von eine wunderschönen, Bronzefibel zusammengehalten wurde, war Alvitur, schon wegen seiner Größe, eine beachtliche Erscheinung. Mit seinem dunkelblauen Filzhut und dem reich verzierten Stab, dessen Ende ein großer Drachenkopf zierte, legte er es gerne darauf an, dass ihn die Kinder mit Odin verglichen, zumal seine Einäugigkeit diesen Vergleich geradezu herausforderte.
Alvitur schritt würdevoll, fast feierlich, auf das Feuer zu. Durch Alviturs beeindruckender Erscheinung, wirkte Sölvi neben ihm, fast wie ein Schatten, geräuschlos und farblos. Er begleitete Alvitur zu seinem Stuhl und wartete, bis dieser sich gesetzt hatte, dann löschte er die Fackel und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Alvitur nickte und Sölvi drängelte sich zwischen den Leuten hindurch, in Hildas Richtung. Von allen unbemerkt, wie aus dem Nichts, stand plötzlich die gute Fifilla neben Alvitur. Er raunte ihr etwas zu, dann gab er ihr seinen Hut und den Stab. Sie nahm beides, lehnte den Stab an den nächsten Pfosten und setzte den Hut oben auf den Drachenkopf.
Tyra rückte einen Schemel neben Alvitur zurecht und Fifilla stellte einen großen, dampfenden Krug darauf ab und einen silbernen Trinkbecher. Sie neigte sich noch einmal Alvitur zu und schien ihm etwas Nettes zuzuflüstern, dabei legte sie ihm noch seine beiden Zöpfe ordnend über die Schultern und lächelte. Alvitur ließ es mit Wohlgefallen über sich ergehen und streichelt ihr die Wange.
Plötzlich drangen vom Eingang her wieder Geräusche, die in der Stille doppelt laut und störend wirkten. Alle Köpfe drehten sich zur Tür. Ein großer, schlanker Schatten huschte durch den Raum und drängte sich eilig zu den Sitzenden. Unwilliges Geraune quittierte die Störung.
Hilda rief erfreut: „Alfger, endlich kommst du! Komm hierher!“
Falki wandte seinen Kopf zu Alfger, winkte ihm zu und flüsterte: „Warum kommst du jetzt erst? Alle sind schon hier!“
Hilda strahlte über ihr ganzes Gesicht und in ihren Augen spiegelte sich das Flackern des Feuers wider.
Links von ihr saß Sölvi und rechts Falki. Die beiden schauten sich plötzlich an und wussten, dass einer von ihnen nun Platz für Alfger machen musste. Falki sah in Sölvis Gesicht, das plötzlich einen traurigen und bittenden Ausdruck annahm, und ganz leise flüsterte er zu Sölvi: „Ich mach schon Platz, bleib sitzen.“
Falki ahnte, was in Sölvi vorging, wenn er in Hildas Nähe war, aber er wusste auch, dass Sölvi keine Chance hatte, weil es einfach Alfger gab.
„Na, hast du endlich deinen Platz gefunden?“, kam Alviturs kräftige Stimme vom Feuer.
Alviturs einziges Auge schaute streng zu dem jungen Mann herüber und Alfger beeilte sich ganz schnell, auf seinem Platz, unsichtbar zu werden, aber nicht ohne Hilda ein gewinnendes Lächeln zu schenken.
Hildas Gesicht wurde ganz sanft und mit einem gehauchten: „Na endlich“, rutschte sie ganz dich an Alfger heran.
Das, durch die kleine Störung hervorgerufene Getuschel verebbte und alle schauten wieder erwartungsvoll auf den Mann am Feuer.
Alvitur verdeckte immer sein fehlendes Auge mit einem farbigen Band. Heute hatte er ein oranges Band gewählt, das einen schönen Kontrast zu seinem weißen Haar und seiner blauen Tunika darstellte. Trotz eines strengen Zuges, der sein edles Gesicht zeichnete, wusste jeder, dass Alvitur ein sehr gütiger Mann, mit feinsinnigem Humor war, der auch seine Freude daran hatte, wenn ihn die Kinder, hinter vorgehaltener Hand, mit Odin verglichen.
Alvitur nahm einen Schluck von dem dampfenden Gebräu, das Fifilla ihm hingestellt hatte und machte ein genießerisches Gesicht.
Was sich in dem Krug befand, wussten nur er und sie und es war ihr Geheimnis.
