Читать книгу Zwei gegen Ragnarøk - Hans-Jürgen Hennig - Страница 17
ANDREAS
ОглавлениеSkyggi saß auf einer Tischecke und äugte nach einem leckeren Bröckchen, oder nach einer Hand, die ihn füttern könnte. Er war immer hungrig und stibitzte Futter, wo es nur ging.
Die Mutter und Thurid schienen ihn jedoch überhaupt nicht sehen und kratzten mit ihren Löffeln in den Breischüsseln herum.
Skyggi wollte aber Aufmerksamkeit und so begann er, sich durch eine Vielzahl von Tönen bemerkbar zu machen. Seine Bemühungen blieben erfolglos, sie schauten ihn einfach nicht an.
Er hielt den Kopf auf seine, ihm eigene Art, mal nach links, mal nach rechts und macht, kehlige Laute. Plötzlich tönte es mit tiefer Stimme aus seinem Schnabel: „Hilda.“
Die Mutter ließ vor Schreck ihren Löffel in ihren Brei fallen und schaut Thurid entgeistert an und Thurid riss überrascht die Augen auf. „Raben können ja doch sprechen, wie in den alten Geschichten.“
„Na du bist witzig“, schnaufte Mutter Hilda, „du hast es doch eben gerade gehört. Außerdem kennst du ja die Geschichten von Odins Raben; wenn die nicht sprechen könnten, würde Odin von ihnen ja auch keine Neuigkeiten aus der Welt erfahren.“
Thurid lachte immer noch. „Aber toll ist es doch, dass Skyggi jetzt sprechen kann. Vielleicht kann ich ihm noch ein paar andere Worte beibringen und mich mit ihm unterhalten.“
Mit einem etwas traurigem Unterton fügt sie dann hinzu: „Vielleicht vermisse ich dann Vater und Falki nicht mehr so sehr, wenn sie so lange auf Fahrt sind.“
Mutter Hilda nickte zustimmen. „Ja, ich vermisse sie auch beide, aber da sind wir nicht die Einzigen. Gerda vermisst ihren Feykir und Aldis ihren Hervar. Aber Ernir hat gesagt, dass sie nicht sehr lange unterwegs sein würden. Er wollte auf jeden Fall zur Apfelernte wieder hier sein.“
Die Mutter stützte das Kinn in ihre Hände und fuhr in tröstlichem Ton fort: „Haithabu ist ja nun auch nicht unendlich weit weg.“
Sie stützte ihr Kinn in die Hand und sagte etwas nachdenklich: „Ich rechne eigentlich schon seit ein paar Tagen mit ihrer Heimkehr.
Falki war bestimmt überglücklich, dass er mitfahren durfte. Es ist ja schließlich seine erste größere Fahrt und für ihn bestimmt ein richtiges Abenteuer. Na ja, er wird langsam groß; ein junger Mann ist er inzwischen geworden. Da kann man nichts gegen machen. Das ist ja wohl auch gut so.“
Sie stieß Thurid leicht an und meinte: „Jetzt führe ich schon Selbstgespräche?“
„Nein Mama, ich höre dir doch zu und verstehe dich auch, aber wenn Skyggi jetzt immer mit uns redet, fühlen wir uns bestimmt nicht mehr so verlassen. Stimmt’s, Skyggi?“
Thurid kraulte den Raben etwas unter der Kehle und ermuntert ihn: „Sag noch mal Hilda.“
Und prompt kommt es wieder aus Skyggis Schnabel: „Hildaaa.“
Thurid und die Mutter kicherten erneut los, dass der Tisch wackelte.
„Ja, Töchterchen, wir werden den Kopf nicht hängen lassen und uns gleich draußen in die Arbeit stürzen.
Sag mal, woher hat Skyggi eigentlich den Namen Hilda, wo du doch jetzt schon seit zwei Jahren Thurid heißt?“
„Das ist doch einfach“, antwortete Thurid, „der Vater spricht dich doch auch immer mit deinem Namen Hilda an, wenn er hier ist und die anderen auch. Ich glaube, das ist das Wort, das er einfach am längsten kennt, oder am häufigsten gehört hat.
Aber Mutter sag mal, gehen wir auch zur Apfelernte, oder machen wir etwas anderes?“
„Versorge du mal die Hühner und die Gänse. Ich gehe mit Birta die Schweine füttern. Danach treffen wir uns später im Hain, bei den Äpfeln.“
Die Mutter griff Thurid bei ihren Zöpfen und zog sie zu sich heran. „Thurid, du bist eine wunderbare Tochter und ich bin sehr stolz auf dich, auch wenn du mit deinen sechzehn Jahren immer noch nicht stricken kannst, wie die meisten Mädchen.“
Dann gab sie ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn und einen leichten Klaps auf das Hinterteil. „Komm, lass uns den Tag anfangen.“
Mutter Hilda klapperte eifrig mit dem Geschirr und entsorgte die Reste ihres Frühstücks. Dafür hatten sie den Ekeleimer, wie ihn Thurid nannte. Aber für die Schweine waren diese Reste im Eimer immerhin noch Leckerbissen, an denen sie sich gerne labten.
Thurid suchte im hinteren Teil der Hütte, wo ihre Vorräte standen, das Futter für die Hühner und die Gänse zusammen. Buuh, hier war es so fürchterlich dunkel und sie musste aufpassen, dass sie nicht die falschen Körner nahm und an das Federvieh verfütterte.
Als sie alles im Futterkorb hatte, ging sie nach draußen. Thurid hatte immer ihren Spaß daran, zuzusehen, wie die dummen Hühner aufgeregt um sie herumflatterten und sich um das Futter stritten. Sie warf eine Handvoll Körner mal hierhin, mal dorthin und die gierigen Vögel folgten, aufgeregt gackernd und einander pickend. Thurid fand es spaßig und lachte vergnügt, wenn es besonders wild zuging.
Bei den Gänsen war es nicht ganz so spaßig und manchmal zwickte der Gänserich auch in Thurids Beine, so beeilte sie sich hier, damit sie bei der Apfelernte mitmachen konnte.
Endlich waren die lästigen Arbeiten erledigt und sie rannte auf flinken Füßen zum Apfelhain, der eigentlich schon ein richtiger Apfelbaumwald war.
Thurid liebte diesen Teil vom Dorf besonders und nannte deshalb Björkendal auch manchmal spaßeshalber Appledal, aber da war sie nicht die Einzige. Sie wusste, dass manche Leute aus anderen Orten sie auch manchmal Appledaler nannten.
Schon von weitem hörte Thurid die Stimmen der Leute, die zwischen den Apfelbäumen umherliefen. Solche Gemeinschaftsarbeiten, wie die Apfelernte, waren bei allen sehr beliebt. Hier ließ es sich wunderbar schwatzen und scherzen. Selbst die Männer, die eigentlich lieber mit ihrem Handwerk zu tun hatten, halfen hier gerne mit.
Die größeren Kinder und die jungen Erwachsenen kletterten in die Bäume, pflückten die Äpfel und die Stärksten buckelten, mit riesigen Kiepen, die reifen Äpfel zum Wagen, der immer irgendwo zwischen den Bäumen stand. Der alte Egill hielt sein Zottelpferd am Halfter und mümmelte an einem Apfel herum. Seine Aufgabe war es, den vollen Wagen, zum Langhaus zu fahren.
Zuerst steuerte Thurid zielstrebig auf ihre Mutter zu, die grade mit Birta einen vollen Korb zum Wagen schleppte, aber dann sah sie Sölvi, der auf einer Leiter wild herumfuchtelte, während seine Gefährten, unten am Baum, lauthals lachten. Neugierig schwenkte sie sofort um und kehrte der Mutter den Rücken.
