Читать книгу Zwei gegen Ragnarøk - Hans-Jürgen Hennig - Страница 6
HEIMKEHR
ОглавлениеIm Langhaus herrschte ein durchdringendes Gemurmel. Fast das ganze Dorf war um die große Feuerstelle versammelt, die Kinder auf den vorderen Plätzen und die Erwachsenen dahinter. Wenn die Tage kürzer wurden und die winterliche Dunkelheit unendlich lang wurde, waren die gemeinsamen Abende am Feuer immer Höhepunkte, die alle in Björkendal sehr mochten.
Das Gemurmel verebbte ganz plötzlich und aus dem Halbdunkel der hinteren Räume näherte sich die Hauptperson des Abends, Alvitur, der Dorfälteste und der beste Geschichtenerzähler. Es wurde mucksmäuschenstill, als er sich am Feuer auf seinem Stuhl niederließ. Langsam schaute er in die Runde und zupfte seine Augenbinde zurecht. Alle kannten diese Geste nur zu gut und die Kinder wussten meist nicht, ob nun ein Lob folgte oder Schelte, aber Alviturs Gesicht zeigte ein Lächeln.
In die Stille hinein sprang die sechsjährige Hilda von ihrer Bank auf, unter dem Arm ihre Puppe und schnipste mit den Fingern. Ganz aufgeregt rief sie: „Alvitur, erzählst du die Geschichte von Björkendal? Bitte!“ Sie hüpfte auf der Stelle, dass ihr älterer Bruder Falki, der neben ihr saß, schief grinste und mit dem Kopf schüttelte.
Hilda ließ sich aber nicht beirren und rief wieder: „Bitte, die Geschichte von Björkendal, als du zurückkamst!“
Eine leichte Unruhe und Geraune ging plötzlich durch die große Runde, aber als Alvitur seinen Arm hob, wurde es sofort wieder still.
Alvitur lächelte fast spitzbübisch. „Ja, meine schöne Hilda, genau diese Geschichte wollte ich heute Abend erzählen, weil ich schon vorher wusste, dass du danach fragen würdest.“ Sein Lächeln erlosch langsam und er lehnte sich mit konzentriertem Gesicht zurück. „Es ist ja nun schon einige Jahre her, und du Hilda, du warst noch nicht geboren, als ich, der damals noch Djarfur hieß, von meinen Reisen zurückkehrte. Hört zu.“
***
Das schlanke Boot lag gut am Wind und Djarfur genoss es, wie der Wind durch seine Haare wehte. Er hielt das Steuerruder fest in den Händen und ließ seine Gedanken weit vorauseilen, weit über den wolkenverhangenen Horizont hinaus, bis in das ersehnte Björkendal, seiner ersehnten Heimat.
„Wie lange waren wir weg von zu Hause?“, fragte er sich. „Über zwanzig Jahre sind es wohl. Wir waren zu fünft aufgebrochen und nun kehrten nur noch zwei zurück. Zwei Gefährten weilen bereits in Walhall2 und Teemu ist verschollen.“
Bei den Gedanken an Teemu fiel im das Mädchen Kylikki ein. Sie war Teemus ältere Schwester und sie hatte Djarfur geliebt. Das hatte er damals gespürt, aber er hatte nur ihre Hingabe genießen wollen und sie für seine Abenteuerlust verlassen. Bei dem Gedanken an sie verklärte sich sein Blick. Leise formten seine Lippen Worte: „Kylikki, verzeih mir.“
Djarfur schob diese Gedanken beiseite und richtete seinen Blick wieder auf den Horizont. Ganz unvermittelt begann sein Herz vor Freude heftig zu schlagen; bald würde er sein Björkendal wiedersehen und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Doch als, wenig später, sein Blick auf das große Bündel aus Fellen und Decken, am Boden des Bootes fiel, wich seine Freude einem beklemmenden Gefühl. Neben diesem Bündel saß seine dreizehnjährige Tochter Einurd. Sie hielt mit einer Hand ihren Umhang am Hals geschlossen und mit der anderen, die Hand ihrer Mutter, die dort reglos in den Fellen lag.
Djarfur presste die Lippen zusammen. Seine geliebte Saida lag dort in Felle gewickelt, am Boden und kämpfte mit dem Tode. Bitternis stieg in ihm auf; die Liebe seines Lebens lag todkrank im Boot und er, Djarfur, der große Heiler, konnte ihr nicht helfen. So vielen Menschen hatte er mit seiner Heilkunst, helfen können, aber bei seiner geliebten Frau versagte all sein Können. Alle bisherigen Mittel, die er versucht hatte, blieben wirkungslos. Die Trauer darüber schnürte ihm das Herz zusammen. Der Schmerz um ihre Krankheit ließ ihn unaufmerksam werden, so dass er nicht merkte, wie der Wind immer heftiger wurde und langsam zu einem Sturm heranwuchs.
Erst als Leif, sein alter Weggefährte, rief: „Djarfur, halte Kurs!“, schreckte er aus seinen Gedanken auf und korrigiert mit dem Steuer die Richtung.
Er blickt hinüber zu Leif, seinem treuesten Gefährten. Beide hatten zusammen so viel durchgestanden, dass sie schon nicht mehr zählen konnten, wie oft der Eine dem Anderen das Leben gerettet hatte.