Bedächtig stellte Alvitur den Becher wieder ab und schaute mit ernstem Blick in die Runde. Bei den Kindern verharrte er etwas und musterte die Kleinen mit seinem Auge, Kind für Kind.
Die Erwachsenen lächelten in sich hinein und die Halbwüchsigen feixten, wenn sie das sahen. Alle wussten, das gehörte zu Alviturs Zeremonie des Erzählens.
Hilda hatte diesmal das Gefühl, als ob Alviturs Auge länger auf ihr ruhte, als üblich. Wie gut, dass Alfger jetzt neben ihr saß und sie hatte auch nichts dagegen, dass er seinen Arm um sie gelegt hatte.
Alvitur legte seinen Kopf etwas zurück und schloss sein Auge für einen Moment und Stille trat ein. Man meinte, die Mäuse zu hören, die hier auf flinken Füßen Krümel vom Boden sammelten. Das Feuer knisterte und sein flackerndes Licht tauchte alles in eine goldene Stimmung, in der selbst die Atemzüge der Leute zu hören waren. Unvermittelt fragte Alvitur in die Runde: „Sagt mal Leute, leben wir hier in Björkendal, in unserer Gemeinschaft, gut? Leben wir nach unseren Gesetzten, nach unseren Bräuchen, wie es schon seit langen Zeiten hier Sitte ist?“
Zustimmendes Gemurmel setzte ein und ein paar Kinderstimmen riefen laut: „Ja!“
Alviturs Stimme wurde eindringlicher: „Diejenigen unter euch, die mich schon lange kennen, wissen, dass ich viel von dieser Welt gesehen habe, so viel, dass es bestimmt für zwei Leben reichen würde. Wir feiern unsere Feste, wir opfern Odin und Freyja, wir machen alles so, wie es für unser Volk, seit langen Zeiten richtig war und trotzdem verändert sich die Welt.“ Alviturs machte eine kleine Pause und sein Blick wanderte wieder von einem zum anderen. Dann fuhr er fort: „Sie verändert sich so, wie wir es eigentlich nicht wollen und in einem Tempo, das mir manchmal Angst macht. Die unter euch, die gelegentlich auf Handelsreisen sind, wissen sehr gut, was ich meine. Unsere Götter scheinen gegen diesen Wandel machtlos zu sein. Werden sie streben? Ist das der Beginn von Ragnarök? Können wir überhaupt etwas dagegen tun?“ Etwas leiser, fast flüsternd, fuhr er fort: „Vielleicht, doch wenn, dann können das aber nur wenige, von den Göttern ausgewählte Leute sein.“
Als Reaktion, auf Alviturs Gedanken, hörte man wieder ein paar gemurmelte Worte, und Hilda merkte instinktiv, dass da etwas in ihrem Kopf war, das sie noch nicht greifen konnte und sie spürte ein heftiges Kribbeln, als Alviturs Blick wieder auf ihr ruhte. Einen Schauer lief ihr über den Rücken und sie drückte sich fester an Alfger. Hilda kam sich plötzlich ganz klein vor, aber wiederum auch wach und von Alvitur angezogen.
„Ihr wisst alle, was Ragnarök bedeutet“, nahm Alvitur seine Erzählung wieder auf. „Ja, das ist der Untergang unserer Welt, so wie wir sie heute kennen und auch der Untergang unserer Götter, die Ragnarök deshalb auch fürchten. Es gibt selbst unter ihnen auch solche, die die Ihrigen verraten haben und die Welt in ein Chaos stürzen wollen.“ Seine Stimme wurde wieder leiser, aber fast beschwörend. „Ihr kennt bestimmt auch seinen Namen. Es ist der, den Odin als Sohn annahm, der aber die Ursache vieler Übel wurde.“
Wieder tuschelten einige ganz leise und ein Kinderstimmchen piepste fragend: „Loki?“
„Was hat er getan, dieser Loki, der Wahlsohn von Odin?“, drang nun Alviturs Stimme auffordernd an die gespannt lauschenden Zuhörer.
Alvitur beugte sich vor und sein Gesicht lag nun voll im Schein des Feuers. Sein Auge schaute so eindringlich in die Menge, dass die Kinder unter seinem Blick förmlich schrumpften.
Die Bedrohung, die aus Alviturs Worten sprach, empfand Hilda plötzlich ganz deutlich. Ihr war mit einem Male so, als ob Alviturs Worte nur an sie gerichtet waren. Sie begann nervös Alfgers Hand zu drücken und lauschte aber weiter Alviturs Worten.
