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EIN BESONDERER TAG

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Ein Hahn krähte aus Leibeskräften, als die ersten Sonnenstrahlen Björkendal erreichten.

Hilda erwachte langsam, aber schon im Halbschlaf spürte sie, dass irgendetwas anders war. Sie erschrak leicht, weil sie glaubte, im Schlaf Pipi gemacht zu haben.

Erschrocken richtet sie sich ganz leise auf, um ja keinen zu wecken und schlich sich im Halbdunkel zur Feuerstelle. Vorsichtig und leise blies sie in die Glut und legt ein paar Holzspänchen auf. Mit leisem Knistern züngelten die erwachten Flämmchen nach dem frischen Holz, wurden schließlich größer. Hilda mochte den Geruch des brennenden Holzes, nur nicht wenn ihr der Qualm direkt in die Augen biss, so wie jetzt, dass Tränen liefen.

Im schwachen Schein des kleinen Feuers blickt sie an sich hinunter und erschrak – ihr Hemdchen ist voller Blut.

Sie hat sich doch gar nicht verletzt. Nun bemerkte sie auch das Bauchweh, das sie erst gar nicht wahrnehmen wollte. Jetzt schaut sie etwas ängstlich drein und wusste nicht so recht, was sie machen sollte.

Da hört sie Mutter Stimme: „Was ist los, meine kleine Sonne? Komm zu mir. Hattest du einen bösen Traum?“

Hilda ging etwas beschämt auf die Mutter zu. „Nein, kein böser Traum. Mama, ich blute und habe Bauchweh. Aber ich hab nichts Schlimmes gemacht, „kam es ihr weinerlich über die Lippen.

Mutter Hilda wusste sofort, was da mit ihrer Tochter geschehen war und richtete sich vollends auf. „Komm zu mir, meine Kleine.“

Sie nahm Hilda in ihre kräftigen Arme und drückt sie lange. Dann streichelt sie Hilda über das Haare, fasste ihre Zöpfe und dreht ihre Kopf, so dass sie ihr in die Augen schauen konnte.

„Du musst dich nicht sorgen, mein Sonnenschein. Das, was dir da grade passiert, ist ganz normal. Jedes Mädchen erlebt das irgendwann zum ersten Mal.“

Sie schaute Hilda in die Augen, drückte sie wieder an sich und flüsterte geheimnisvoll: „Nun bist du keine kleine Hilda mehr, jetzt bist du eine kleine Frau geworden und ich bin stolz auf dich. Das wird vielleicht ein paar Tage lang etwas wehtun, aber das geht vorbei. Alle Frauen haben das, meistens im Wechsel mit dem Mond. Sorge dich nicht, es ist in Ordnung und es muss sogar so sein.

Nimm etwas von dieser Wolle hier. Ich zeige dir, wie du das machst und dann gehst du zu Fifilla, die wird dir ein paar Kräuter zeigen, die dir jeden Monat helfen können, das kleine Übel leichter zu ertragen.“

Fast gleichzeitig tönen nun Ernirs und Falkis Stimme durch das Halbdunkel der Hütte: „Was ist denn los?“

Falki stöhnte mit leidender Stimme: „Buäää, nicht mal ausschlafen kann man hier. Ich bin noch sooo müde.“

„Kommt hoch ihr Faulpelze, der neue Tag wartet auf euch und eure kräftigen Arme. Nichts ist los, nur etwas Frauenkram. Kommt raus aus den Fellen und beschafft etwas zum Essen“, rief Mutter Hilda, öffnete die Tür und ließ die frische Morgenluft hinein. Sie nahm sich die zwei Wassereimer, das Tragejoch und ging sie zum Bach, Wasser zu holen.

Hilda hat sich inzwischen so mit der Wolle versorgt, wie es ihr die Mutter erklärt hatte.

Als Mutter Hilda mit den Wasser zurück war, macht sie sich rasch frisch und sagte: „Ich gehe jetzt mal zu Fifilla.“

„Ja, kleine Frau, geh nur“ – und die Mutter streichelte ihr noch einmal über den Kopf.

Trotz des Bauchwehs strahlte Hildas Gesicht. „Jetzt war sie eine Frau“, freute sie sich und fühlte sich gleich viel besser.

Mit hoch erhobenem Kopf lief sie stolz durch das Dorf, in Richtung Fifillas Hütte. Niemand begegnete ihr zwischen den Hütten, niemand, dem sie sagen konnte, dass sie nun eine Frau geworden war und das fand sie doof.

Vor Fifillas Hütte, verhielt sie und lauschte erst mal, aber nichts rührte sich. Doch dann traut sie sich und klopfte an. Gleich darauf rief Fifilla: „Komm rein.“

Hilda macht die Tür etwas zaghaft auf und staunt dann aber nicht schlecht, dass Fifilla schon gemütlich beim ersten Essen saß und dabei nicht alleine war. Mit vergnügtem Lächeln saß Sigudur neben ihr und löffelt genüsslich seinen Brei.

Fifilla war eine erfahrene Kräuterfrau, die auch jeden im Dorf und seine Wehwehchen, ausgezeichnet kannte. Sie schaut die kleine Hilda aufmerksam an und ahnt sofort, warum Hilda so früh am Morgen zu ihr gekommen war. Als Hilda auch noch mit den Worten zögert und etwas beschämt in Sigudurs Richtung guckt, war sich Fifilla ganz sicher und stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Rippen. Sie schaut ihn grinsend an und sagte: „Geh mal zu deinen Viechern, die haben auch Hunger. Wir haben jetzt ein wichtiges Frauengespräch zu führen, stimmt’s, Hilda?“

Hilda nickt erleichtert und lächelt. Sie war froh über Fifillas Klugheit und dass sie es ihr auf diese Art leichter machte.

Sigudur hatte es aber überhaupt nicht eilig und löffelte in aller Seelenruhe seine Schüssel leer. Dann grinste er die beiden Frauen mit einem Lächeln an, das sicher nur Fifilla richtig deuten konnte, nahm sich noch einem Apfel vom Tisch und verließ, nur mit einem Hemd bekleidet, immer noch grinsend, die Hütte.