Plötzlich stutzte Djarfur und schaute sich suchend um. Die Küste war seinem Blick völlig entschwunden. Hatte er, so in seine Gedanken vertieft, den Kurs ganz verlassen? Als der böige Wind Sturmstärke erreicht hatte, rief er Leif zu: „Hol das Segel ein und nimm die Ruder!“
Dichter Regen nahm ihm nun auch noch die Sicht und so angestrengt er auch schaute, die Küste war nicht mehr zu sehen. Er musste den Kurs neu bestimmen. Djarfur nestelte ein Lederbändchen aus dem Halsausschnitt, an dem ein orangefarbener Stein hing; sein Sonnenstein3. Er hielt sich den Stein vor sein Auge und versuchte die Sonne zu finden, so wie er es bei bedecktem Himmel schon hundertmal getan hatte. Nach mehreren vergeblichen Versuchen fluchte er kurz und steckte den Stein wieder weg. Er schüttelte den Kopf.
„Wieso versagt der Stein? Der hatte doch immer funktioniert, egal, wie trübe der Himmel war.“
Ein ungutes Gefühl und merkwürdige Ahnungen beschlichen ihn.
Seine Tochter wandte sich ihm zu und er sah, dass Tränen über ihr schönes Gesicht liefen. Einurd hatte sicher begriffen, wie es um ihre Mutter stand, aber keine Klage kam über ihre Lippen. Djarfur schluckte die aufkommende Bitterkeit hinunter; er musste den Kurs wiederfinden.
Da brüllte Leif in den Sturm: „Djarfur, wo fahren wir hin? Ich sehe kaum noch etwas. Dieser verdammte Nebel! Wo kommt der denn so plötzlich her?“
Erst jetzt bemerkte auch Djarfur den Nebel, der immer dichter wurde und als er das Wasser beobachtete, stellte er fest, dass sie kaum vorwärts kamen, obwohl Leif aus Leibeskräften ruderte.
„Ist hier eine Strömung? Hier war doch nie eine Strömung“, ging es ihm durch den Kopf. „Die Sonne ist nicht zu finden. Wir haben den Kurs verloren und nun auch noch dieser Nebel …“
Dieses merkwürdig, beklemmende Gefühl kam wieder hoch und ihm fielen plötzlich uralte Geschichten ein, die etwa so, oder ähnlich anfingen.
Er wusste, dass sie vielleicht einen Vierteltag vom heimatlichen Fjord entfernt waren und wenn hier eine Strömung war, dann war sie ihm unbekannt, also neu?
Der Sturm hatte sich inzwischen fast zu einem Orkan entwickelt und die Böen rissen an Djarfurs Gewand, heulten in den Ohren und das Boot ächzte unter den Stößen der Wellen. Es tanzte wie ein Spielball auf den riesigen Wogen und vollführte wahre Sprünge durch das tosende Meer. Djarfur hatte inzwischen große Mühe, das Steuer überhaupt noch zu halten und rief Leif zu: „Halte dich genau in der Strömung, sonst kentern wir!“
Leif gab sein Bestes und ruderte aus Leibeskräften.
„Hier war doch früher keine Strömung!“, rief Leif durch den tosenden Wind zurück.
Er schaute, mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht, zu Djarfur und schrie: „Soll das unsere letzte Fahrt werden, nachdem wir so viel durchgestanden haben?“
Leif keuchte vor Anstrengung; er musste aufpassen, dass seine Ruder nicht ins Leere gingen, so sehr sprang das Boot über die Wellen.
„Odin!“, rief er in den Sturm, „lass uns nach Hause kommen! Odin, Thor, Freya, spielt nicht mit uns, lasst uns das letzte Stück auch noch schaffen!“
Djarfur sah kaum noch Etwas und der Nebel hatte bereits seine Kleidung völlig durchnässt. Er spürte kaum noch seine Hände, aber er würde bis zum letzten Augenblick kämpfen, das wusste er. Bei einem Blick auf seinen Gefährten sah er, dass Leif völlig entkräftet war und die Ruder sicher gleich fahren lassen würde.
„Leif, komm und halte du das Steuer eine Weile, ich will für dich rudern!“, brüllte Djarfur gegen den heulenden Wind.
Leif hatte verstanden und zog die Ruder kurz ein. Als er aufstehen wollte, um zum Steuer zu wechseln, knirschte es gewaltig unter dem Kiel und es folgte ein so kräftiger Ruck, dass beide Männer über die Ruderbänke stolperten. Djarfur landete am Boden, neben der in Decken gehüllten Saida. Als er sich langsam wieder aufrichtete, schaute er in Leifs entsetztes Gesicht.
„Was war das denn? Wir sind gestrandet, aufgelaufen? Hier gibt es doch gar kein Land, oder sind wir …“ – und schon wieder drängte sich ihm der Gedanke an diese unheimliche, alte Geschichte auf.
Er konnte seinen Satz auch nicht vollenden, da unterbrach ihn auch schon Leif: „So weit sind wir nicht vom Kurs abgewichen. Hier gibt es doch eigentlich kein Land, das weiß ich genau!“
Djarfur richtete sich vollends auf und sah sich um: Nichts war zu erkennen, außer einem steinigen Strand und ringsherum wabernder Nebel. Er überlegte nicht lange und rief: „Leif komm, lass uns das Boot auf den Strand ziehen und den Sturm abwarten!“
„Wieso Sturm?“, brummte Djarfur jetzt überrascht, denn der Sturm hatte sich schlagartig gelegt. „Merkwürdig, so plötzlich, wie er gekommen war, war nun um sie herum Stille und nicht einmal das Auflaufen der Wellen am Ufer war zu hören.“
Djarfur schaute zu Leif. Der stand auch wie versteinert und schaute als ob er einen feuerspeienden Drachen gesehen hätte.