Alfger und Arnor waren auch dort. Thurid rief Alfger und ihre Füße wurden immer schneller. „Alfger, Alfger!“
Mit hochroten Wangen rannte sie auf ihn zu, blieb vor ihm stehen, schaut sich rasch um und haucht ihm blitzschnell einen Kuss auf die Wange. Von den Erwachsenen, die alle mit der Apfelernte beschäftigt waren, bekam niemand diesen Kuss mit, aber Thurids Freunde machen natürlich lauthals ihre Scherze über die Verliebtheit von Thurid.
Arnor, der die große Leiter hielt, auf der Sölvi grade stand, macht vor lachen eine Kniebeuge und ließ die Leiter los. Als Folge schallte sofort Sölvis erregte Stimme aus dem Baum: „He, du hirnloser Riesentroll, stell die Leiter wieder richtig hin.“
Jetzt lachten alle anderen über Sölvi, denn der hing, mit einer Hand baumelnd, an einem Ast, aber er grinste dabei.
Thurid drehte sich zu Arnor um und schaute ihm ganz tief in die Augen. Mit betont strenger Stimme befahl sie ihm: „Arnor, sei doch nicht so ungeschickt. Stell sofort die Leiter wieder richtig hin. Willst du denn, dass dein Freund sich den Hals bricht?“
Arnor, der auch ein bisschen in Thurid verliebt war, schaute ganz verdattert drein, riss die Augen auf und lief rot an. Dann stellte er blitzschnell die Leiter wieder fest an den Stamm und Sölvi stöhnte von oben: „Na endlich.“
Sölvi kletterte nach unten und stellte sich neben Arnor. Er legte ihm den Arm um die Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: „Es ist ja nichts passiert, bist trotzdem mein Freund.“
Dann standen sie, alle vier, in einem Kreis, taten es Sölvi nach und hatten die Arme auf der Schulter des anderen.
„Einer fehlt jetzt noch“, sagte Sölvi und die anderen nicken zustimmend.
„Ja, Falki fehlt mir auch“, gab Thurid zu, „aber Mama sagt, dass sie bald zurück sein werden.“
In diesem Moment tönte die Stimme von Birta, Arnors Mutter, herüber: „Was macht ihr da? Wird das eine Verschwörung? Nennt ihr das Äpfel ernten?“
Alle vier drehten sich zu Arnors Mutter um und grinsten ihr ins Gesicht.
Birta lachte nun auch. Sie wusste ja, dass die vier immer zusammen waren und so manchen Unfug machten, der aber nie bösartig war. „Eigentlich sind sie die besten Kinder, die man sich wünschen kann“, ging es Birta durch den Kopf. Da stand plötzlich Thurids Mutter neben ihr und flüsterte: „Du hast ja Recht, aber es fehlt noch einer in der Runde.“
Birta schaut überrascht zu Hilda: „Aber ich hab doch gar nichts gesagt.“
Hilda lachte wissend. „Aber es war nicht schwer zu erraten, was du grade gedacht hast.“
Nun kam auch noch Kibba und fragte neugierig: „Was macht ihr denn da? Hab ich was verpasst?“
„Nein, nein, Kind, ich hab nur grade festgestellt, dass ich nirgends woanders leben möchte, als hier, hier bei unseren Äpfeln.“
„Und unseren Kindern“, ergänzte Hilda.
Mitten in das Treiben um die reifen Äpfel, tönte vom Fjord her, dreimal ein lang anhaltender Ton, aus einem Horn; Ein Schiff war in Sicht.“
Dann erschallte ein zweistimmige Ruf: „Ein Schiff kommt!“
Alle ließen sofort von der Arbeit ab. Leute sprangen von den Leitern, Körbe kippten um und in Erwartung dieses wichtigen Ereignisses bewegten sich alle auf die beiden Rufenden zu, die auf den Apfelhain zugerannt kamen.
Es waren Elfa, und Bjarki, der Sohn vom Töpfer.
Im Nu standen die Leute um die beiden herum, die wie junge Hunde hechelten.
„Es kommt ein Schiff, aber es ist keines von unseren. Es ist noch ziemlich weit weg“, sprach Elfa, die nicht mehr ganz so arg hechelte, während Bjarki immer noch schnaufte.
Die Björkendaler schauten sich aufgeregt an. Fragen flogen hin und her. Ein fremdes Schiff? Jeder wusste, dass ihre entlegene Gegend kaum ohne wichtigen Grund von einem Schiff befahren wurde.
Da schaltete sich der alte Egill ein: „Lauft mal schon zum Steg, ich kann ja nicht so schnell. Oddrun und ich sammeln noch die vollen Körbe ein und bringen dann alles zum Langhaus. Ihr werdet uns schon alles haarklein erzählen, so dass wir nichts versäumen.“
Die Leute guckten noch etwas unentschlossen, aber ein fremdes Schiff war schon etwas Besonderes, da musste man sofort zum Steg und die Ankömmlinge begrüßen.
Sie ließen ihre Körbe liegen und bewegten sich alle eiligst zum Fjord.
Jetzt standen die Björkendaler aufgeregt auf dem großen Steg und reckten gespannt die Hälse nach dem Schiff, das sich ihnen näherte.
In einem wirren Geraune überboten sie sich gegenseitig in Mutmaßungen, wer da wohl käme.
Es war fast Mittagszeit und die kleinen Wellen im Fjord glänzten im Sonnenlicht, wie poliertes Silber, so dass viele die Hände über die Augen hielten, um nicht geblendet zu werden.
Das Schiff war inzwischen näher gekommen und auch der Letzte von ihnen erkannte nun, dass es keines der ihren Schiffe war. Ihr Handelsschiff, die Knorr, war viel größer und breiter. Sie müsste ja auch in den nächsten Tagen zurückkommen, aber das Schiff, das sich da näherte, war klein und schlank.
Das Boot näherte sich mit hoher Geschwindigkeit der Anlegestelle zu. Die Besatzung schien es eilig zu haben, denn neben dem Segel, das das Boot vorwärts trieb, bewegten sich auch noch im schnellen Rhythmus die Ruder.
Thurid stand ganz vorne auf dem Steg und hielt sich an einem Pfahl fest. Als sie gesehen hatte, dass das Boot nicht ihre Knorr war, mit dem Vater und Falki unterwegs waren, sank ihr Interesse doch ziemlich und sie hielt ihr Gesicht, mit geschlossenen Augen, der Sonne entgegen. Einen Moment lang genoss sie das leise Plätschern der kleinen Wellen, an den Pfählen des Stegs und die weithin tönenden Möwenschreie. Sie genoss es auch als sich sanft der Arm ihrer Mutter um ihre Schultern legte.
„Bist du enttäuscht, Töchterchen?“
„Ach Mama, ohne Falki ist doch alles ziemlich langweilig. Falki kann sich die Welt ansehen und ich muss Äpfel ernten.“
Die Mutter drückte Thurid sanft und raunte ihr ins Ohr: „Ich bin mir ganz sicher, dass du noch genug von der großen Welt sehen wirst. Ich weiß ja nicht alles, aber wenn ich mich an Alviturs Worte erinnere, bin ich mir sicher, dass du noch sehr viel Neues sehen wirst.“
Das Schiff war nun schon so nahe, dass sie es als eines aus dem Nachbarort Hjemma erkannten. Die einzelnen Leute der Besatzung waren schon zu erkennen und manch einer war ihnen auch vom Angesicht her bekannt. Den langen Mann am Ruder erkannten alle. Das war Mikjall aus Hjemma und allen war nun klar, dass sie gleich etwas Wichtiges erfahren würden. Ohne triftigen Grund würde keiner ein Boot von Hjemma nach Björkendal schicken.