Da musste auch Hilda lächeln und Fifilla deutet auf dem Platz neben sich und sagt: „Setzt dich und erzähle. Wann hat es angefangen?“

Hilda machte große Augen. „Was, wieso weißt du, das etwas angefangen hat?“

„Ach Mädchen, ich bin schon ziemlich lange eine Frau, ich weiß wie alt du bist, war ja dabei, als du auf die Welt kamst und ich weiß auch, was einem Mädchen in deinem Alter so plötzlich passieren kann. Du bist eine kleine Frau geworden. Richtig?“

„Ja, Fifilla. Heute Morgen habe ich es das erste Mal gespürt und der Bauch tut mir immer noch weh. Mama sagt, dass du ein Kräutlein weißt, das mir helfen kann.“

„Natürlich kann ich dir mit ein paar Kräutlein helfen. Ich gebe dir jetzt ein paar getrocknete, die du heute als Tee trinken musst. Dann wird dein Bauchweh nachlassen. Morgen, nach dem ersten Essen kommst du wieder zu mir und wir gehen gemeinsam über die Wiesen. Ich zeige dir dann, wo diese Kräuter wachsen, damit du sie dir immer selbst suchen kannst und ich meinen kleinen Kräutergarten nicht plündern muss.“

Fifilla machte sich an ihren Kräuterbeuteln zu schaffen, die in langen Reihen von der Decke herabhingen und suchte für Hilda die richtigen Kräuter zusammen.

Hilda schaute neugierig zu. „Ich glaube, das da kenne ich, das ist Schafgarbe.“

„Stimmt, du kluges Mädchen, und das andere Kraut heißt Frauenmantel. Morgen suchen wir sie gemeinsam. Das hier reicht erst mal für heute. Mache dir zweimal einen Becher Aufguss davon und trinke ihn.

Hilda, noch etwas. Ich glaube, dass Alvitur dir heute noch etwas Wichtiges mitteilen möchte. Ich werde auch bei Alvitur sein, wenn du kommst. Gehe also nicht weg, bleib in der Nähe eurer Hütte.“

„Was ist denn an mir so wichtig“, fragte Hilda ganz verdutzt.

„Als du geboren wurdest, war es genau so ein Tag wie heute, Frühlingssonne und massenhaft Gänseblümchen …“

Versonnen schaute Fifilla in Hildas Augen. „Dieser Tag war etwas Besonderes; du wurdest von Freya gesegnet.“ Und nach einer kleinen Pause: „So, nun geh schon.“

Erleichtert, aber auch etwas nachdenklich machte sich Hilda wieder auf den Heimweg. „Von Freya gesegnet“, gingen ihr Fifillas Worte durch den Kopf, und plötzlich fiel ihr der Traum ein, als Freya zu ihr sprach, damals als sie Skyggi ausgebrütet hatte. Jetzt sprangen ihr auch die vielen tausend Gänseblümchen fast ins Auge, die sich so plötzlich, überall der Morgensonne entgegen reckten.

„Gänseblümchen, das waren ja die Blumen der Göttin Freya und Freya hatte sie gesegnet?“ Sie empfand plötzlich Glück und machte ein paar Hüpferschritte, wie sie die kleinen Kinder machten.

„Na ja, etwas anders, als die meisten Mädchen bin ich schon“, dachte sie. „Ich spiele lieber mit den Jungen, habe einen Raben und habe sogar einen Troll als Freund. Hm, aber das mit dem Troll wissen ja sowieso nur Falki, Alfger und Sölvi.“

Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da flatterte es über ihren Kopf und Hilda rief erfreut: „Skyggi, wo kommst du denn her?“ Sie hielt ihm die Hand hin, damit er sich setzen konnte.

Skyggi ließ ein leise „Orr, orr“ ertönen und ließ sich auf ihrer Hand nieder.

„Du alter Flattervogel, damit du es weißt, ich bin jetzt eine Frau und jetzt hast du mir erst recht zu gehorchen!“

Skyggi legte den Kopf etwas schief und sah sie so an, als verstünde er, was Hilda ihm grade gesagt hatte.

„Skyggi, flieg nach Hause und sag der Mama, dass ich komme und großen Hunger habe.“

Der Rabe drehte wieder den Kopf hin und her und hielt ihr dann seinen Kopf hin. Hilda wusste, Skyggi wollte jetzt gekrault werden. Sie tat ihm den Gefallen und es freute sie, wieder zu spüren, wie wohl sich Skyggi dabei fühlte.

„So, nun flieg nach Hause“, und Hilda hob die Hand ganz schnell hoch. Skyggi flatterte auf und flog davon.

Als Hilda zu Hause ankam, saß Skyggi schon auf dem Dachkreuz und kündete ihr Kommen mit lautstarkem Gekrächze und Flügelflattern an.

Einen Augenblick später kam Falki um die Hausecke und mit einem breiten Grinsen begrüßte er seine Schwester: „Guten Morgen Hilda.“

Hilda stutzte. „Warum grinst du mich so an? Hast du einen Schabernack vor?“

„Nein, Schwesterchen, aber heute gibt’s etwas besonders Gutes zum Essen, und du darfst es dir aussuchen! Da darf ich mich doch freuen, oder?“

Ein kurzes Flattern in der Luft und Skyggi saß wieder auf Hildas Schulter. Jetzt lachte sie. „Wenn Skyggi etwas vom Essen hört, ist er gleich da; hi, hi, wie Arnor.“

Hilda fühlte sich plötzlich irritiert und fragte mit hochgezogenen Brauen: „Falki, was starrst du mich so an? Habe ich Dreck im Gesicht?“

„Hmm, nein, aber ich habe gedacht, dass du nun als Frau irgend wie anders aussiehst. Die Mutter hat mir eben gesagt, dass du nun eine Frau bist. Spielen wir nun nicht mehr zusammen? Darf ich jetzt nicht mehr an deinen Zöpfen ziehen?“

„Doofkopf, wir machen alles wie immer. Du machst deine Arbeiten, ich meine und wenn wir Zeit haben, machen wir alles zusammen, wie immer.“

„Genau so dachte ich es mir“, grinste Falki und machte die Tür auf.

Hilda gab ihrer Mutter die getrockneten Kräuter und erklärte: „Hier das muss ich jetzt immer als Tee trinken, hat Fifilla gesagt. Ich will mal gleich damit anfangen. Mama ist heißes Wasser da?“

„Na klar, geh nur an den Kessel und nimm dir davon. Ich wusste schon, was du für Kräuter mitbringen würdest.“

Falki nuschelte in das Frauengespräch: „Gibt’s hier heute nichts mehr zu Essen? Mein Bauch knurrt.“

„Nimm dir Brei und Trockenfisch und beeile dich. Falki, da steht auch noch gekochtes Gemüse. Du musst heute mit deinem Vater und ein paar anderen zusammen zum Fischen. Sie brauchen euch heute und abends gibt’s dann was Feines zum Essen.“

Falki zog ein langes Gesicht; Fischen war nicht seine Lieblingsarbeit. Dann setzte er sich an den Tisch, aß Brei mit Trockenfisch und Hilda bereitete ihren „Frauentee“ zu. Natürlich machte sie das mit ernster Mine, der Wichtigkeit dieses besonderen Tages angemessen.