„Obwohl Loki von Odin als Sohn erwählt wurde und mit einer Asin verheiratet war, verriet er die Asen und zeugte mit einer Riesin zusammen drei Kinder.“
Alvitur hob seine Hände leicht an, wie um seine Worte zu unterstreichen und sprach dann mit eindringlicher Stimme weiter: „Lokis Kinder, das waren der Wolf Fenrir, eine riesige Schlange und ein Mädchen, in den Farben halb blau und halb wie ein Mensch gefärbt. Odin und die anderen Asen erfuhren natürlich von Lokis Frevel und Odin befragte seine Runen nach der Bedeutung dieser Wesen.“
Alvitur machte eine kleine Pause und angespanntes Atmen war von den Kindern zu hören. Manche hörte man auch ängstlich die Erwachsenen fragen.
Das Feuer knisterte mit einem male viel stärker und plötzlich flogen, laut knallend, Funken durch den Raum, dass alle zusammenzuckten.
Alvitur hob, Achtung gebietend, eine Hand und lehnte sich dann aber mit einem geheimnisvollen Lächeln zurück. Er trank einen Schluck von seinem Gebräu, wobei sein Blick weiterhin über den Becherrand auf den Zuhörern weilte. Er fuhr fort: „Alle Antworten, die Odin erhielt, bedeuteten nichts Gutes. Großes Unheil war die Botschaft der Runen und so beschlossen die Asen Lokis Nachkommen einzufangen und nach Asgard19 zu bringen, um das Schlimmste zu verhindern. Alle Asen verurteilten Loki und meinten, dass er ein Verderber der Welt sei. Nur Odin selbst nahm seinen Wahlsohn noch in Schutz, denn er glaubte immer noch an Lokis guten Kern.“ Alvitur hielt inne und zeigte auf das Feuer, in der Mitte der Runde. „Odin verglich Loki mit der Kraft des Feuers, das zwar zerstören kann, das aber auch allen Wärme gibt.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hielt Alvitur seine Hände mit den Handflächen zum Feuer und schloss kurz die Augen. Leises Getuschel war zu hören und dann aus der Menge die Worte: „Stimmt ja auch!“ Alviturs einäugiger Blick ging suchend dorthin, woher eben die Worte kamen, dann fuhr er fort: „Ja, was wären wir ohne das Feuer, aber Loki ist nicht das Feuer und das erkannten die Asen. Sie berieten weiter, was sie mit Lokis Kindern machen sollten, ob sie diese vielleicht wie das Feuer zähmen und sie nutzbar machen könnten. Sie fanden aber keine wirklich kluge Lösung und so nahm Odin die inzwischen schon riesig gewachsene Schlange und warf sie ins Meer, wo sie aber noch beträchtlich weiter wuchs und letztendlich die ganze Welt der Menschen umspannte. Es war die Midgardschlange20. Das zweifarbige Mädchen indessen, war schon zu einer Frau herangewachsen. Odin verbannte sie in das Land des ewigen Eises, weit hinter Niflheim21. Diese Frau und auch ihr Reich, in dem sie nun fortan herrschte, wurden von den Göttern Hel genannt.“ Alvitur schaute mit ernster Mine auf die Runde am Feuer, nahm genüsslich einen Schluck von seinem geheimnisvollen Trank und fuhr in mahnendem Ton fort: „Diejenigen von uns, die nicht in einer Schlacht, ehrenvoll, als Krieger sterben, sondern erst durch ihr Alter oder durch Krankheiten, die kommen in ihr Reich.“
Ein Geräusch drang plötzlich störend in die vor Spannung knisternde Runde und Alvitur, hob Achtung gebietend eine Hand. Alle lauschten. Es hörte sich an, als streiche etwas Riesiges an der Hauswand entlang. So laut war das Schaben und Schurren, dass die kleineren unter den Kindern sich ängstlich nach ihren Eltern umsahen.
„Aber am schlimmsten war Lokis drittes Kind, der Wolf Fenrir“, drang Alviturs Stimme in die eingetretene Stille. „Die Asen beäugten ihn misstrauisch, denn der junge Wolf wuchs und wuchs unaufhörlich. Er wurde zu dem riesigen Fenriswolf.“
Das letzte Wort sprach Alvitur fast wie eine Beschwörungsformel aus und bedachte die Kinder wieder mit seinen geheimnisvollen Blicken. Dann hielt er abermals inne, so, als fixierte er einen Punkt in der Dunkelheit des Hauses.