„Wo sind wir? Was ist das für ein Land?“, stöhnte Leif. „Djarfur, mir fallen da ganz plötzlich uralte Geschichten ein. Das hier gefällt mit überhaupt nicht, das ist ja unheimlich!“
„Mir auch nicht“, erwiderte Djarfur, „aber komm, lass uns erst das Boot sichern, dann werden wir die Gegend erkunden. Ich muss nach Saida und Einurd sehen. Sie müssen sich ja fürchterlich fühlen.“
Djarfur hob Saida aus dem Boot und Einurd sprang hinter ihm auf den Strand. Ihre großen, dunklen Augen, schauten ihn so voller Hoffnung an, dass er wieder einen dicken Kloß im Hals spürte, weil für ihn die Hoffnung nur noch ein dünnes Fädchen war.
Er wollte Saida, ein Stück vom Meer entfernt, an einer windgeschützten Stelle niederlegen und schaute sich nach einem geeigneten Platz um.
„Wenn nur dieser verdammte Nebel nicht wäre“, ging es ihm durch den Kopf.
Hinter ihm fluchte Leif fürchterlich: „Was ist das für ein verrücktes Land, das es hier doch gar nicht geben dürfte?“
Da spürte Djarfur, wie sich eine kleine, weiche Hand in seine Hand schob, und wie eine Welle von Zärtlichkeit durchfuhr es ihm: Einurd, sein Töchterchen. Djarfur machte noch einen Schritt, dann blieb er abrupt stehen und stutzte; der Nebel war schlagartig wieder weg, er war verflogen, so schnell? Das war wirklich verrückt. Er hielt inne und staunte, denn nicht weit voraus, entdeckte er eine kleine Hütte aus Feldsteinen, mit strohgedecktem Dach, aber nirgends ein Anzeichen dafür, dass hier Menschen wohnten.
Er eilte auf die Hütte zu und atmete erleichtert auf, als er vor ihr stand. Wenigstens hatten sie nun ein Dach über dem Kopf und konnten in Ruhe Kraft für ihre Weiterfahrt schöpfen. Sie würden ein Feuer machen, etwas Warmes trinken und endlich einmal richtig schlafen können. Djarfur gab Einurd mit dem Kopf ein Zeichen und deutet auf die Tür. Einurd verstand und öffnete sie. Beide verhielten einen Augenblick, dann rief Djarfur einen Gruß in das Halbdunkel der Behausung. Als keine Antwort kam, ging er hinein und sah sich langsam um. Im Dämmerlicht, das durch die Türöffnung den Raum nur spärlich erhellte, sah er, dass die Hütte schon lange nicht mehr bewohnt war. Alles sah sehr alt aus und war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Da zog Einurd an seinem Ärmel und deutete auf eine Ecke, in der reichlich Stroh aufgeschichtet war.
„Ein Lagerplatz“, ging es Djarfur durch den Kopf und er legte Saida in ihren Fellen dort ab. Sorgfältig bettete er ihren Kopf etwas höher und schob das Fell vor ihrem Gesicht zur Seite.
Verwundert sah er, dass Saida die Augen offen hatte und ihn aufmerksam anschaute. Djarfur kniete neben ihr nieder und musste all seine Kraft zusammennehmen, damit der Schmerz, über ihre Krankheit, ihn nicht zusammenbrechen ließ. Ihre Liebe war für ihn das Leben und der Blick aus ihren wunderschönen, dunklen Augen durchfuhr ihn siedend heiß. Er beugte sich über sie und küsste ihre fieberheißen Lippen. Als dann aber ihre Hände sein Gesicht berührten und sie hauchte: „Mein Liebster, pass’ gut auf unser Töchterchen auf“, da überwältigten ihn doch seine Gefühle. Seine Schultern begannen zu zucken und er legte seinen Kopf an ihre Wange.
„Saida, meine liebste Saida, du wirst gesund. Ich will gleich ein Trank für dich zubereiten, damit das Fieber verschwindet. Hab nur etwas Geduld. Gleich wird es dir besser gehen.“
Er bedeutete Einurd, dass sie sich neben die Mutter setzen sollte und flüsterte ihr zu: „Warte hier, ich will die Medizin für deine Mutter zubereiten.“
Einurd nickte mit traurigem Gesicht und setzte sich zur Mutter. Sie hielt ihre Hand und mit der anderen streichelte sie ihre Wange.
Djarfur stürzte nach draußen und rannte Leif fast um, der mit einem Berg von Gepäck grade in die Hütte wollte. Er riss Leif sein Arzneibündel aus der Hand und befahl ihm ganz aufgewühlt: „Suche Feuerholz. Wir brauchen unbedingt, so schnell wie möglich ein Feuer. Ich geh zum Boot und hole mir den Topf“, dann rannte er los.
Leif legte das Gepäck ab und schüttelte den Kopf, aber er verstand auch, was in Djarfur vorging. Er hatte alles miterlebt, Djarfurs Wissensdurst, ein guter Heiler zu werden, das Volk der Umayyaden4, ihren Fürsten, die beginnende Liebe zu Saida, das schöne Leben dort am Hofe und letztendlich ihre Flucht, die Djarfur ein Auge kostete. Er suchte mit schnellen Schritten die nähere Umgebung ab, um möglichst trockenes Treibholz zu finden, denn hier wuchs nicht mal ein größerer Strauch. Soweit seine Augen blickten, war hier nur Sand und Gras, das teilweise aber hüfthoch stand.