Das Gemurmel der Leute wurde leiser und verebbte für einen Moment völlig, denn nun konnten alle die gesamte Mannschaft des Bootes erkennen und auch sehen, dass ein Fremder im Bug des Bootes stand.
Der Mann war nicht sehr groß, aber er hatte dafür breite Schultern und trug ein etwas merkwürdiges Gewand, einen langen graubraunen Wollmantel mit Kapuze und statt eines Gürtels hielt nur eine dicke Kordel die Kleidung zusammen.
Als hätte jemand den Björkendalern den Mund zugeklebt, war mit einem mal Stille auf dem Anlegesteg. Alle schauten neugierig auf den Mann, den Niemand hier kannte. Nur noch das Quietschen der Ruder und das Rauschen der Bugwelle waren zu hören. Nach ein paar Ruderschlägen gurgelte das Wasser an den Rudern und zeigte das Bremsmanöver an.
Die Ruder wurden hochgestellt und das Boot schob sich knirschend an den Balken des Stegs entlang, bis es mit einem Ruck stehen blieb.
Die Björkendaler fanden schlagartig ihre Stimmen wieder und waren eifrig bemüht die Taue, die vom Boot geworfen wurden, aufzufangen und an den Pfählen festzubinden.
Der lange Mikjall sprang als Erster auf den Steg und schaut sich suchend um. Hinter ihm stieg der Fremde aus dem Boot und blieb abwartend hinter Mikjall stehen.
Genau in diesem Moment ertönt, vom Uferende des Stegs, Alviturs Stimme: „He, Leute, lasst mich mal durch. Ich muss doch unsere Gäste begrüßen!“
Wie auf Verabredung bildet sich eine Gasse, durch die Alvitur mit gemessenen Schritten auf Mikjall zuschritt.
Die hin und her fliegenden Grußworte verebbten augenblicklich und die alle warteten auf Alviturs Worte.
„Mikjall, ich grüße dich. Sei uns willkommen, in unserem Björkendal. Was bringst du für Kunde? Wie ich sehe, hast du auch einen Gast aus der weiten Welt mitgebracht.“
Ganz unförmlich ging Alvitur auf Mikjall zu und griff ihn bei den Schultern, drückte sie fest und schaute ihm fragend in die Augen.
„Ich hoffe, dass du uns nur Gutes bringst und keine schlechten Nachrichten.“
Der Bedeutung des Momentes bewusst, reckte sich Mikjall zu voller Größe auf und machte ein ernstes Gesicht.
„Alvitur, ich grüße dich und bringe dir auch die Grüße von meinen Leuten aus Hjemma und euch grüße ich auch, Leute von Björkendal. Eure Bedenken sind grundlos. Ich bringe nur gute Nachrichten. Ja, Alvitur, du hast Recht, ich bringe euch einen Gast, einen Mann, der einen sehr weiten Weg zurückgelegt hat, nur um euch kennen zu lernen.“
Alvitur hob seine Augenbrauen und fixierte den bescheiden wirkenden Mann, der hinter Mikjall stand, genauer.
Erleichtertes Gemurmel kam von den Wartenden, die wie eine dichte Traube um die Ankömmlinge herum standen.
Alvitur nickte mit einem freundlichen Lächeln, winkte Sölvi heran und gab auch Fifilla ein Zeichen. Er raunte Sölvi etwas ins Ohr und der drängelte sich sofort zurück, durch die Menge, zu Fifilla.
„Sei uns willkommen Fremdling, sei unser Gast in Björkendal“, sprach Alvitur nun in einem etwas förmlicheren Ton. Er ging einen Schritt auf den Fremden zu und Mikjall trat zur Seite.
Der Ankömmling schloss kurz seine Augen und verbeugte sich leicht vor Alvitur. Dann holte er tief Luft und schaute Alvitur mit einem offenen und freundlichen Blick ins Gesicht.
„Ich grüße dich Alvitur und ich grüße euch, Leute von Björkendal. Ich bin Andreas, ein Mönch. In Haithabu machte ich die Bekanntschaft mit einem eurer Männer, mit Ernir dem Händler. Ich soll euch von ihm grüßen und sagen, dass er in eine paar Tagen auch hier sein wird.“
Alvitur stellte sich neben den Mönch Andreas und machte eine einladende Geste, die ihn aufforderte mit ihm zu kommen. Dann sprach er zu der erwartungsvoll dreinblickenden Menge: „Leute, ich sehe es euren Gesichtern an, ihr seid genau so neugierig wie ich. Deshalb denke ich, dass es der Wichtigkeit des Ereignisses angemessen ist, wenn wir uns heute Abend im Langhaus treffen. Wir werden unserem Gast etwas von unserer Gastfreundschaft zeigen und dann auch noch genug Zeit haben, ihn zu fragen welches Schicksal ihn hierher zu uns geführt hat.“
Thurid hatte alles verfolgt und plötzlich konnte sie vor Aufregung nicht mehr still stehen. Sie spürte ein heftiges Prickeln in ihrem Nacken und es drängte sie nach vorne. Sie wollte den Mann aus der Nähe sehen. Sie schob und drängelte, bis sie endlich vor ihm stand und er veranlasst war, stehen zu bleiben.
Der Fremde, der mit dem Schiff gekommen war, sah völlig unauffällig und bescheiden aus mit seiner Kutte. Still, aber mit wachem Blick, stand er vor ihr.
Aber Thurid wäre nicht Thurid, wenn sie nicht genauer hinsehen würde. Mit ihrer besonderen Gabe erspürte sie diesen Mann. Sie wusste selbst nicht wie, aber sie spürte, wer der Andere war, ob er Gutes oder Böses im Schilde führte.
„Dieser stille und bescheidene Mann nennt sich Andreas“, ging es ihr durch den Kopf und Thurid sucht seinen Blick.
Andreas hob den Kopf und sie schaute in zwei graublaue Augen, die ihren Blick magisch fesselten. Thurid fühlte sich plötzlich tief in ihrer Seele berührt.
Der Mann vor ihr war fast klein zu nennen, aber von kräftiger Gestalt und mit breiter Brust. Ganz von selbst tastete Thurids besonderer Sinn nach ihm und sie spürt Stärke, Mut, aber vor allem Güte, eine unendliche Güte, die sie regelrecht umarmte, so wie es sonst nur ihre Mutter tat.
Thurid ahnte sofort, dass dieser Mann für sie von großer Bedeutung sein würde.
Er lächelte sie warmherzige an. „Ich bin Andreas und wer bist du?“, fragte er mit einer angenehm klingenden Stimme. Dann machte er noch einen kleinen Schritt auf Thurid zu, berührte sie zur Begrüßung an beiden Armen.
„Du bist ein, im Geiste, sehr waches Mädchen. Ich sehe es an deinen Augen und ich glaube fast, dass ich deinetwegen hier gelandet bin.“
Thurids Herz begann plötzlich so heftig zu pochen, dass es in ihren Ohren dröhnte. Alles rings um sie herum war nur noch verschwommen und waberndes Geraune. Sie sah nur noch das Gesicht des Fremden und der Moment schien sich unendlich zu dehnen. „Was ist das?“, dachte sie.
Dann fühlte sie, wie sie rot wurde. Sie mochte diesen Mann vom ersten Augenblick an. Mit ihrem liebenswürdigsten Lächeln hauchte sie: „Dann sei bei uns in Björkendal willkommen.“
Mit diesen Worten war sie plötzlich wieder in der Wirklichkeit und Alvitur beendete, mit seinen Worten diesen magischen Moment: „Nun, meine liebe Thurid, möchtest du unserem Gast nicht Platz machen? Wir möchten gerne den Bootssteg verlassen und ins Dorf gehen.“
Thurid war wie benommen. Sie schaute in Alviturs Gesicht und sah, dass er sie belustigt anschaute.