Mutter Hilda lächelte verstehend in sich hinein und fragte: „Töchterchen, was wollen wir denn heute Abend zur Feier des Tages essen? Du darfst wählen.“

„Mama, wirklich? Dann möchte ich gerne Zwiebelsuppe essen und gebratenen Fisch und süßen Brei mit Äpfeln und …“

„Aufhören, das reicht“, rief Mutter Hilda sie unterbrechend. „Ich werde zusehen, dass ich alles zu deiner Zufriedenheit bis heute Abend auf den Tisch bekomme.“

An Falki gewandt, sagte sie: „Beeile dich, Vater ist schon weg. Geh zu Finnur. Ihr fahrt mit im zusammen und mit Egill.“

Falki leckte sich noch die Lippen und sprang auf. „Na dann macht’s mal gut ihr beiden Schönheiten. Habt ihr einen Wunschfisch, den ich für euch fangen soll?“

„Na klar, haben wir einen Wunschfisch. Fang uns einen knurrenden Quallenhai, aber einen schönen, saftigen – hihi“, gluckste Hilda.

Falki grinste noch einmal: „Na klar kriegt ihr den“, und schon, war er zur Tür hinaus.

Mutter Hilda griff ihre Tochter bei den Armen und fragte: „Hat Fifilla noch etwas gesagt?“

„Ja, sie hat gesagt, dass Alvitur heute bestimmt noch mit mir sprechen will, und sie glaubt, dass es wichtig sei.“

„Ich erinnere mich an deine Geburt und an Alviturs Worte kurz danach. Ja, ja, ich glaube auch, dass es ihm wichtig ist. Er wird bestimmt Sölvi herschicken um dich zu holen. Kannst dir also heute einen schönen, faulen Tag machen.

Aber da es noch früh am Tage ist, kannst du vorher noch die Hühner füttern und dann noch Wolle von Sigudur abholen.“

„Mama, Sigudur war heute früh schon zum Essen bei Fifilla und der saß da, nur im Hemd und grinste mich ganz komisch an.“

„Vielleicht hat Sigudur sich gefreut, dich zu sehen, und im Hemd herumzusitzen, ist ja nichts Schlimmes, oder?

Ich weiß schon, was du denkst; ja, die beiden mögen sich und manchmal mögen sie sich auch sehr und dann essen sie eben auch schon früh zusammen, weil Sigudur die Nacht bei Fifilla verbracht hat.“

Die Sonne war schon über ihren Mittagszenit hinaus und Hilda trank ihren zweiten Frauentee, wie sie ihn im Gedanken nannte, da kam Sölvi zur Tür herein.

Skyggi nutzte die Gelegenheit, flog ihm nach, in die Hütte und setzte sich zu Hilda und tat mit wildem Flattern kund, dass er Hunger hatte.

Hilda schob ihren Krug mit dem Rest des Tees zur Seite und lächelte Sölvi an. Sie mochte ihn. Er war feinsinniger als die anderen Jungen und nie bösartig oder hinterhältig. Sölvi war außerdem auch klug. Wenn Alfger nicht wäre, dann würde sie bestimmt Sölvi so mögen, so wie sie Alfger jetzt mochte.

Es stand noch etwas Brei, Gemüse und Trockenfisch auf dem Tisch und Hilda frage: „Sölvi, magst du noch etwas essen?“

„Eigentlich habe ich schon gegessen, aber wenn ich hier bei dir etwas esse, kann ich noch ein Weilchen länger bei dir sitzen.“

Sölvi lächelte Hilda etwas schüchtern an. Er war immer etwas befangen, wenn er alleine mit ihr war. Er mochte sie sehr und wenn sie ihn direkt in die Augen schaute, durchrieselte ihm stets ein sehr merkwürdiges, aber schönes Gefühl.

Als Sölvi mit dem Essen fertig war und schaute er Hilda an, aber diesmal direkter und fragend, bis Hilda wegschaute und ihn dann fragte: „Was ist, sollst du mich holen?“

„Ja“ – und mit heiserer Stimme fügte er hinzu: „und Fifilla ist auch schon da. Die beiden haben eine ganze Weile nur über dich geredet. Ich hab ja nicht viel verstanden, weil sie mich rausgeschickt haben, aber so viel steht fest, du bist eine ganz wichtige Person!“

Dann schaute Sölvi sie mit verschwörerische Mine an und ergänzte: „Ich glaube, Alvitur meint, dass du Ragnarök, also das Göttersterben verhindern kannst!“

Stumm, abwartend schaute er Hilda direkt in die Augen.

„Quatsch, du hast dich bestimmt verhört, ich doch nicht, oder soll ich das mit meinem Raben machen? Ich bin doch nur ein normales Mädchen, nichts Besonderes, keine Kriegerin, keine Heldin und keine Zauberin.“

„Na ja, so richtig habe ich es ja auch nicht verstehen können, aber du warst im Gespräch und Ragnarök hat er auch gesagt und Fifilla hat immer genickt.“

Sölvi schaute plötzlich etwas verlegen drein und fast flüsternd sagte er: „Aber eine Zauberin bist du sehr wohl. Ich …“ Er zögerte plötzlich, lief rot an und sprudelte dann sehr schnell heraus: „Komm, lass uns gehen, sonst zieht er mir die Ohren lang. Sie warten beide schon auf uns.“

Sölvi stand auf und zog die etwas verdutzt Hilda auf die Füße.

Auf dem Weg zu Alviturs Hütte, liefen sie quer durch das Dorf und sahen, dass viele gerade ihr Tagwerk begannen. Alfger lief ihnen in einiger Entfernung über den Weg, aber in Richtung Bootsanlegestelle. Als er sie sah, winkte er und steuerte gleich auf sie zu.

„Guten Morgen meine schöne Hilda, guten Morgen Sölvi. Wo wollt ihr den so eilig hin?“

Hilda schaute Sölvi fragend an und der zeigte zu Alviturs Hütte: „Alvitur hat Hilda rufen lassen. Er muss mit ihr reden. Hilda ist jetzt eine Frau!“

Seine ernste Miene sollte wohl die Wichtigkeit seiner Worte unterstreichen und Hilda wurde bei Sölvis letzten Worten rot. Sie fühlte sich in diesem Moment irgendwie komisch und schaute Alfger von unten her schräg an.