Auf dem Uferstreifen, der von den Gezeiten ständig überflutet wurde, fand er jedoch genügend Treibholz und so stapelte er sich damit den Arm voll. Wieder zurück in der Hütte, sah er Djarfur vor seinem Medizinbündel sitzen. Er war dabei einige Kräuter zu mischen. Wegen seiner überragenden Heilkunst war Djarfur überall, wo sie sich längere Zeit aufhielten, ein geachteter Mann gewesen.
Bei den Umayyaden, wo sie lange Zeit lebten, war Djarfur so etwas wie der Leibarzt des Fürsten, weil er es geschafft hatte, dessen Frau zu heilen, als alle anderen Heiler schon aufgegeben hatten.
Leif warf das Brennholz neben die Feuerstelle und begann das Feuer zu entfachen. Er wusste, dass er Djarfur jetzt nicht stören durfte und sah sich nach dem Topf und Wasser um. Als der Topf endlich über dem Feuer hing, ging er wieder hinaus, um noch ihr restliches Gepäck aus dem Boot holen. Djarfur mischte Blüten mit verschiedenen Kräutern und machte daraus einen Aufguss. Er hoffte, dass er damit wenigstens Saidas Fieber senken konnte. Sonst wusste er sich keinen Rat mehr, wie er ihr noch helfen konnte. Seine geliebte Saida wurde Tag für Tag weniger und er merkte voller Schmerz, wie das Leben aus ihr entwich.
Soviel er auch nachdachte, weder eine Ursache für ihre Erkrankung noch ein Mittel gegen diese Krankheit fielen ihm ein. Wie eine eiskalte Hand griff die traurige Erkenntnis nach seinem Herzen. Er prüfte die Wärme des Trankes mit seinen Lippen und setzte sich neben Saida.
Wieder sahen ihn Einurds große Augen so voller Hoffnung an, dass er nicht mehr wusste, wie er reagieren sollte. Er küsste seine Tochter auf die Stirn, hob dann sachte Saidas Kopf und flößte ihre behutsam den Trank ein. Im Stillen bat er Freya um Hilfe: „Freya, bitte, gib ihr Kraft, lass sie nicht sterben. Alle meine Schätze will ich für ihr Leben geben.“
Saida trank und ihr fiebriger Blick suchte sein Auge. Ein dankbares Lächeln huschte über ihr Gesicht, das auch jetzt noch im Fieber wunderschön war. Ihre Hand berührte ihn leicht, so zart, dass Djarfur glaubte, ein Schmetterling berühre ihn dort. Er stellte vorsichtig den leeren Becher ab und sah, dass Saida sofort wieder einschlief.
Es durchlief ihn eine heiße Welle, gemischt aus Zärtlichkeit und Trauer.
Einurd blickte zu ihm auf, als wollte sie etwas sagen, da konnte er nicht anders, als sie ganz fest in seine Arme zu schließen. Lange hielt er sie so und wusste, dass er seine Hoffnungslosigkeit irgendwie unterdrücken musste, auch wenn sie so unendlich schmerzte. Einen Augenblick später polterte Leif, mit Gepäck beladen, in die Hütte, warf alles auf einen Haufen und brummelte: „Ich möchte nur wissen, wo wir hier gelandet sind. Ich verwette mein gutes Schwert, dass es dieses Land hier gar nicht gibt. So nahe vor unserer Küste gab es doch nie eine Insel. Wenn wir gegessen und geschlafen haben, werden wir morgen früh bestimmt sehen, wo wir uns befinden. Ich hoffe ja, dass sich dann mal die Sonne zeigen wird. Dieses graue Dämmerlicht macht mich ganz krank, aber vielleicht können wir auch heute Nacht die Sterne sehen und unseren Kurs neu bestimmen.“
Dann begann er in dem Gepäck nach dem Proviant zu suchen. Das Strohlager war groß genug und so fanden sie alle Platz, sich nach dem Essen dort zur Ruhe zulegen. Kaum dass Djarfur auf dem Stroh lag, fuhr er wieder hoch und kroch im Halbdunkel an Saidas Seite. Ihm war, als hätte sie ihn gerufen. Er beugte sich über sie und legte eine Hand auf ihre Stirn. Das Fieber schien gesunken zu sein, denn sie fühlte sich nicht mehr so glühend heiß an. Im Schein des Feuers sah er, dass Saida ihre Augen weit geöffnet hatte und die Lippen bewegte. Er beugte sich tiefer um sie besser verstehen zu können, so dass sie sein Ohr leicht berührten.
„Djarfur, mein Liebster“, und er spürte ihre Hand an seiner Wange. Neue Hoffnung wollte schon in ihm aufkeimen und er streichelte ihr Haar, da fiel ihre Hand zurück und im Feuerschein sah er, ihren Blick leer werden. Er versuchte ihrem Atem zu lauschen, ihren Herzschlag zu spüren – vergeblich. Djarfur war erschüttert; der Kämpfer, der starke Krieger schluchzte und seine Schultern zuckten wie bei einem weinenden Kind. „Saida, meine Liebste, bitte komm zurück.“
Seine Hände griffen unter ihren Kopf und hoben etwas an. Leicht wie eine Feder war sie in seinen Armen. Als er sein Gesicht an sie drückte, liefen heiße Tränen aus seinem Auge. So hielt er sie eine lange Zeit, bis er sie sanft zurücklegte, weil Einurds Hand nach ihm griff.