Jetzt hörte sie auch noch Gekichere aus der umstehenden Menge, und sie wäre fast wieder rot geworden, aber da stupste Alfger sie an und raunte nur: „Komm.“
Augenblicklich hatte sie sich wieder gefangen und schaute sich um. Alvitur ging neben dem Fremden, im Gespräch vertieft, in Richtung Dorf.
Vor den Beiden sah sie Fifilla gehen und zwei andere Frauen, die wild gestikulierend ins Dorf liefen.
Hinter Alvitur und dem Gast buckelten die Leute aus Hjemma eine Kiste und ein paar Reisesäcke ins Dorf. Arnor lief, gleich zwei Säcke schleppend, neben ihnen und versuchte dabei, mit Fragen, seine Neugier zu stillen.
Hinterher kam die aufgeregt schnatternde Menge der Björkendaler. In kleinen Grüppchen, zu zweit oder zu dritt, bewegten sie sich hinter den Ankömmlingen her und versuchten sich gegenseitig in Fragen zu überbieten.
Am Wegesrand standen Egill und Oddrun mit dem Pferdewagen und der heutigen Apfelernte. Sie standen da und sahen mit offenen Mündern den Zug der Leute an sich vorbei ziehen.
Thurid ließ sich mit dem Zug der Leute forttragen, ohne wirklich zu merken, wie sie lief. Alles um sie herum war weit weg und in ihrem Hirn war immer nur ein Wort: „Andreas.“
„He, Thurid, wach auf“, drangen Alfgers Worte an ihr Ohr und sie spürte plötzlich wieder seinen Arm an ihrer Hüfte.
Dann stolperte sie, und wäre sicher auch hingefallen, wenn Alfger sie nicht gehalten hätte.
Thurid blieb stehen und holte tief Luft. Sie sah Alfgers besorgten Blick. „Was ist denn, warum schaust du so komisch?“, fragte sie.
„He, meine schöne Thurid“, erwiderte Alfger, „irgendetwas stimmt mit dir nicht. Du kommst mir so abwesend vor, so als ob du ein Gespenst gesehen hättest.“
„Nein, Alfger, keine Gespenst. Ich glaube eher, es war ein guter Geist. Andreas…, der …, der Andreas, er…“ Sie hatte Mühe ihre Worte zu sortieren. Sie blieb stehen und sagte nur: „Warte.“
Dann setzte sie sich einfach am Wegesrand ins Gras.
Alfger schaute etwas verdutzt, doch dann setzte er sich zu ihr. „Was ist mit dem Andreas?“ Er griff Thurids Hand und streichelte sie sanft.
„Der ist doch ein ganz gewöhnlicher Mann. Vielleicht ist er etwas kurz geraten, aber sonst sieht der doch ganz normal aus, bis auf die komische Kutte.“
„Alfger, nein, das ist kein gewöhnlicher Mann. Du wirst es schon noch merken. Ich habe in seine Augen gesehen und gespürt, dass er ganz anders ist. Du weißt doch, dass ich immer etwas mehr von einem Menschen erspüre, als es dir möglich ist. Ich glaube, dass dieser Andreas für mich sehr wichtig sein wird.“
Nun zog Alfger die Augenbrauen zusammen und brummte mehr zu sich selbst: „Muss ich mir jetzt Sorgen machen? Der ist doch aber viel älter als du. Außerdem ist das so einer, der mit dem Kreuz herumrennt, so ein komischer Christ. Ich hab das Ding an seinen Hals gesehen und aus dem Boot haben sie auch ein Kreuz ausgeladen, wo so ein nackter Mann drangenagelt ist.“
„Ach du dummer Trollschädel. Ich meine doch nicht, dass er auf diese Art für mich wichtig sein wird.“
Dann schaute sie Alfger in die Augen und strich mit einem Finger über seine Lippen.
„Es wird doch nie einen anderen Mann geben, den ich auch als Mann will. Das weißt du doch“, und Thurid lehnte sich mit dem Kopf an Alfgers Schulter.
Alfgers Gesicht hellte sich schlagartig wieder auf.
„Dann komm, meine Schöne. Das wird dann wohl heute ein spannender Abend und ich will nichts versäumen.“
Fast alle Einwohner von Björkendal waren damit beschäftigt, der Bedeutung dieses Tages den entsprechenden Rahmen zu geben, weil sie doch einen Gast von sehr weit her hatten.
Ein paar Frauen waren dabei, im Langhaus die große Tafel aufzubauen, andere rupften ein paar Hühner für das Abendessen und eines der Dorfschweinchen musste auch für den Abend sein Leben lassen. Jeder wusste, dass so etwas nur ganz selten vorkam.
Fifilla hatte alle gut im Griff. Trotz ihrer sanften Art und Güte hatte sie einen sehr klaren Verstand und gab den Frauen umsichtig ihre Anweisungen. Ohne Unterlass rannte sie geschäftig zwischen ihnen hin und her, richtete hier etwas oder dort und half selber mit, wo es notwendig war.
Ein paar Männer waren damit beschäftigt, die Kochstelle und den großen Bratenspieß aufzubauen.
Thurid und die Freunde lungerten um Alviturs Hütte herum, in die der Fremde entschwunden war.
Sie warteten darauf, dass sie sich für ihn irgendwie nützlich machen konnten und beneideten Sölvi, der als Gehilfe von Alvitur mit in der Hütte saß und alles aus erster Hand mitbekam.
Nach einiger Zeit kam Sölvi aus der Hütte gehuscht, setzte eine bedeutungsschwere Mine auf und winkte seine Freunde heran. „He, ihr könnt euch jetzt wirklich nützlich machen. Der Fremde bekommt die leere Hütte, die auf der anderen Seite vom Flüsschen steht. Macht mal da drinnen sauber und schaut, ob genügend Stroh für die Schlafstelle da ist. Na ihr wisst schon, was alles in eine Hütte gehört.“
Da fragte Arnor: „Was ist denn eigentlich ein Mönch? Ist das ein Volk?“
„Quatsch, du Kraftbolzen, das sind Leute, die ständig mit ihrem Gott beschäftigt sind und laufend zu ihm beten. Sie nennen sich Christen, egal von welchem Volk sie auch sind. Vater hat mir das mal erklärt, weil er solche Mönche auch bei den Handelsfahrten kennen gelernt hat“, erklärte Elfa mit wichtiger Mine. „Südlich von Haithabu soll es ganz viel von diesen Christen geben.“
„Wie so ein Betmensch kommt der mir aber nicht vor“, maulte Arnor zurück. Ich habe ja einen Teil von seinem Gepäck hierher getragen und da war ein ziemlich großes Schwert bei, das oben mit dem Griff rausguckte. Ich glaube auch, dass eine Kettenhemd in dem Sack war, denn es fühlte sich so an und war auch ziemlich schwer.“
„Ihr könnt ja noch eine Weile herumrätseln, aber macht euch mal an der Hütte zu schaffen, ich muss nämlich wieder rein“, drängte Sölvi, sprang die Stufen hoch und war sofort wieder in der Hütte verschwunden.