Alfger jedoch grinste Hilda frech an. „Hmmm, na dann mag ich jetzt eben die Frau Hilda und nicht mehr das Mädchen.“

Alfger stellte sich in Positur, reckte die Brust: „Und ich, bin ich schon eine Mann?“

Da lachten alle drei und Alfger tat wichtig: „Jetzt muss ich mich aber beeilen. Ich muss zum Fischen mitfahren, aber wenn ich ein richtiger Mann bin, dann wirst du meine Frau. Das kannst du Alvitur schon sagen. Er soll mal schon die Zeremonie vorbereiten!“

Dann grinste er und schoss wie der Blitz davon, in Richtung Strand.

„Angeber“, murmelte Sölvi und sein Gesicht war plötzlich nicht mehr ganz so fröhlich, als ihm bewusst wurde, was Alfger so lustig dahergesagt hatte. Er wusste ja, dass Alfger seine Worte wirklich ernst meinte.

Schade, dass Hilda nie sein Mädchen, seine Frau sein würde. Er mochte sie wirklich und würde alles für sie geben.

Hilda schaute immer noch Alfger nach, als Sölvi sie an der Hand ergriff und mit sich zog.

Kurz danach standen sie vor Alviturs Hütte und als Sölvi die Tür öffnete, beschlich Hilda ein merkwürdiges Gefühl. Sie ahnte, dass heute etwas besprochen werden sollte, dass für ihre Schicksal große Bedeutung haben würde.

Aber Alviturs Hütte mochte sie; hier gab es für sie immer etwas zu entdecken. Seine Wände und alle Ecken waren voll mit Gegenständen, die er aus der weiten Welt mitgebracht hatte.

In einer Ecke hingen Waffen und ein prächtiger Schild, wie sie hier nicht üblich waren und alles sah fremdartig aus. Hilda war fasziniert, konnte ihren Blick kaum abwenden und vergaß fast, weswegen sie hier waren. Doch dann zähmte sie ihre Neugier und wandte sich Alvitur zu.

Alvitur war Hildas Blicken gefolgt und sagte unvermittelt: „Ja, ich war nicht immer so ein alter Mann und ich konnte auch sehr gut mit diesen Waffen umgehen.“

Dann schaute er sie direkt an. „Kommt setzt euch zu uns. Hilda, du musst keine Angst haben. Es ist nichts Schlimmes passiert, obwohl das, worüber ich mit dir reden will, schon ein ernstes Thema ist. Es betrifft dich, aber auch uns alle, doch insbesondere geht es um dein Schicksal.“

Wenn Alvitur so dasaß, war Hilda jedes Mal beeindruckt, egal ob er seine Geschichten erzählte, oder wie jetzt, ernsthaft mit ihr redete.

Alvitur konnte sie mit seinem einzigen Auge so ansehen, dass sie sich plötzlich ganz klein fühlte und auch jetzt ging ihr sein Blick bis in die Zehen.

Die Stelle, wo einmal das andere Auge war, hatte er heute mit einem roten Band überdeckt, das er um den Kopf gebunden trug. Gleichzeitig spürte sie aber auch, dass sein Gesicht voller Güte strahlte und ihr wurde wieder wohler.

Sie fand, dass Alvitur ein edles Gesicht besaß, in dem nur das Leben deutliche Spuren hinterlassen hatte. In ihren Augen machte ihn das aber nicht alt, nein er wirkte auf Hilda eher wie etwas Großes, Strahlendes, fast wie ein Gott.

Gemütlich saß er auf seinen Fellen und sah Hilda freundlich, aber auffordernd in die Augen. Er deutete auf den Platz rechts neben sich und sagte an Sölvi gewandt: „Hole mal noch zwei Becher für euch und setz’ dich dann zu uns. Da du mein Nachfolger sein wirst, solltest du auch wissen, worum es hier heute geht. Sölvi, dir muss aber klar sein, dass das, was wir jetzt bereden, unter uns bleibt. Ich denke, du wirst das verstehen.“

Alvitur nahm seinen Becher in die Hand und deutete mit dem Kopf auf den Krug, der auf dem Tisch stand. „Fifilla hat mir meinen geliebten Tee zubereitet. Für meine alten, schmerzenden Knochen ist er die beste Medizin, aber er wird euch beiden auch schmecken, wenn ihr etwas Honig in den Becher macht und er nickte den jungen Leuten einladend zu.“

Hilda schnüffelte an dem großen Krug und sog den Duft genießerisch ein.

„Das riecht ja wirklich gut. Fifilla, woraus hast du den Tee gemacht? Ich kann Holunderblüten riechen.“

Fifilla lächelte anerkennend. „Hilda, deine Nase riecht richtig, aber es sind auch noch Birken- und Brennnesselblätter im Tee.“

Nachdem sich Hilda und Sölvi etwas Tee eingegossen und auch vom kostbaren Honig genommen hatten, schloss Alvitur einen Moment lang sein Auge.

Er nahm einen Schluck aus dem Becher und begann: „Hilda, seit langer Zeit weiß ich, dass du für uns und für unser ganzes Volk, eine wichtige Rolle spielen wirst. Das Jahr, in dem du geboren wurdest, war schon bedeutungsvoll. Es war das Jahr, in dem nämlich Olaf Tryggvason König von Norwegen wurde. Vielleicht haben es die Götter so gelenkt, dass du als ein Gegengewicht zu seinem verräterischen Tun geboren wurdest. Es ist dein Schicksal, dass du in der besonderen Gunst unserer Götter stehst. Bei deiner Geburt wurde mir offenbart und auch später erhielt ich genügend Hinweise, die mir immer wieder deutlich machten, dass du irgendwann das Zünglein an der Waage sein kannst.“

„An welcher Waage?“, platzte Hilda heraus. „Ich bin doch kein Zünglein. Ich bin Hilda.“

Alvitur lächelte und schaute Hilda erst ernst, dann fast gebieterisch an, machte eine Pause und lächelte dann wieder: „Hilda, du bist heute eine Frau geworden und ich weiß, dass du ein kluges Mädchen, ääh, nun eine kluge Frau sein wirst. Du hast so viele gute Anlagen und Fähigkeiten, dass ich mir sicher bin, du wirst das alles verstehen. Ist dir noch nie aufgefallen, dass du Fähigkeiten hast, die dich von anderen unterscheiden? Wenn du mit den Jungen Kampfspiele machst, bist du um keinen Deut schlechter als der Beste von ihnen. Du kannst kämpfen wie ein Junge. Ein wacher Blick und Klugheit zeichnen dich aus, du riechst oder spürst, was dein Gegenüber fühlt, du sprichst mit einem Raben, hast ihn sogar selbst ausgebrütet und du weißt ganz sicher, wenn jemand nicht die Wahrheit spricht. Niemand sonst von uns hat je mit einem Troll gesprochen, aber du kennst sogar einen persönlich.“

Hilda schaute plötzlich ertappt drein. „Was, das weißt du? Woher?“

Da lächelte Alvitur gütig und den Blick seines Auges spürte Hilda wieder bis in die Zehenspitzen.