„Was ist mit Mutter, ist sie tot?“
Djarfur umarmte Einurd und brauchte dabei all seine Kraft, um seine Trauer nicht in einem Schrei herauszulassen. Leif hatte wohl mitbekommen, was geschehen war und hockte sich neben die beiden. Mit belegter Stimme fragte er: „Ist sie gegangen?“
Djarfur nickte, stand auf und ging nach draußen. Unendliche Leere breitete sich in ihm aus, unendliche, schwarze, abgrundtiefe Leere, die ihn über den steinigen Strand taumeln ließ.
Ohne dass es ihm bewusst wurde, ging er zum Boot und suchte dort in der Ladung herum, bis er ein kleines Fass mit Bier fand. Ihn beherrschte jetzt nur noch ein Wunsch: Nichts mehr zu empfinden, nichts mehr zu denken. Mit diesen Gedanken im Kopf, ließ er sich in einer Ecke der Hütte nieder, öffnete das Fass und trank. Vom vielen Bier benebelt, schlief er endlich über seine Trauer ein.
Djarfur erwachte, als ob irgendwer ihn geweckt hätte. Er stand jedoch mutterseelenallein auf dem Strand dieser verfluchten Insel; kein Leif war mehr da und Einurd war auch nicht zu sehen. Nur diese elende Hütte war noch da.
So stand er verlassen in dieser Ödnis und hörte nicht einmal mehr das Meeresrauschen; kein Möwenschrei, kein Wind – nichts – Totenstille.
Djarfur dachte nach: „Irgendetwas stimmte hier nicht, er war doch nicht alleine hier. Wo waren Einurd und Leif?“
Weiter kam er mit seinen Gedanken nicht, denn plötzlich, wie aus dem Nichts, standen drei Frauen vor der Hütte, drei Frauen ohne bestimmbares Alter, ohne ein wirkliches Gesicht und eingehüllt in dunkle Tücher.
Ihm wurde es so unheimlich, wie noch nie in seinem Leben. Dabei war er doch nie ein Angsthase gewesen.
Unvermittelt begannen die drei Weiber zu wispern und er lauschte sie zu verstehen. Es war unheimlich, weil sie sprachen, ohne den Mund aufzumachen.
Djarfur schluckte. Er spürte, wie sich die Haare im Nacken aufstellten und schlagartig wusste er, wer diese Frauen waren. Es waren die drei Nornen5, die Schicksalsfrauen.
Diese Frauen mit ihren Fischglotzaugen, die er bisher nur aus den Geschichten seines Volkes kannte, begannen einen monotonen Singsang und er begriff: „Es gab sie wirklich, diese Nornen.“
Ihr Singsang, dessen Worte er nicht wirklich hören konnte, ging irgendwie direkt in seinen Kopf.
Ihre Melodie war monoton und einschläfernd.
Jetzt begannen sie ihre Worte zu wiederholen, Worte in so merkwürdiger Aussprache, dass er Mühe hatte, ihren Sinn zu begreifen. Dazu malten sie mit den Händen Figuren in die Luft, dann wieder hielten sie ihre dicken Stricke, die sie gemeinsam verknüpften. Aus all ihrem Geraune prägten sich Worte in Djarfurs Gedächtnis:
„Djarfur, Djarfur, sei Alvitur6,
zeig den Zweien einen Weg,
unendlich Zeit, ihr Privileg.
Für die Götter tausend Jahre,
begleiten sie drei Augenpaare.
Der Erste ihnen Zeit bemisst,
damit ihn Fenriswolf nicht frisst.
Kraft schöpfen aus dem eigen Blut.
Es stürbe viel ohn’ der zwei Mut.
Mit gleichem Namen sei ein Kind,
das sie zu ihrem Ende find’.“
Djarfur begann sich auf seinem Lager herum zu werfen und im Aufwachen hörte er noch die Nornen immer wieder ein Wort flüstern: „Ragnarök7!“
Stoßweise atmend erwachte er endlich ganz und wusste im ersten Augenblick nicht mehr wo er war, bis Leif ihn an den Schultern rüttelte und sich Einurd neben ihn setzte.
„He Djarfur, werde endlich wach und mache deiner Tochter etwas zum Essen!“, rief Leif.
Trotz der wirren Gedanken im Kopf nahm Djarfur Einurd in die Arme und wusste plötzlich wieder, dass er lebte, leben wollte, und dass sie ihn brauchte.
Leifs Hand lag auf Djarfurs Unterarm. „Djarfur, ich glaube, du hast böse geträumt. Ich hatte auch einen sehr merkwürdigen Traum, aber lass uns erst essen und dann darüber reden. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob ich das hier nicht alles ein Traum ist“, und Leif stand auf, um Proviant aus ihren Gepäck zu nehmen.
Einurds Worte: „Vater, ich habe Hunger“, holten Djarfur schlagartig zurück in die Gegenwarte und er spürte die Liebe zu ihr und plötzlich durchströmte ihn wieder Lebenskraft, dass er erschauerte.
Leif stellte Essen vor ihm ab und ging zum Feuer, dass er neu entfacht hatte, als Djarfur noch schlief. Er gab ein paar Kräuter in die Becher, etwas Honig und goss mit heißem Wasser auf.
Nachdem er die Becher abgestellt hatte, griff er mit fester Hand nach Djarfurs Schulter, schaute ihm ins Gesicht und sprach in eindringlichem Ton: „Djarfur, mein Freund, du hast uns so weit gebracht und ich bin dir immer gefolgt, nun hast du sehr viel verloren und deine tiefe Trauer kann ich gut verstehen, aber dein größter Schatz sitzt neben dir. Hüte ihn und bringe ihn sicher nach Hause.“
Djarfur fühlte sich erleichtert; sein treuer Freund hatte Recht.