Für Thurids Freunde und die Mädchen war das Rätsel überhaupt nicht gelöst und Sölvis Worte hatten es, im Gegenteil, noch spannender gemacht. Alle schauten sich mit fragendem Blick an, da ergriff Alfger die Initiative: „Mädels, ihr wisst am besten, wie man so eine Hütte herrichtet, ihr nehmt das in die Hand und wir Männer machen uns daran, alles heranzuschleppen, was noch gebraucht wird. Wir brauchen bestimmt einen Haufen Feuerholz und einige Gerätschaften. Reparieren müssen wir da drinnen ganz sicher auch Einiges. Die Hütte steht ja schon seit einer Ewigkeit leer. Ich habe nie jemanden darin wohnen gesehen.“
„Ich weiß aber, wer darin mal gewohnt hat“, meldete sich Thurid. Fifilla hat es mir erzählt. Sie kam ja damals als Kind her, mit ihrer Familie und sie hatte auch einen Bruder, der Teemu hieß. In der ersten Zeit wohnten sie in dieser Hütte, bis sie die bauten, in der sie jetzt wohnt.“
Alle schauten sich ungläubig an und Elfa murmelte: „Teemu, komischer Name, habe ich noch nie gehört. Wo ist der hin? Wo ist der Rest der Familie geblieben?“
Thurid wandte sich zum Gehen und sagte: „Kommt, wir gehen schon zu der Hütte und ich erzähle euch unterwegs, was ich darüber weiß. Es ist ja nicht viel, aber ich weiß, dass Fifilla, mit ihren Eltern, vor langer Zeit hierher kam. Sie kamen von jenseits der Berge, von einem Volk, das ganz weit im Osten, an dem großen Ostmeer lebt. Ihre Eltern sind hier bei uns gestorben. Fifilla sagte, an Heimweh.
Sie hatten kurz in dieser Hütte gewohnt, dann ist ihr Bruder zusammen mit Alvitur und Leif auf Fahrt gegangen, aber nur Alvitur und Leif sind zurückgekommen. Mehr weiß ich auch nicht. Fifilla glaubt aber fest daran, dass ihr Bruder noch lebt. Ich weiß nicht, ob es ein Geheimnis ist, aber Fifilla hieß damals auch noch nicht Fifilla!“
Die Mädchen waren bei der leeren Hütte angekommen und schauten in das leere Halbdunkel.
„Sag schon, wie hieß Fifilla damals“, drängelte Stina ganz gespannt.
Thurid überlegte einen Moment, ob sie den Namen preisgeben konnte. „Tutet es nur nicht im Dorf herum, sie hieß Kylikki. Klingt doch schön, oder? Aber sagt es niemanden, dass ich geschwatzt habe, bitte.“
Nun bekam sie fast ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht recht wusste, ob sie damit ein Geheimnis von Fifilla verraten hatte.
„Kylikki, seltsamer Name, genau wie Teemu“, kicherte Stina.
Plötzlich erhellten Flammen den Raum und die Magie der Dunkelheit war verschwunden. Alfger und Arnor erhoben sich grinsend von der Feuerstelle.
Die Neugier um Fifillas früheren Namen war befriedigt und die Mädchen begannen die Hütte herzurichten.
Arnor und Alfger liefen sofort los, Brennholz holen, Thurid und Elfa besorgten sich Eimer und holten Wasser. Die anderen entfernten das alte Stroh vom Schlafplatz und ersetzten es durch neues.
Als Thurid mit einem Eimer Wasser wieder in der Hütte stand, schaute sie sich prüfend um und stellte fest: „Hier fehlt ja alles. Da müssen wir nachher durchs Dorf ziehen und die nötigen Gerätschaften einsammeln.“
Die Zeit verging wie im Fluge und als ob sie das täglich machten, klappte alles wunderbar. Irgendwann stand Arnor pustend auf und zeigte stolz auf den frisch verschmierten Lehmofen, da kam Sölvi ins Haus gehastet.
„He, Freunde, ihr …“, dann hielt Sölvi überrascht inne und sah sich erst einmal staunend um.
„Na das ist ja was. Sieht ja hier fast wie eine bewohnbare Hütte aus. Da habt ihr ja wirklich viel geschafft“, lobte er seine Freunde anerkennend.
„Ihr solltet euch schnell das Stroh aus den Haaren machen und dann ins Langhaus kommen, sonst verpasst ihr noch alles. Fast alle sind schon da und warten darauf, dass die Trinkbecher gefüllt werden.“
Als Thurid mit ihren Freunden im Langhaus ankamen, war schon ganz Björkendal versammelt. Ein allgegenwärtiges Stimmengewirr erfüllte das Haus und alle Blicke waren auf Alvitur und den neben ihn sitzenden Gast gerichtet.
Thurid fixierte den Gast mit ihrem Blick und blitzartig wusste sie: „Der bleibt länger, wieso hätten wir sonst die Hütte hergerichtet?“
Thurid bemerkte sofort, dass die Leute, dem Ereignis angemessen, in einer bestimmten Sitzordnung zusammen saßen. Fackeln an den Wänden und Öllämpchen auf der Tafel, beleuchteten mit ihrem warmen Licht die erwartungsvollen Gesichter.
Wegen der offiziellen Sitzordnung etwas enttäuscht, zog Thurid mit ihren Freunden weiter, bis sie ihre Plätze an der Wand gefunden hatten.
Alviturs Rede hatten sie nun verpasst, aber das war ja nicht weiter schlimm. Drei Frauen gingen um die Tafel herum und gossen Apfelwein in die Trinkgefäße.
Alvitur erhob sein prächtiges Trinkhorn und sofort war es an der riesigen Tafel mucksmäuschenstill, nur noch das leise Plätschern vom eingießen des Weins war zu hören.
„Andreas, meine Freunde, Leute von Björkendal, es ist nun alles Wichtige gesagt. Andreas wird bei uns bleiben, um mit uns zu leben, so wie es bei uns Brauch ist. Trinken wir zusammen darauf, dass er einer von uns wird, trinken wir unseren Apfelwein, das Beste, was Björkendal zu bieten hat! Sei willkommen Andreas, bei den Apfelwikingern.“
Das letzte Wort löste bei allen an der Tafel eine Lachsalve aus. Jeder wusste, dass sie in Haithabu wegen ihres Weines, manchmal Apfelwikinger genannt wurden.
Alle hoben ihre Becher oder Trinkhörner und eine plötzlich einsetzende Welle von Worten brandete durch das Haus.
Nun erhob sich Andreas und stand, fast einen Kopf kleiner als Alvitur, neben ihm. Trotz seiner geringeren Größe war er eine ansehenswerte Erscheinung. Mit dem erhobenen Trinkhorn, seinen breiten Schultern und seinem offenen Gesicht, sah er eher wie ein Edelmann, als wie ein armer Mönch aus.
„Leute aus Björkendal, ich danke euch dafür, dass ihr mich bei euch so einfach aufgenommen habt. Ja, ich bin durch die halbe Welt gereist, einen Ort, wie diesen zu finden. Es ist nicht leicht in wenigen Worten zu erklären, wie ich das meine. Aber ich denke, da ich ja bei euch bleiben darf, werdet ihr mit der Zeit schon alles erfahren, was ich jetzt nicht in Worte fassen kann.“
Er unterbrach sich und nippte kurz an seinem Becher. Als Alvitur ihn auffordernd anschaute, fuhr er fort: „In Haithabu hatte ich Ernir kennen gelernt. Ernir ist ein guter Händler und ein Mann, auf den ihr stolz sein könnt. Wir saßen einige Abende zusammen und redeten. Seine Worte über Björkendal, über euch und wie ihr hier lebt, waren es, die mich davon überzeugten, dass es keinen besseren, keinen lebenswerteren Ort auf der ganzen Welt gibt, als euer Björkendal. Durch ihn wusste ich, das Alvitur der klügste Mann von Norwegen ist, dass ihr hervorragende Handwerker, wie Steinar, wie Finnur oder Leifur habt. Durch ihn erfuhr ich, dass ihr eine Gemeinschaft seid, in der Niemand jemals einsam ist, dass hier nie Einer hungern muss, während die Anderen sich satt essen können. Im Buch meines Glaubens gibt es einen Ort, an dem die Menschen glücklich sind; man nennt ihn Paradies. Alle Menschen meines Glaubens träumen von diesem Ort. Ich glaube, dass ich diesen Ort hier bei euch gefunden habe.“
Er machte wieder eine kleine Pause und an der Tafel ging ein Geraune los, in dem laufend das Wort Paradies auftauchte.