„Ich bin zwar der Älteste in unserem Dorf, aber ich habe auch einen wachen Verstand und seeehr gute Ohren, die auch manchmal das hören, was niemand hören soll! Wenn du mit deinem Raben sprichst, schau dich beim nächsten Mal um, wer noch in der Nähe ist. Doch lasst uns jetzt davon reden, weshalb wir hier sind. Fifilla, du fängst am besten mal an und beginnst mit dem Morgen, als wir zu Hildas Geburt gerufen wurden.“

Fifilla schaute einen Augenblick nachdenklich ins Feuer und richtete dann ihren Blick auf Hilda, die vor Spannung fast platzte.

„Ich sage euch, wie es damals war, und ich weiß es noch so genau, als ob es erst gestern gewesen wäre, als du geboren wurdest. Ernir, dein Vater hatte mich gerufen und auf dem Wege zu deiner Mutter, die in den Wehen lag, ging ich erst bei Alvitur vorbei und sagte ihm, dass unser Dorf wieder Zuwachs bekommt, dass Hilda und Ernir ihr zweites Kind erwarten. Alvitur war sofort bereit und kam mit mir. Ich machte ihn unterwegs auf das Gänseblümchenwunder aufmerksam, das überall auf den Rasenflächen zu sehen war. Es war eine Blütenpracht, wie nie zuvor. Für mich war das ein deutliches Zeichen, dass Freyja anwesend war und wir wussten sofort, dass mit der Geburt alles gut gehen würde. Komm, Alvi, lass es uns vollenden, sagte ich damals zu Alvitur und zog ihn weiter. Als wir dann in die Nähe eurer Hütte kamen, hörten wir das mehrstimmige Gekrächze von zwei Raben und wir wussten sofort, dass das keine gewöhnlichen Raben waren. Sie waren riesig und ihre Stimmen waren so eindringlich. Sie saßen auf eurem Dachgiebel, Odins Raben, Hugin und Munin. Wir waren beide fast sprachlos, als sie uns entgegen krächzten. Sie saßen auf dem Kreuz des Giebelbalkens, flatterten mit den Flügeln und krächzten, als wollten sie uns auf etwas aufmerksam machen. Die Morgensonne schien und doch war so eine Spannung in der Luft, das es uns am ganzen Körper schauerte. Die Luft war wie vor einem gewaltigen Gewitter. Wir waren uns nun ganz sicher, dass hier ein besonderes Kind geboren wurde, wenn selbst Odin bei der Geburt anwesend war. Mir stockte der Atem und ich hielt mich an Alviturs Arm fest. Ich spürte es damals, bis in den tiefsten Winkel meiner Seele: Wir sind ein besonderes Dorf.“

Alvitur nickte nachdenklich, legte seine Hand auf Fifillas Arm und übernahm das Reden.

„Meine gute Fifilla, ja wir sind ein besonderes Dorf, zumindest, seit diesem Tag, vor vierzehn Jahren. Wir sollten uns dieser Tatsache immer bewusst sein und dieses Kind immer im Auge behalten. Das wurde mir damals, nach diesen deutlichen Zeichen klar.“

Fifilla räusperte sich. „Ja, Hilda, so war das damals als du auf die Welt kamst. Deutlichere Zeichen für die Anteilnahme der Götter gibt es wohl nicht. Ich habe darum aus den Zeichen dieses Morgens ein kleines Amulett für dich gemacht. Hier, nimm es. Alvitur sagte mir, dass ich es dir geben soll, wenn du zur Frau gereift bist.“

Fifilla gab ihr ein ganz kleines Beutelchen. „Schau nur hinein, es sieht ganz unscheinbar aus, dennoch sind es die Zeichen dafür, dass du unter dem Schutz von Odin und Freya stehst.“

Neugierig geworden, öffnete Hilda, vorsichtig und fast andächtig, den kleinen Beutel. Zwei daumenlange, schwarze Federn und ein kleines Stück von feinem Stoff, auf den ein Gänseblümchen gestickt war, lagen nun auf ihrer Hand.

Alvitur bewegte eine Hand zum Zeichen, dass er sprechen wollte. „Hilda, ich hatte lange vor deiner Geburt einen sehr merkwürdigen Traum und ein sehr drastisches Erlebnis. Mit der Zeit wurde mir beides verständlicher.“

Er nahm einen langen Schluck von seinem Tee, lehnte sich zurück und schloss sein Auge, so als ob er sich erinnern wollte.

Alle drei schauten auf Alvitur und bemerkten, dass es nicht das Nachdenken war, was den Alten zögern ließ. Alvitur schien bewegt zu sein; um seinen Mund zuckte es und auf seiner Stirn erschienen Sorgenfalten.

Er nahm beide Hände vor sein Gesicht und man konnte hören, wie er heftig atmete und dann schluckte. Sein Gefühlsausbruch war nur kurz, dann schaute er wieder ernst und konzentriert in die Runde.

„Die Zeit meiner Reisen war zu Ende und so kehrte ich nach vielen Abenteuern zurück nach Hause, heim, nach Björkendal. Damals nannte man mich noch Djarfur und fast wäre ich der glücklichste Mann der Welt geworden. Meine Reisen waren erfolgreich. Ich hatte unendlich viel nützliches Wissen, als Heiler erworbenen, hatte die wunderbaren Apfelsetzlinge in der Schiffsladung und ich hatte bescheidenen Reichtum erlangt. An meiner Seite war die schönste Frau der Welt, meine geliebte Saida. Sie war vom Volk der Umayyaden. Unser Glück schien vollkommen zu sein, denn wir hatten auch eine süße, kleine Tochter. Leider endete mein Glück mit dieser Fahrt. Als wir schon fast zu Hause waren, wurde Saida sehr krank. Selbst mein umfangreiches Wissen über so viele Erkrankungen und über Arzneimittel, halfen ihr nicht mehr. Sie wurde von Tag zu Tag weniger. Wie eine Blume welkte sie dahin und verdorrte. Ich konnte einfach nichts für sie tun.“

Alvitur stockte einen Moment und man sah, dass diese Erinnerung ihn peinigte.