Im Schein des Feuers aßen sie schweigend von ihren Vorräten und tranken den Honigtee. Djarfur kaute langsam, so als ob er damit die Zeit überbrücken könnte. Beide Männer starrten schweigend in die Flammen und dachten an ihren verwirrenden Traum aus der letzte Nacht. Plötzlich wurde Leif unruhig und sein Gesicht verzog sich zu einer ängstlichen Grimasse, wie sie Djarfur an seinem Gefährten nicht kannte. Leif schaute ihn an, als ob er ein Gespenst sähe und Djarfur fragte: „Was ist mit dir? Warum schaust du so merkwürdig drein?“
Leif antwortete zögernd: „Ich muss dir endlich von meinem Traum erzählen. Der war so seltsam, so erschreckend“, und dann schilderte er seinen Traum von den Nornen, der dem von Djarfur fast aufs Haar glich.
Als Djarfur ihm dann seinen, fast gleichen, Traum geschildert hatte, schaute Leif noch entsetzter drein und flüsterte: „Wo sind wir hier gelandet, dass uns die Nornen erscheinen? Ist das hier Hel8? Sind wir tot, oder verflucht?“
Djarfur beruhigte Leif: „Noch leben wir und du hast mir gerade mit deiner Zuversicht meinen Lebenswillen zurück gegeben. Ich danke dir dafür.“
Nach einem kurzen Zögern fuhr er fort: „Was haben diese Weiber dir denn gesagt?“
Leif antwortete stockend und meinte, dass er die Nornen schlecht verstehen konnte und starrte wieder gedankenverloren in die Flammen. Nach einigem Grübeln redete er aber weiter.
„Ich glaube, dennoch etwas vom Sinn ihrer Worte verstanden zu haben. Ihre Gedanken waren in meinem Kopf. Sie wollten, dass wir von hier wegfahren, nach Hause, und ich hätte die Pflicht jemanden zurück zu bringen, oder so ähnlich.“
Djarfur nickte verstehend.
„Leif, wir werden nach Hause fahren, ich brauche nur noch etwas Zeit für Saida. Ich muss sie hier begraben. Kümmere dich bitte um Einurd, bis ich wieder hier bin.“
Dann wandte er sich Saida zu, die in eine Decke gerollt, immer noch auf dem Stroh lag.
Mit Saida auf seinen Armen, lief Djarfur ziellos umher. Ihm war nicht bewusst, wonach er suchte. Er wusste nur, dass er seine Last nicht loslassen wollte, aber er wusste auch, dass er die Liebe seines Lebens hier, in dieser Ödnis, zurücklassen musste.
Schließlich fand er eine Mulde, die mit hohem Gras umwachsen war. Sie war gerade so groß, dass er Saida hier der Ewigkeit übergeben konnte. Djarfur legte sie sanft ins Gras und kniete neben ihr nieder.
Ein letztes Mal streichelte er Saidas Gesicht, berührte mit seinen Lippen, ganz zart, ihren Mund und den Talisman, den sie um ihren Hals trug.
Es war genau der gleiche, der auch an Einurds silberner Kette hing. Mühsam unterdrückte er die aufsteigende, Bitterkeit und zwang sich, Steine zu sammeln, aus denen er den Umriss eines Bootes nachbaute und mit denen er schließlich Saida bedeckte. Als er dabei war, die letzten Steine auf ihren Körper zu legen, übermannte ihn doch noch einmal seine Trauer und er fiel auf die Knie. Zornig schwang er seine Fäuste in den Himmel und rief: „Götter, ihr habt sie mir zu früh genommen, aber ich bitte euch, gebt ihr einen guten Platz, gebt ihr Frieden, sonst werdet ihr mich kennen lernen!“
Später saßen sie wieder zu dritt in der Hütte, am Feuer. Die Männer hingen schweigend ihren Gedanken nach und Einurds Augen wanderten forschend, abwechselnd, von einem Mann zum anderen. Irgendwann hob Djarfur sein Kopf und machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Leif, sag mal, wie lange sind wir schon hier auf dieser verfluchten Insel? Wir haben doch lange geschlafen und jetzt habe ich meine geliebte Saida begraben. Fällt dir nicht etwas Merkwürdiges hier auf?“
Leif überlegte, schaute sich um, dann blieb sein Blick an der Tür hängen und er stand auf. Mit den Worten: „Ich ahne, was du meinst“, öffnete er die Tür, zeigte mit einer Hand nach draußen zum Himmel. „Meinst du das? Ich sehe immer das gleiche Licht und keine Sonne. Es wird weder dunkler noch heller.“
Djarfur nickte. „Genau das meine ich. Was ist das für eine Insel? So etwas gibt es doch gar nicht, oder wir sind …“
Leif unterbrach ihn mit nur einem Wort: „Hel.“
Djarfur schaute ihn aus seinem Auge scharf an und sah wie Leif vor Angst zu schlottern begann. Einurd schaute nun ihrerseits auch ängstlich auf ihren Vater. Auch sie kannte aus seinen Erzählungen Hel, das Reich des Todes. Djarfur nahm Einurd schnell in die Arme und drückte sie.