Andreas schwenkte sein Trinkhorn in einem Halbkreis und sah aufmerksam in die Menge. „Ich trinke auf euch und auf uns!“ – und er führte sein Horn zum Mund, da hielt er inne. „Etwas Wichtiges habe ich doch noch vergessen zu erwähnen. Ernirs Worte sprachen auch von wunderbaren Kindern die ihr hier habt, von seinem Sohn, den ich schon kennen gelernt habe und von seiner geliebten Tochter, der ich auch schon in die Augen schauen durfte. Ich danke euch für eure Gastfreundschaft.“
Nun führte Andreas sein Trinkhorn wirklich zum Mund und nahm einen langen Zug vom Apfelwein.
Ganz hinten an der Wand, bei ihren Freunden saß Thurid und bekam bei den letzten Worten von Andreas schon wieder Herzklopfen. So, als ob er sie gerufen hätte, stand sie auf und suchte seinen Blick. Sie sah, dass Andreas sie auch bemerkt hatte. Ihre Blicke hielten einen kleinen Moment aneinander fest, dann trank Andreas noch einen Schluck und setzte sich wieder hin.
Etwas später setzte Sölvi sich zu seinen Freunden und brachte auch gleich etwas zum Essen mit. Sie schoben zwei Bänke herum und saßen nun als Gruppe zusammen.
„Falki und dein Vater werden also bald wieder hier sein, das hat der Andreas jedenfalls vorhin gesagt. Vielleicht noch ein, zwei Tage, dann ist Falki auch wieder bei uns.“
Sölvi hatte irgendwie das Gefühl Thurid trösten zu müssen. Sie sah abwesend und etwas traurig aus. Dass Alfger ständig einen Arm um Thurid hatte, gefiel ihm zwar überhaupt nicht, aber ändern konnte er es leider auch nicht.
Arnor platzte heraus: „Wenn der Mönch bei uns lebt, muss er ja auch mit uns arbeiten. Ich glaube, so wie der aussieht, wird er bestimmt in der Schmiede arbeiten wollen.“
„Das möchtest du wohl gerne, aber wenn er lieber Fischer sein möchte, oder Töpfer?“, warf Bjarki ein. „Er könnte ja auch bei uns töpfern. Wir brauchen ja immer wieder neue Krüge für den Wein und ständig Geschirr.“
So äußerte jeder in der Runde seine Gedanken und Vermutungen, verbunden mit dem Wunsch, den Fremden möglichst schnell kennen zu lernen.
„Ja, streitet euch mal richtig. Ich verwette drei Hühnereier, dass er ein guter Jäger ist und mit Ragnar unterwegs sein wird“, warf Alfger in die hitziger werdende Diskussion ein.
Thurid beteiligte sich nicht an dem Gedankenspielen der Freunde. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um Andreas’ Worte, „…ich glaube fast, ich bin deinetwegen hier gelandet.“
Sie spürte es richtig deutlich und fand Gefallen an diesem Gedanken, aber soviel sie auch nachdachte, ihr wollte nicht einfallen warum diese Worte in ihrem Gehirn umherkreisten.
Der Rest des Abends war für sie nur noch ein dumpfes Brummen in ihrem Kopf, das Stimmengewirr der anderen und ein unendliches Vollstopfen mit gebratenem Schweinefleisch.
Thurid fühlte, wie sie an der Schulter geschüttelt wurde.
„He, Kleines, wach auf. Die Sonne scheint. Du schläfst ja wie ein Bär im Winter. Hast du etwa zu viel Apfelwein getrunken?“
Thurid hatte Mühe die Augen auf zu bekommen. Dann gab sie sich einen Ruck und setzte sich auf.
„Mama, ich war nicht betrunken. Du weißt, dass ich das nicht mag. Ich war nur richtig voll von dem gebratenen Schwein.“
„Mädchen, meine Kleine, aber irgendwie kommst du mir krank vor. Fehlt dir etwas, tut dir was weh? Soll ich zu Fifilla gehen?“
Die Mutter fühlte nach Thurids Stirn.
„Hm, fühlt sich ganz normal an. Na gut, dann komm und iss etwas, und dann lass uns den Tag beginnen. Wir müssen heute noch ein paar Apfelbäume abernten, da ist also noch genug Arbeit. Gestern haben wir ja nicht viel geschafft.“
Thurid huschte vom Lager und machte sich frisch.
Beim Essen maulte sie etwas herum: „Ooch, ich habe aber keine Lust mehr auf Apfelernte, ich möchte lieber mal im Dorf rumgucken, wo der Andreas mitarbeitet.“
Von draußen rief Gerda nach Hilda und fragte, ob sie gleich käme.
Hilda ging zur Tür und wechselte ein paar Worte mit ihr.
Da hörte Thurid Gerda sagen: „Euer neuer Nachbar geht wohl auch zur Apfelernte. Schau mal dort läuft er.“
Flugs war Thurid an der Tür und sah nach. „Mama, ich glaube, ich komme doch mit euch. Ihr seid ja zu schwer für die Leitern, die brechen ja unter euch zusammen. Hi, hi.“
Das hatte Gerda gehört. „Na warte du kleines Biest, wir werden dich schon die Leiter hoch- und runter scheuchen, dass dir solche frechen Sprüche vergehen werden“, rief sie lachend.
Dann machten sich die drei Frauen auf den Weg zum Apfelhain.
Weit vor ihnen lief Andreas.
Am nächsten Morgen war Thurid ganz früh auf den Beinen. Sie wollte unbedingt eine Gelegenheit finden, sich Andreas zu nähern.
Als sie aus der Hütte trat war es noch dämmerig und dicke Wolken bedeckten den ganzen Himmel. Thurid schaute zur Mitte des Dorfes, wo noch leichter Nebel über dem kleinen Flüsschen waberte. Dann schaute sie sich erwartungsvoll um und empfand es als großes Glück, dass die Hütte, die Andreas bekommen hatte, nur einen Speerwurf südlich von ihrer Hütte stand.
Ihr Blick ging sofort dorthin, aber sie konnte nur ein Schemen sehen, weil der Nebel heute bis an die Hütten reichte.
Das wenige Gras war noch feucht und überall glitzerte der Tau.
Thurid genoss die Magie dieses Morgens, die Stille und den Nebel, der in den ersten Sonnenstrahlen leicht leuchtete und geheimnisvoll wirkte.
Leise und ständig um sich blickend, näherte sie sich der Hütte von Andreas.
Da drang das Gekrächze eines Raben an ihr Ohr. Sie kannte diese Laute gut. „Skyggi? Nein Skyggi saß ja noch in der Hütte, als sie sich leise hinaus schlich und sie hatte im Zeichen gegeben, leise zu sein und sitzen zu bleiben.“
Doch, da war er wieder der Ruf eines Raben und fast wie ein Echo, die Antwort eines zweiten Raben.
Thurid war plötzlich hellwach und merkte, wie sich ihre Nackenhärchen hoch stellten. Gleichzeitig bekam sie auf den Armen Gänsehaut und sie atmete tief ein.