„Dann gerieten wir auch noch in einen Sturm, der uns auf dieser verdammten Insel stranden ließ. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich diese Nebelinsel Hel genannt. Diese verdammte Insel, es gibt sie gar nicht. Niemand, der sie sucht, wird sie jemals finden. Sie ist wie das Schicksal. Man landet durch das Schicksal auf ihr oder nicht. Wir saßen also dort fest und Saida, vom Sturm vollends geschwächt, starb dort, in meinen Armen. Bis zum letzten Moment sah ich in ihren Augen ihre unvergleichliche Liebe. Ganz still schlief sie in meinen Armen ein, um nie mehr zu erwachen. Ich baute ihr auf der Insel ein Schiff aus Steinen und legte sie dort zu Ruhe. Was konnte ich sonst noch tun? Danach war ich wie tot. Wenn unsere Tochter nicht gewesen wäre, hätte ich sterben wollen, so öde und leer, wie diese Insel, war mit einem mal das ganze Leben für mich geworden. Mein einziger Gefährte, Leif, setzte sich zu mir und sah mir tief in die Augen. Seine Worte waren es, die mir damals die Kraft gaben, weiterleben zu wollen. Er saß neben mir, zeigte auf Einurd und sagte nur: „Dafür musst du weiterleben. Es lohnt sich.“

„Ja, er hatte wirklich Recht. Das einzig Tröstliche an dieser elenden Insel war, das Einurd unser Elend nicht zu sehen schien. Sie verzweifelte nicht und gab mir die Kraft, die ich zum Weiterleben brauchte.“

Hilda platzte dazwischen: „Das war Einurd?“

„Ja, das war Einurd, Alfgers Mutter, mein größter Schatz, aber das war mir in dem Moment der Trauer nicht so bewusst. Heute gleicht sie im Aussehen ihrer Mutter so sehr, dass ich manchmal glaube, zu träumen.“

Alvitur lächelte bei diesen Worten, aber man konnte sehen, dass er eine Träne im Auge hatte.

Er zwinkerte und fuhr fort: „Ich gab Leif meine Tochter in Obhut und bat ihn, mir etwas Zeit zum Trauern zu geben. Ich begrub Saida auf dieser Nebelinsel und trank soviel Bier, dass ich irgendwann einschlief. Bis zu diesem Punkt hatte ich nicht viel über diese merkwürdige Insel nachgedacht, auch nicht, als mir Leif sagte, dass hier eigentlich gar keine Insel liegen dürfte. Leif kannte ja diese Gewässer so gut wie ich, denn er fuhr früher hier so oft, dass er den Kurs schon im Gefühl hatte. Wir fuhren ja auch eine bekannte Rute von Haithabu nach Hause. Vom vielen Bier benebelt, schlief ich also über meine Trauer ein. Als ich irgendwann erwachte, stand ich plötzlich mutterseelenallein auf dieser verfluchten Insel; kein Leif war mehr da und mein Töchterchen war auch weg. Nur diese elende Hütte stand noch dort in der Ödnis. Vermutlich steht sie heute immer noch dort. So stand ich also auf einer leeren Insel, auf der nicht mal das Meeresrauschen zu hören war, kein Möwenschrei, kein Wind – nichts – Totenstille. Dann erschienen diese drei Frauen vor der Hütte. Wie aus dem Boden gewachsen standen sie plötzlich dort, drei Frauen ohne Alter, ohne ein wirkliches Gesicht, dunkle Tücher über den Köpfen. Mir wurde es unheimlich, wie noch nie in meinem Leben und ich war doch nie ein Angsthase gewesen.“

Bei Alvitur letzten Worten wurde es so leise in der Hütte, dass Hilda das Holz der Wände knacken hörte. Wie gebannt hing sie an Alviturs Mund. Es ging ja auch um ihr Schicksal.

Alvitur fuhr fort: „Plötzlich begannen die Drei Weiber zu wispern. Sie sprachen, ohne den Mund aufzumachen und da wusste ich, wer sie waren.“

Hilda und Sölvi vergaßen fast das Atmen und warteten mit, vor Neugier geweiteten Augen, auf Alviturs nächste Worte.

Jedes seiner Worte klang wie ein dumpfer Hammerschlag in Hildas Seele. Jetzt war es ihr auch klar, dass das alles für sie wichtig war. Sölvi schaute drein, als ob er eine anstrengende Arbeit verrichtete und Fifilla nickte wissend.

Alvitur fuhr fort: „Da wusste ich wer diese Frauen waren, die mich, unter ihren schwarzen Tüchern hervor, mit Fischglotzaugen ansahen und zu mir sprachen, ohne den Mund zu bewegen. Alle drei sangen sie einen monotonen Singsang. Es waren die drei Nornen, die Schicksalsfrauen. Ihre Namen sind Urd, Verdandi und Skuld22. Ihr kennt sie aus unseren alten Geschichten, aber ich weiß jetzt, dass es sie wirklich gibt. Ihr Singsang ging mir direkt in den Kopf und irgendwann verstand ich ihre Worte, aber sie waren in so merkwürdiger Aussprache, dass ich Mühe hatte, ihren Sinn zu begreifen. Sie malten mit ihren Händen Figuren in die Luft und dann hatten sie plötzlich wieder dicke Stricke in den Händen, die sie gemeinsam verflochten. Es war einfach so absonderlich, dass mir ein Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Aus all ihrem Singsang verstand ich folgendes“ – und Alvitur nahm eine, in Runenschrift geschriebene, Schriftrolle zur Hand:

„Djarfur, Djarfur,

sei Alvitur,

zeige Zweien einen Weg,

unendlich Zeit, ihr Privileg.

Für die Götter 1000 Jahre

begleiten sie drei Augenpaare.

Der Erste ihnen Zeit bemisst,

damit ihn Fenriswolf nicht frisst.

Kraft schöpfen aus dem eignen Blut.

Es stirbt zu viel ohn’ der zwei Mut.

Mit gleichem Namen sei ein Kind,

das sie zu ihrem Ende find’.“

Im Halbschlaf gingen mir immer wider die Worte dieses Singsangs durch den Kopf, doch dann wurde alles verdrängt von einem Wort: Ragnarök!