„Meine kleine Taube, hab keine Angst. So lange ich lebe und Leif lebt, so lange sind wir nicht im Reich der Toten, und so war ich Djarfur bin, ich werde uns nach Hause bringen.“
„Pst, seid mal still, hört mal!“, rief Leif plötzlich, „ich glaube, ich habe einen Raben krächzen gehört.“
Einurd und Djarfur schauten auf und lauschten – Stille.
„Djarfur, ich schwöre dir, ich habe einen Raben gehört, wirklich“, dann senkte Leif den Kopf und schaute wieder teilnahmslos in das Feuer.
Djarfur dachte: „Ob ihn der Traum so zugesetzt hat? Er hört hier einen Raben, aber die fliegen doch nie so weit von der Küster entfernt.“ Dann stutzte er, hielt er den Kopf etwas schräg und lauschte auch. Als er plötzlich auch einen Raben krächzen hörte, durchfuhr es ihn wie ein unverhoffter Stoß in die Rippen. Er sprang auf und lief zur Tür hinaus, einmal um die Hütte herum und dann eine größere Runde, bis hinunter an das Meer; aber kein Rabe war mehr zu sehen. Djarfur war sich jedoch ganz sicher, dass er den Raben auch gehört hatte.
Er schüttelte den Kopf und ging langsam zurück zur Hütte. „Wir sind nicht zufällig hier gelandet“, ging es ihm durch den Kopf „und auch die Nornen mit ihrer Weissagung in der Nacht sind kein Zufall. Irgendwer oder irgendwas versuchte hier unser Schicksal zu lenken.“
Er grübelte weiter: „Wenn es die Nornen nun wirklich gibt, dann habe ich auch einen realen Raben krächzen gehört, aber wer kann einen Raben so weit über die See fliegen lassen?“
Djarfur schüttelte wieder den Kopf.
„Odin? … Nein, welches Interesse sollte Odin an uns schon haben?“
Er hatte die Hütte wieder erreicht und öffnete die Tür. Grade wollte er seinen Fuß hineinsetzen, da hörte er wieder einen Vogelruf. Sein Kopf flog herum und sein Auge suchte den Himmel ab.
Djarfur erblickte eine riesige Möwe, die langsam einen Kreis über der Hütte zog.
Er rief in die Hütte: „Leif, komm raus, packt alles zusammen, wir müssen fahren. Hörst du? Da ruft eine Möwe!“
Leif und Einurd standen augenblicklich neben ihm und suchten mit ihren Augen den Vogel.
„Ja, du hast Recht, aber das ist keine gewöhnliche Möwe“, flüsterte Leif. „Sieh nur wie groß sie ist. Das ist der Eissturmvogel. Meinst du, das wäre ein Zeichen?“
„Ja, davon bin ich überzeugt, so wie hier auf dieser verfluchten Insel alles Zeichen waren, eines nach dem anderen, selbst der Rabe, den ich nach dir auch gehört habe. Lass uns sofort packen und verschwinden.“
So schnell sie konnten, luden sie ihr Gepäck in das Boot und stießen endlich erleichtert vom Ufer an.
Wieder schauten sich Leif und Djarfur irritiert an, als ein kräftiger Wind in das Segel fuhr und das Boot rasch an Fahrt gewann. Bis zu diesem Moment hatte Flaute geherrscht, kein Lüftchen war zu spüren gewesen und nun plötzlich ein guter Wind zum Segeln.
Die Richtung war den Männern noch nicht klar und Djarfur sprach aus, was sie beide dachten: „Nur raus aus diesem Dämmernebel, dann werden wir schon sehen.“
Sie waren eine kurze Strecke mit dem Wind gesegelt, da lichtete sich der Nebel, nein er verschwand einfach, in einem Augenblick.
Leif deutete nach hinten und Djarfur drehte sich um. Er glaubte seinem Auge nicht zu trauen, aber hinter ihnen hatte sich der Nebel restlos aufgelöst und die plötzlich klare Sicht zeigte ihm, dass mit dem Nebel auch die Insel, verschwunden war.
„Es gibt sie also doch, diese Nebelinsel aus den Erzählungen der Alten“, ging es ihm durch den Kopf. Und da waren die Worte der Nornen plötzlich wieder in seinen Gedanken und Ragnarök, das Sterben der Götter!
„Ob uns das jemals einer glauben wird?“, rief er Leif zu.
Der Wind kam günstig und Leif hatte, mit Hilfe der Sonne, ihren Kurs neu bestimmt. Beide Männer wechselten sich jetzt ständig an den Rudern ab, so dass ihr Boot zügig Fahrt machte.
Nur kleine, weiße Federwölkchen bedeckten noch den Himmel und die Sicht war klar. Die Sonne hatte noch nicht ihren Zenit erreicht und so wussten sie, dass sie noch heute den heimatlichen Fjord erreichen würden. Diese Erkenntnis spornte ihre Kräfte beim Rudern noch mehr an und das Boot fuhr mit höchster Geschwindigkeit dem Ziel entgegen.
Einurd jauchzte sogar manchmal auf, wenn sie von einer Welle besonders hochgehoben wurden und anschließend das Boot mit lautem Krachen zurück auf das Wasser fiel.
„Sie hat den Tod noch nicht richtig begriffen, oder eine besondere Gabe, mit ihm umzugehen“, dachte Djarfur.
Jetzt vernahm er mit dem Wind einen leichten Geruch von Land und sein Herz begann mit einem Mal wieder heftiger zu schlagen. Wieder ließ er seine Gedanken weit voraus eilen: Vor seinem Auge breitete sich der Fjord aus, der steinige Strand, mit der Böschung die dicht mit zahllosen Holunderbüschen bewachsen war und dahinter das Dorf. Seine Gedanken flogen, wie eine Möwe, über Björkendal dahin und er sah die etwa zwanzig kleinen Hütten, die um das große Langhaus herum standen.