Die Hütte von Andreas war immer noch in leichten Dunst gehüllt, aber auf den gekreuzten Dachbalken konnte sie jetzt zwei Schatten erkennen – zwei riesige Raben.
Ihr Herz begann wie wild zu klopfen, denn sie wusste sofort, welche Raben das waren.
Thurid blieb ganz still stehen und wagte kaum zu atmen, denn in diesem Augenblick trat Andreas aus der Hütte und als wenn sie ihn grüßen wollten, riefen beide Raben vom Dach, eine wahre Salve von Krächzern.
Thurid stand an einem der vielen kleinen Zäune, die es zahlreich im Dorf gab, damit das Geflügel oder die Schweine nicht ungehindert in jedes Haus laufen konnten. Sie machte sich ganz klein und achtete gespannt auf die Szene vor ihr.
„Der Nebel, die Raben, meine Gänsehaut – beobachten uns schon wieder die Götter?“, dachte sie bei sich.
„Warum spielen die immer ihre Spielchen mit uns? Warum kommen sie nicht einfach und sagen, was sie von uns wollen? Vielleicht rede ich nachher mit Alvitur oder Fifilla darüber.“ Ihre Gedanken kreiselten und sie schüttelte den Kopf.
Andreas stand auf dem Platz vor seiner Hütte und begann sich auf merkwürdige Art zu bewegen. Thurid hielt die Luft an und schaute wie gebannt zu. Er ließ seine Arme kreisen und als wenn sie darauf gewartet hätten, krächzten die Raben erneut.
Jetzt erst schien Andreas sie zu bemerken und er trat ein paar Schritte vor, drehte sich um und schaute hinauf zum Dachgiebel. Er hielt die Hand über die Augen, weil die Morgensonne ihn blendete.
„Gute Morgen ihr Zwei. Was krächzt ihr mich an? Wollt ihr mir etwas sagen oder war das nur ein Morgengruß? Egal was es war, ich grüße euch und wünsche euch eine guten Tag.“
Nun sah Thurid, dass Andreas ein Kettenhemd an hatte, so wie es Krieger im Kampf trugen.
Er ging kurz in seine Hütte zurück und stand sofort wieder vor der Tür, aber jetzt mit einem riesigen Schwert in der Hand.
Thurid stockte fast der Atem; dieser bescheiden aussehende Mann bewegte sich plötzlich wie ein gewandter Krieger, in allen erdenklichen Schritten und Sprüngen, um seine Hütte. Er führte dieses riesige Schwert mit einer Schnelligkeit und Wucht; so etwas hatte Thurid noch nie gesehen. Eben vollführte er noch einen Hieb von oben herab, dann stach er schon wieder in einem überraschendem Ausfallschritt zu, rollte sich auf die Seite und stand blitzschnell wieder auf den Beinen. Auch sein Gesicht war jetzt das eines entschlossenen Kämpfers.
„Wer war dieser Mönchs-Krieger, der sich so blitzschnell bewegen konnte und doch in einer einfachen Kutte daherkam und bescheiden zu Boden blickt? Andreas, wer bist du? Was will so ein kraftvoller, starker Kämpfer in unserem langweiligen Dorf? Aber er blickte mich so gütig an und ich habe doch gespürt, dass er ein gutes Herz hat“, brodelte es in ihrem Kopf.
Nein, da war noch etwas, denn sie hatte auch großen Schmerz in ihm gespürt, grübelte sie weiter. Sie konnte nicht anders, als ganz gespannt alle Übungen mit den Augen zu verfolgen. Dabei wagte sie kaum Luft zu holen oder sich zu bewegen.
Andreas hielt inne und Thurid sah die Schweißperlen, auf seiner Stirn, im Sonnenlicht glänzen. Er atmete jetzt stoßweise. Mit gesenktem Kopf ging er langsam in seine Hütte zurück und sprach dabei leise mit sich selbst.
Die Worte konnte Thurid nicht verstehen. Sie waren in einer anderen Sprache, aber sie wusste plötzlich, dass das Beten war.
Da erschien Andreas erneut vor der Tür, und wie ein Wunder, sein Gesicht war wieder freundlich und genau der Stelle zugewandt, wo sich Thurid hinter dem Zaun versteckte.
Die beiden Raben, die die ganze Zeit Andreas bei seinen Übungen still zugeschaut hatten, flogen mit lautem Gekrächze auf und verschwanden im Morgenhimmel.
„Ich glaube, da sitzt jemand hinter dem Zaun und möchte mir eigentlich Guten Morgen sagen.“
Andreas blieb stehen und lachte nun über das ganze Gesicht.
„Ich weiß wer das sitzt. Du bist die Thurid, das Mädchen mit den strahlenden Augen. Warte nur einen kleinen Moment. Ich will mich nur im Fluss etwas frisch machen, dann kannst du mit mir zusammen Essen. Ich habe einen Bärenhunger.“
Thurid war ganz verdutzt, glaubte sie doch, dass sie sich gut versteckt hatte und auch still wie ein Mäuschen gewesen war.
Sie stand auf und lächelte verlegen. „Guten Morgen, Andreas. Ich, ich, … ich mache das eigentlich nie, andere Leute so zu beobachten. Entschuldige, aber der Morgen war schon sehr merkwürdig.“
„Ist ja schon gut. Ich bin nicht gekränkt, aber was war hier denn merkwürdig?“
Thurid machte große Augen. „Na du hast doch die Raben gesehen, die auf deinem Dach saßen. Du hast sie ja begrüßt.“
„Ja, das habe ich. Warte nur einen Moment, ich bin gleich wieder hier.“ Mit schnellen Schritten lief Andreas zum Flüsschen.
Dort zog er sich nackt aus und tauchte sofort im kalten Wasser unter.
Der Nebel war inzwischen verflogen und Thurid konnte seinen Körper genau betrachten.
Thurid zog plötzlich die Unterlippe zwischen ihre Zähne und biss drauf; dort wusch sich ein Krieger, der sehr viele Kämpfe durchgestanden hatte. Thurid sah, dass bei Andreas kaum ein Körperteil ohne Narben war.
In ihrem Hals stieg etwas hoch; Mitgefühl, Ehrfurcht und auch die Frage: „Wie kann man nach so vielen Kämpfen, bei so tiefem Leid, dass sie ihm gespürt hatte, noch so lächeln und solch eine Güte ausstrahlen?“
Thurid wusste, dieser Mann ist kein Blender. Seine Bescheidenheit und seine Güte waren wahrhaftig.
Sie stand noch immer an dem kleinen Zaun und sah, wie Andreas das kühle Wasser sichtlich genoss, da kam ihr eine Blitzidee, und schon sauste sie los. Es waren ja nur wenige Schritte mit ihrem Sprint.
Obwohl die Sonne schon richtig schien, umfing sie in der Hütte wieder das übliche Halbdunkel und die Stimmer der Mutter: „Thurid, was heckst du grade wieder aus? Erst schleichst du dich wie eine Katze aus dem Haus und nun kommst du wie Wolf zurück gerannt?“
„Ach Mama, ich mache doch nichts Böses, aber es ist mir wichtig. Ich brauche ganz schnell etwas zum Essen“, und schon begann Thurid in den Vorräten nachzuschauen.
„Ganz sicher ist es dieser Andreas, für den du etwas zum Essen suchst. Ich habe ja mitbekommen, wie du ihn angeschaut hast, wie du um ihn herumschleichst. Na ja, er scheint ein guter Mensch zu sein, denke ich mal. Seine Augen strahlen Güte aus. In dem Korb dort, liegt noch etwas von dem gestrigen Schweinebraten, nimm davon mit und guten Appetit, euch beiden.“
„Danke, Mama.“ Schnell war der Braten eingepackt und noch zwei Eier, etwas Brot und ein Krug mit verdünntem Apfelwein.