Als ich erwachte, wusste nicht mehr wo ich war, bis Leif mich rüttelte und mir Einurd in die Arme schob.“ ‚Mach ihr etwas zum Essen‚ sagte er und schaute mich dabei sehr merkwürdig an. Ich nahm Einurd in die Arme und wusste plötzlich wieder, dass ich lebte, leben wollte und dass sie mich brauchte. Es war schon merkwürdig, aber als ihre Hände mein Gesicht streichelten und sie mich mit dem Worten, Papa, ich habe Hunger, ansprach, da durchfuhr mich wieder Liebe und Lebenskraft mit so ungeheurer Wucht, dass ich erschauerte. Ja, für sie lohnte es sich zu leben; leben wir doch in unseren Kindern fort. Aber Leifs Gesicht war mir ein Rätsel. Er stand vor mir, schaute mich an, als ob ich zwei Köpfe hätte, und ich fragte, warum er mich so entgeistert ansieht. Er antwortete zögernd, dass er einen seltsamen Traum hatte und schilderte mir fast das Gleiche, das ich geträumt hatte. Als ich Leif sagte, dass sein Traum dem meinen aufs Haar gleichen würde, schaute er noch entsetzter drein und flüsterte: ‚Wo sind wir denn hier gelandet? Ist das Hel? Ich wollte von Leif wissen, was die Frauen zu ihm gesagt hätten. Er meinte, dass er sie schlecht verstehen konnte, aber glaubte, dann doch etwas vom Sinn ihrer Worte verstanden zu haben; wir sollen wieder wegfahren, nach Hause und er hätte die Pflicht jemanden zu bringen, oder so ähnlich. Wir saßen beide noch eine Weile herum und hingen unseren Gedanken nach, bis Leif sagte, dass er einen Raben krächzen gehört hatte. Was denn, ein Rabe so weit vom Land entfernt, das konnte ja nicht sein. Leif dreht nach dem Traum noch durch, dachte ich bei mir. Doch dann hörte ich auch einen Vogelschrei, aber es war diesmal eine Möwe und ich sprang auf, ließ Einurd stehen und rannte hinaus. Keine gewöhnliche Möwe, ein großer Eissturmvogel kreiste zwischen der Hütte und dem Ufer. Ich rief Leif, der schon wieder ein Gesicht machte, als ob die Welt ins Meer stürzen würde: „Kommt, packt alles zusammen! Der Eissturmvogel, das ist ein Zeichen zum Aufbruch, schnell, lass uns fahren!“ Wir stiegen Hals über Kopf in unser Boot und das Segel fasste sogar gleich Wind, der plötzlich aus dem Nichts da war. Als wir eine kurze Strecke durch den Nebel zurückgelegt hatten, war er hinter uns einfach verschwunden und mit ihm auch die Insel. Ich dachte noch, ob mir das jemals jemand glauben würde? Dann hatten wir aber günstigen Wind und weil wir nur schnell weg wollten, ruderten wir noch zusätzlich, als wenn ein Feuer speiender Drache hinter uns her wäre. Das Schiff flog nur so über die Wellen und gegen Abend sahen wir unseren Fjord und das Ufer von Björkendal.“

Alvitur schnaufte leise und schaute plötzlich traurig drein: „Wisst ihr, was das für ein Gefühl ist, nach so vielen Jahren die Heimat wieder zu sehen? Als ich die Füße auf den Strand setzte, bekam ich weiche Knie. Hätte ich nicht Einurd an der Hand gehabt, ich hätte mich der Länge nach auf den Strand geworfen, aber sie gab mir Kraft, aufrecht zu bleiben. Ich sog meine Lungen voll Luft und atmete unseren Fjord regelrecht ein. Ein paar Schritte weiter griff ich in den Boden, nahm eine Handvoll Erde, roch daran und ich spürte — Glück. Mein Herz pochte, wie im Pferdegalopp. Ich war wieder zu Hause, nach so langer Reise durch eine faszinierende Welt, die aber so ganz anders war, als unsere. Leute waren plötzlich um mich, alte Bekannte, die damals junge Fifilla, Sigudur und viele neue, junge Gesichter, wie deine Eltern, Hilda. Sie waren noch Kinder, als ich wegfuhr, nun waren sie ein Paar. So, nun wisst ihr alles, und ihr seid die Ersten, denen ich diese Geschichte vollständig erzählt habe. Ich erzählte sie euch, weil ich so viel von der Welt außerhalb unseres Lebens gesehen habe und weiß, dass diese andere Welt unerbittlich nach uns greift. Ihr neue Gott und ihre Könige greifen nach uns und durch diese Prophezeiung, die Worte der Nornen, glaube ich, dass wir Ragnarök aufhalten können, nämlich das Sterben unserer Götter und unserer Welt.“

Alvitur machte eine kleine Pause und lächelte Hilda an. „Hilda schau nicht so entgeistert drein. Niemand im Dorf wird dich jetzt anders ansehen. Alles wird so sein, wie es hier jeden Tag ist, nur du wirst in der nächsten Zeit öfter nachdenken müssen, aber das wird für dein späteres Leben nur nützlich sein. Irgendwann wird dir das Schicksal deutlich machen, welche Aufgabe es dir zugedacht hat, damit unsere Welt und unsere Art zu leben erhalten bleiben.“

Alvitur lehnte sich entspannt zurück, griff wieder nach seinem Trinkbecher und nahm genussvoll einen großen Schluck von seinem Lebenselixier.

Bei Hilda merkte man, das sie kurz vor dem Zerplatzen war. „Alvitur, ich verstehe im Moment nur wenig von dieser Prophezeiung der Nornen, aber ist das alles wirklich war und für mich wichtig? Was ist, wenn ich das nicht wissen will und einfach so tue, als ob ich es nicht wüsste? Dann ist da noch etwas Komisches. Wie soll man aus dem eigenen Blut Kraft schöpfen? Das Blut ist doch immer in mir, ob ich will oder nicht und was hat der Fenriswolf mit mir zu tun? Das ist doch eine alte Legende. Wieso schützen uns unsere Götter nicht vor dem anderen Gott und dieser anderen Welt?“

Sölvi drehte aufgeregt seinen Trinkbecher in den Händen hin und her, dann schaute er mit großen Augen auf Hilda und nickte mehrfach. Fifilla hielt ihren Kopf in beide Hände gestützt und grübelte.