„Ob das alles noch so ist? So viele Jahre waren wir fort. Ob uns die Leute noch erkennen? Gibt es Björkendal überhaupt noch? So viele haben damals die Heimat verlassen, als Erik der Rote9 neues Land entdeckt hatte.“
Djarfur hielt das Ruder fest, nein, er hielt sich am Ruder fest, so sehr, dass die Knöchel an den Händen weiß hervortraten. Die Sehnsucht nach seinem Fjord ließ ihn stoßweise atmen und sein Herz hämmerte so stark, dass er den Puls im Hals spürte.
Das Glitzern der vielen tausend Wellen, wenn die Sonne in den Fjord schien, die mit Nebel verhangenen Berge im Norden des Dorfes und die blühenden Wiesen um ihre Häuser, all diese Bilder schossen durch seinen Kopf und lösten einen richtigen Orkan an Gefühlen aus. Dann tauchten die Birken vor seinem Auge auf, zahllose Birken. Er liebte den hellen, lichten Birkenwald, die schlanken, weißen Stämme, seine Heimat, Björkendal.
Er war nie ein wirklicher Tierliebhaber, aber jetzt sehnte er sich nach dem Brummen der kleinen, zottigen Kühe und nach den blökenden Schafen. Alles stürzte jetzt, wie aus einem Eimer gegossen, über seinen Kopf und er wusste nicht, welches Bild er zuerst festhalten sollte.
Ein Gesicht tauchte auf, wie aus grauem Nebel, dem sie grade entronnen waren; Kylikki, das wunderschöne Mädchen Kylikki, das damals mit ihnen Eltern und ihrem Bruder Teemu von jenseits der Berge zu ihnen kam. Sie kamen vom Volk der Sami. Ach, was war er nur für ein Hitzkopf gewesen, er hatte mit ihr gespielt und sie im Wald genommen, ohne dass er sie wirklich liebte. Oder hatte er sie doch geliebt? Es hatte ihm damals nichts ausgemacht, ihre Hingabe zu genießen und zu wissen, dass sie ihn liebte. „Arme Kylikki“, dachte er. „Ich hoffe, dass du einen guten Mann gefunden hast. Ich werde mich bei dir entschuldigen, weil ich einfach so verschwunden bin. Wir verließen Björkendal zu dritt, Leif und dein kleiner Bruder Teemu gingen mit mir.“
Seine Gedanken schweiften weiter ab: „Teemu, der sich als Knabe auf ihr Boot schlich und sich erst zeigte, als sie schon auf hoher See waren. Er war eigentlich zu jung gewesen, aber er wurde dennoch ein guter Gefährte und auch ein guter Kämpfer …“
Vor Jahren schon verschwand Teemu aus seinem Blickkreis, ohne dass sie wussten, wohin.
Eine große Welle brachte ihn schlagartig in die Realität zurück und er ließ seinen Blick über das Boot und seine Ladung schweifen. In die Trauer, die er über Saidas Tod empfand, mischte sich jetzt Freude darüber, dass er wohl noch heute durch Björkendal gehen würde und sein Blick fiel auf die hundert kleinen Bäumchen, die in Säcken verpackt, ordentlich an der Bordwand aufgestellt und festgemacht waren.
Ein kleines Lächeln flog über sein Gesicht. Diese Bäumchen waren das Geschenk eines Frankenfürsten, das er für seine Heilkünste erhalten hatte. Er erinnerte sich an den Frühling vor zwei Jahren. Mit Saida hatte er, im Land der Franken, einen blühenden Apfelhain erlebt und mit ihr zusammen trank er das wunderbare Getränk, das die Leute dort aus den Äpfeln herstellten. Damals entstand ein kühner Traum in seinem Kopf; Apfelwein aus Björkendal.
Er hatte die Kinder des Fürsten geheilt und bekam dafür, auf seinen Wunsch, die einhundert Apfelbäumchen geschenkt. Der Fürst schüttelte zwar den Kopf über diesen sonderbaren Wunsch, aber er respektierte auch den klugen Heiler aus dem hohen Norden.
Der Bug hüpfte mit den Wellen auf und nieder und als das Boot einmal besonders laut auf die Wellen klatschte, schrak er wieder aus seinen Gedanken auf. Djarfur zwang sich in die Realität zurück. Er wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, blickte nach vorne, da begann sein Herz vor Freude wild zu hämmern und er atmete ganz tief ein. Glitzernd, in der Abendsonne lag der heimatliche Fjord vor ihnen. Ein heiserer Ruf drang aus seiner Kehle: „Leif, unser Fjord!“, dann lief eine Träne über sein bärtiges Gesicht.
Leif legte die Ruder auf den Bootsrand, sprang auf und schaute in Fahrtrichtung. Als wäre er trunken, knickten ihm plötzlich die Knie ein, aber er fing sich wieder, sprang über die Sitzbänke auf Djarfur zu und umarmte ihn stürmisch.
Einurds Stimme drängte sich zwischen die Männer: „Vater, sind wir jetzt in deinem Björkendal?“
Djarfur ließ Leif los, drückte ihm das Ruder in die Hand und hob Einurd so hoch er konnte. „Ja, mein Töchterchen, das ist unser Fjord und da ganz hinten siehst du das Ufer von Björkendal, unserem Björkendal.“