Thurid sauste wieder zurück und kam genau in dem Moment an, als Andreas vor seiner Hütte anlangte. Nun sah Thurid ganz deutlich die Spuren der vielen Kämpfe, die Andreas ausgefochten hatte.
„Warum hat er so viel gekämpft?“, ging es ihr im Kopf herum.
Andreas sah ihre Blicke, lächelte etwas verlegen und legte ihr dann einen Arm um die Schulter. „Nach und nach werde ich dir alles erzählen, weil ich glaube“, … Da brach der mitten im Satz ab und schaute Thurid direkt in die Augen, dass ihr ganz komisch wurde.
Sie spürte so etwas wie ein Tasten seines Geistes, etwa so, als wenn sie einen anderen Menschen mit ihrem besonderen Sinn ergründen wollte.
„Je öfter ich dir in die Augen schaue und höre, was du sagst und sehe, wie schnell du reagierst, je mehr glaube ich wirklich, dass ich hier ganz richtig angekommen bin. Da ist doch Essen in deinem Korb, oder irre ich mich?“
„Nein, du irrst nicht. Du hast ja vorhin gesagt, dass du einen Bärenhunger hast und da wir Nachbarn sind und du noch nicht so viel in deiner Hütte hast, möchte ich dir etwas abgeben. Na ja und ganz viel fragen möchte ich dich auch.“
Das Letzte kam nur aus ihr heraus, weil sie sah, wie Andreas Augenbrauen hoch gingen und er sie eindringlich ansah.
„Komm rein und lass uns zusammen essen. Mal sehen was du da mitgebracht hast. Ganz arm bin ich ja nicht, denn vom gestrigen Fest habe ich auch einige Reste mitnehmen dürfen. Komm rein, ich bin auch schon ganz auf dich gespannt“ – und Andreas schob Thurid mit sanftem Druck in seine Essecke, wo zwei Schemel standen. Zusammen mit dem, was Andreas noch auf den Tisch stellte, war es ein üppiges Mahl und beide langten kräftig zu.
Als sie mit dem Essen fertig waren und Andreas den Becher Apfelwein sichtlich genossen hatte, schaute er Thurid wieder wie vorhin in die Augen und sagte: „Ich ahne ja, was du hören willst, und ich will dir auch von mir erzählen.“
Er erzählte so viel, dass es in Thurid Kopf zu schwirren begann: Aufgewachsen im Frankenland, an einem schönen Fluss, mit Namen Rein.
Sie waren drei Brüder. Der ältere erbte das Land und die vielen Leibeigenen.
Thurid überlegte: „Was waren denn Leibeigene?“
Er und sein jüngerer Bruder Martin mussten ins Kloster gehen, wurden Mönche und schließlich Ritter des Ordens. Sie kämpften mit dem Schwert für ihren Glauben, aber Andreas merkte irgendwann, dass an ihrem Kampf etwas oberfaul war.
Sie missionierten die Menschen mit dem Schwert; wer sich nicht beugte, nicht taufen ließ – Kopf ab.
Ein kleines Kind, das ihn mit großen Angst erfüllten Augen ansah und fragte: „Warum macht ihr das? Hat dir dein Gott gesagt, dass du meinen Vater töten sollst?“, brachte ihn letztendlich zum Nachdenken.
Martin blieb bei dem Orden, weil er sich seinem Eid mehr verpflichte fühlte, als seinem Gewissen.
Aber der Eid war falsch, denn nirgendwo in der Bibel befiehlt Gott die Andersgläubigen zu töten und ihren Besitz zu rauben.
Er wollte nicht mehr töten, aber vor allem nicht mehr in die Augen dieser Menschen sehen, die sie „tauften“ sollten.
Thurid rief plötzlich: „Andreas halt ein, das verstehe ich alles nicht. Mir schwirrt ja schon der Kopf. Ich weiß nicht, was das für ein Fluss ist, dieser Rhein. Was ist die Bibel, oder das Taufen?“
Andreas lächelte. „Ich denke, wir werden noch viel Zeit miteinander verbringen und ich werde alle deine Fragen beantworten.“
Nach einer kleinen Pause, in der er Thurid intensiv in die Augen schaute, fuhr er fort: „Lass es mich kurz zu Ende bringen, dann kannst du mich alles fragen.
Ich verließ also diese Truppe. Ich desertierte und wenn sie mich erwischt hätten, würden sie mich aufgehängt haben. Mir blieb bloß eine Weg offen, nach Norden, ins Land der Barbaren oder Heiden, wie sie euch oft nannten. Dann landetet ich irgendwann in Haithabu und lernte deinen Vater kennen. Ich habe selten einen so großzügigen und freundlichen Händler gesehen. Wir tranken manchen Becher von eurem köstlichen Apfelwein und aus Ernirs Erzählungen wusste ich, wie ihr hier lebt und in mir wuchs der Wunsch, hier bei euch leben zu dürfen. Mit diesen Gedanken im Kopf, trieb ich mich mehrere Monate in der Nähe von Haithabu herum, beschützte Händler und buckelte auch ihre Waren im Hafen. Dann, vor etwa einem Monat, traf ich deinen Vater ein zweites Mal und auch deinen Bruder, Falki. Er ist ein ganz toller Junge und beide haben mir von dir erzählt. Aber ich kannte auch andere Leute aus eurem Volk, Dänen und Schweden. Die auf Wikingfahrten waren, die mit dem Wort Odin auf ihren Lippen anderen Menschen Verderben brachten, sie ausraubten und selber in den Tod rannten. Ich weiß aber auch soviel von ihnen, dass es nicht der Glaube war, der sie zu solchen Fahrten antrieb, sondern Abenteuerlust und die Gier nach Reichtum und Ruhm. Überall in der Welt läuft es nach den gleichen Gesetzen ab; die Reichsten sind die Mächtigsten und befehlen dem Volk für sie zu morden, damit sie noch mächtiger und noch reicher werden. Ich wollte und konnte das nicht mehr mitmachen. Der Glaube war für die, die uns befohlen haben, immer nur ein Vorwand, denn sie kannten niemals Gnade oder wirkliches Mitgefühl für den Nächsten. Ihr hier in Björkendal und noch einige andere, abgelegene Dörfer, ihr seid wohl die einzigen Menschen, die noch in wirklicher Freiheit leben können und würdevoll miteinander umgehen. Ernir hat soviel von euch erzählt und auch Falki von eurer Kindheit, dass ich mir dachte, mit euch zu leben ist das wahre, lebenswerte Leben. Mein Gott möge mich strafen, aber ich konnte nicht länger den Befehlen des Ordens folgen und in seinem Namen Unrecht tun. Jesus, Gottes Sohn, ein Mann, für den ich sofort mein Leben geben würde, hat mit keinem Wort gesagt, dass wir das tun sollen, was ich jahrelang getan habe.“
Andreas’ letzte Worte kamen stockend über seine Lippen und er hielt sich plötzlich die Hände vor das Gesicht, aber Thurid sah doch Tränen in seinen Augen glitzern.
Einen Moment lang war Stille in der Hütte, dann legte Andreas ganz langsam eine Hand auf Thurids Hand, schaute sie an und sagte mit einem Lächeln: „Ich werde bei euch bleiben und einer von euch werden. Thurid, dir möchte ich gerne etwas beibringen, dass deinem wachen Geist angemessen ist, lesen und schreiben!“