Alviturs Blick, die Stille und dann das plötzliche, aus weiter Ferne kommende, Geheul eines Wolfes, machten den Kindern Gänsehaut, dass sie die Luft anhielten.
Als Antwort, auf das Wolfsgeheul kläfften die Dorfhunde ganz aufgeregt.
„Mach den Kleinen nicht solche Angst“, flüsterte Fifilla in das ängstliche Schweigen und reichte dem kleinen Stufi einen Becher mit warmen Tee. Der saß ganz in sich zusammengekauert da und schaute ängstlich und weinerlich in die Runde.
Die Unheimlichkeit des Augenblicks unterstreichend, ertönte erneut das Wolfsgeheul, aber noch lauter. Es war jetzt viel näher und es klang bedrohlich, dass nicht mal die Dorfhunde mehr zu bellten wagten.
Selbst Hilda, die eigentlich nie ängstlich war, empfand das als schaurig und rutschte wieder ganz dicht an Alfger heran. Alfger wandte ihr sein Gesicht zu und sie sah sein Blinzeln und sein Grinsen, dass sie schon so oft aus der Fassung gebracht hatte und plötzlich ahnte sie, was hier wirklich geschah. Alviturs Auge blickte forschend von einem zum anderen, als suche er den Wolf unter seinen Zuhörern.
Da heulte der Wolf wieder, jedoch diesmal unheimlich lange und es schien so, als ob er direkt um das Langhaus herum strich.
Ein paar beruhigende Worte der Eltern, an die Kleinen folgten und dann wieder ein grässliches Heulen vom hinteren Teil des Hauses. Jetzt hatte ganz sicher auch das letzte Kind Gänsehaut und die kleineren schauten wieder ängstlich zu ihren Eltern.
„Ich denke, wir sollten diesen Wolf mal aus unserem Dorf vertreiben“, brummte nun Steinar in die Runde. Er ging langsam zum Ausgang und zog Ernir an der Schulter mit. „Komm mit, Ernir, du jagst doch auch gerne Wölfe.“
„Bleibt alle ruhig sitzen“, sagte Steinar mit fester Stimme, „wir zwei schaffen das schon. Stimmt’s, Ernir?“
Ernir antwortete nur mit einem zustimmenden Brummen und schon waren die beiden zur Tür hinaus. Sie waren kaum draußen, als der Wolf noch einmal zu einem grässlichen Geheule ansetzte, das dann aber ganz abrupt endete. Dafür waren Steinars und Ernirs dröhnende Rufe zu hören: „Hoho, hau ab! Mach dass du im Wald verschwindest!“
War der grässliche Spuk beendet?
Alle am Feuer hatten den Atem angehalten. Nun entspannte sich die Runde wieder und Stufi fragte erleichtert: „Ist er weg?“
Ganz unvermittelt sprach Alvitur weiter: „Ja, er ist weg, aber das war auch nicht der Fenriswolf, der ließe sich nämlich nicht so einfach, mit ein paar Rufen, verjagen.“
Alviturs Stimme nahm einen beschwörenden Klang an. „Und wie die Nornen Odin weissagten, wird dieser Höllenwolf ein Zeitalter der Axt, des Schwertes, des Windes und auch des Wolfes einleiten, dass zum Untergang unserer Welt führen würde. Für die Asen war das eine ganz schlimme Botschaft und sie beschlossen natürlich, das zu verhindern und sperrten den Wolf in einen großen Käfig. Als sie aber sahen, dass der Wolf immer weiter wuchs und stärker wurde, beschlossen sie ihn zusätzlich mit Ketten zu fesseln. Damit der Wolf das hinnähme, erzählten sie ihm, dass sie mit der Ketten nur feststellen wollten, wie stark er sei und so hielt Fenrir still, und ließ sich freiwillig in Ketten legen. Als er dann in Ketten lag jaulte er kurz, reckte und streckte sich und sie zerbrachen ganz einfach. Da waren die Asen ratlos und bekamen große Angst. Was sollten sie tun? Odin kam auf den Einfall, sich an die Zwerge zu wenden, denn sie waren ja für ihre große Handwerkskunst bekannt. Die Zwerge erschufen dann nach Odins Willen ein Halsband für Fenrir, aus ganz absonderlichen Zutaten. Odin vertraute ihrer Kunstfertigkeit und nahm dieses Band. Als die Asen dem Fenriswolf das neue Band anlegen wollten, war dieser aber misstrauisch geworden und weigerte sich.“
In Alviturs letzte Wort mischte sich plötzlich von draußen ein mehrstimmiges Wolfsgeheul. Es war ein fürchterliches und schauriges Geheul, das lang gezogen, auf und abschwellend, den wie gebannten dasitzenden Zuhörern bis ins Knochenmark drang. Selbst Alvitur hielt mit aufmerksamem Gesicht inne und sein Auge schaute sehr ernst auf die Leute. Seine Hände umschlossen die Armstützen des Stuhles so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Dann war plötzlich Stille und nur dass das Knistern des Feuers war als einziges Geräusch noch zu hören. Ein allgemeines Aufatmen ging durch die Runde.
Alvitur nickte kurz und nahm seine Erzählung wieder auf. „Die Asen hatten auch allen Grund zur Angst, denn der Fenriswolf wollte sich das Band nur zu einer neuen Kraftprobe anlegen lassen, wenn ihm einer der Götter dabei seine Hand in das Maul legen würde. Nur ein Einziger von den Asen hatte dazu den Mut. Das war Tyr, der auch während der ganzen Zeit den Wolf täglich gefüttert hatte. Zum Zeichen der Ehrlichkeit der Götter wollte Fenrir Tyrs rechte Hand, die Schwurhand, in seinem Maul halten, während sie ihn fesselten. Als das von den Zwergen geschmiedete Band angelegt war, versuchte der Fenriswolf sich zu befreien. Er zog und riss, aber je stärker er an dem Band riss, je fester legte es sich um seinen Körper und er merkte, dass ihn die Asen nun wirklich gefesselt hatten. Die Asen freuten sich, dass das Band hielt, nur Tyr war der Leidtragende; ihm biss Fenrir, in seiner Wut, die rechte Hand ab. Der Wolf gebärdete sich wütend, schnappte und biss um sich, da nahm Odin sein Schwert und steckte es so in seinen Rachen, dass dieser das Maul nicht mehr schließen konnte. Seit dem muss nun der Fenriswolf bis zum jüngsten Tag ausharren, bis er das Band zerreißen und er die Welt verschlingen kann.“
Alvitur lehnte sich zurück, musterte mit durchdringendem Blick die aufmerksam lauschenden Björkendaler und gönnte sich wieder einen langen Schluck von Fifillas Zaubertrank.
Stufis helles Stimmchen drang aufgeregt durch die Stille: „Auweia. Sterben wir dann alle?“
Kibba sprang auf und fragte: „Können wir nicht irgendwo anders hingehen, wo der Wolf uns nicht findet?“
Noch einmal nahm Alvitur das Wort: „Weglaufen bringt nie etwas, das sollte jeder von euch wissen. Wenn es wirklich eine Rettung geben kann, dann nur durch unsere Herzen, durch unseren Mut, unsere Klugheit und durch den Willen, zu dem zu stehen was wir, seit hunderten Jahren, wirklich sind. Die Prophezeiungen sind ja nie so ganz eindeutig und lassen auch manchmal die Möglichkeit für ein anderes Schicksal offen. Man müsste schon die Nornen erneut befragen. Aber vielleicht ist ja schon Einer, oder Eine unter uns, der es wagt, das Schicksal herauszufordern, einer, der nicht nur sich selbst, sondern auch unsere Götter, uns und unsere Welt retten will.“
Wie zufällig ruhte Alviturs Blick einen Moment lang auf Hilda und Falki, dann ließ er sein Auge weiter über die immer noch andächtig sitzenden Zuhörer schweifen. So verharrte er ziemlich lange, dann erhob er sich bedächtig aus seinem Stuhl.
Sölvi beeilte sich, zu Alvitur zu kommen, um ihn wieder zu seiner Hütte zu begleiten. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, war die magische Spannung in der Runde verflogen und ein vielstimmiges Gemurmel setzte ein. Auch die Stimmen der Erwachsenen wurden lauter und es hörte sich an, wie kurz vor einem Thing. Alle schickten sich eilig an, ihre Schlafplätze im Langhaus, oder auch in den Hütten aufzusuchen, aber auf fast allen Gesichtern lag ein nachdenklicher Ausdruck. Die älteren unter ihnen wussten, wovon Alvitur gesprochen hatte und sie wussten auch, dass ihr Björkendal nicht ewig so weiterexistieren würde, wie es jetzt war. Irgendwann würde der neue Gott und die Welt hinter dem Dänenwall, ihre Welt fressen, wie der Fenriswolf in der Geschichte.