Alvitur griff nach Hildas Hand: „Hilda, ich kann dir deine Fragen nicht so einfach beantworten, aber du kennst die Geschichten um Ragnarök, und ich möchte nicht mehr Alvitur heißen, wenn das hier nichts damit zu tun hat. Diese andere Welt, mit ihren Königen und ihrer bösartigen Gier, das ist Ragnarök. Geht jetzt nach Hause und lasst euch Zeit zum Nachdenken. Ich bin ja morgen auch noch da und übermorgen und unser Dorf wird dann auch noch da sein. Lasst euch Zeit und wenn ihr etwas herausgefunden habt, lasst es mich wissen. Eines noch, Etwas, das wichtig für uns ist: So wie wir hier sitzen, sollten wir immer aufeinander Acht geben.“

Dann lehnte Alvitur sich zurück und schloss sein Auge. Er sah jetzt sehr erschöpft aus.

Hilda fühlte sich richtig durcheinander. Sie zupfte nervös an ihrer Tunika herum, stand auf und verließ mit zögernden Schritten Alviturs Hütte. Sie wollte nur noch nach Hause, oder in eine dunkle Ecke und Ruhe haben. Alviturs Worte und die rätselhafte Weissagung schwirrten wie hundert Möwen in ihrem Kopf herum.

Während des Laufens kreisten ihren Gedanken um diese kleine und geheimnisvolle Insel. Sie sah sie jetzt vor sich, ganz kahl, mit einer verfallenen Hütte. Sie marterte ihr Gehirn, bis sie auch den verzweifelten Alvitur dort stehen sah. Alles um sie herum wurde immer leiser und kein Geräusch drang mehr an ihr Ohr.

Immer wieder, immer wieder kreisten die Gedanken …, dann sah sie den Nebel und ihr wurde schwindlig im Kopf. Hilda setzte sich ins Gras und stellte fest, dass sie nicht zu Hause gelandet war, sondern zwischen den knospenden Apfelbäumen saß.

Die Nornen, ja, die Schicksalsfrauen, aus den Geschichten, die man sich erzählte, kannte sie auch. Nun sollte ihr Schicksal von diesen Frauen vorherbestimmt sein, oder vorhergesehen?

Die kahle Insel erschien wieder nebelhaft vor Hildas geistigem Auge, sie sah Alvitur und die drei alten Frauen.

Erschöpft hielt sich Hilda die Hände vor das Gesicht und ließ sich rückwärts in Gras fallen. Sie lag ganz still, ausgestreckt, sog den frischen Duft der Wiese tief ein und ließ die nebelhaften Vorstellungen ihrer Fantasie langsam verfliegen.

Korrrr, korrr klang es plötzlich an ihr Ohr, dann flatterte etwas neben ihr zu Boden. Sie spürte den Luftzug der Flügel und dann stupste Skyggis Schnabel sie an.

Hilda brauchte einen Moment, die Wirklichkeit wieder richtig zu empfinden. Dann richtete sie sich auf und streckte die Hand nach ihrem Raben aus.

„Bist du auch ein weiser Rabe Skyggi, so wie Hugin oder Munin? Kannst du mir sagen was ich von all dem halten soll? Mein Blut, was ist da so besonderes dran, das ich Stärke daraus ziehen soll?

Hilda kraulte ihrem Raben den Kopf, machte dabei die Augen zu und begann wieder in die neblige Vorstellungswelt zu gleiten. Sie merkte gar nicht, dass sie sich wieder hinlegte hatte und einschlief.

Skyggi hüpfte um Hilda herum, flog dann in den Apfelbaum und ließ ununterbrochen sein Korrr, korr ertönen.

„Hiiiildaaaaa, aufwachen. Was ist denn mit dir? Geht es dir nicht gut?“

Langsam drang Sölvis Stimme in Hildas nebliges Gedankenchaos. „Sölvi! Sölvi? Wieso, was ist?“

Dann kam sie endlich wirklich zu sich und schaute dem Freund verdutzt in die besorgten Augen.

„Sölvi, was ist? Nein, ich bin nicht tot und schlecht ist mir auch nicht.“

Dann setzte sie sich auf, nahm Sölvis Hand und schenkte ihm ein dankbares Lächeln.

Sölvi sah sie besorgt an und sagte: „Du wolltest doch nach Hause gehen. Warum bist du dann hier gelandet? Ich wollte dir nachgehen, aber du warst so schnell weg. Dann habe ich aber Skyggi gesehen, wie er hier über dem Baum herumflatterte und so fand dich. Mir ist was Wichtiges eingefallen, was ich dir sagen wollte. Vielleicht ist es ja Quatsch, aber vielleicht auch nicht.“

Nun schaute Hilda interessiert.

„Sag, was dir eingefallen ist, bitte. Ich kann im Moment nicht mehr klar denken. Alles schwirrt in meinem Kopf durcheinander.“

„Hilda, das mit dem eigenen Blut ging mir durch den Kopf. Ich glaube, ich weiß, was die Nornen damit gemeint haben. Die Familie ist doch von einem Blut und sie gibt dir Kraft und da ist einer, genau von deinem Blut, weil er dein Bruder ist. Die Nornen meinten Falki. Falki ist von deinem Blut und er würde, so wie ich ihn kenne, sein ganzes Blut ohne zögern für dich geben.“

Hilda dachte einen Moment lang nach, dann riss sie die Augen auf. „Sölvi, ich glaube, dass du der klügste Junge bei uns bist und dass du Recht hast.“

Sie beugte sich zu Sölvi und drückte ihn fest.

„Wir sollen auch aufeinander acht geben, hat Alvitur auch gesagt. Sölvi, du bist ein guter Freund und ich werde immer auf dich acht geben, das verspreche ich dir“, dann drückte sie ganz fest seine Hand.

Abends gab es zum Essen frischen Fisch. Falki tat aus Scherz ganz betrübt, das er Hildas Wunschfisch, den knurrenden Quallenhai nicht gefangen hatte. Dafür hatte er aber einen Dornenhai mit nach Hause gebracht und sogar einen ziemlich großen. Der Fisch war fast so lang wie er. Falki meinte, dass sie heute gut gefangen hätten, auch viele andere Fische, aber Hilda wollte ja einen Hai und da hat er eben diesen mitgebracht.

Es wurde ein wunderbares Abendessen. Die Mutter hatte sich wirklich viel Mühe gegeben, um alles, Hildas Wunsch entsprechend, zuzubereiten. Doch Hilda saß irgendwie abwesend am Tisch und alle merkten, dass es ihr ziemlich egal war, was sie jetzt zwischen den Zähnen hatte. Sie hätte bestimmt auch alten Trockenfisch gegessen, ohne es zu merken.

Falki schaute nun doch etwas besorgt auf seine Schwester. Er streichelte ihre Hand und fragte: „Was hast du denn? Hat Alvitur etwas Schlimmes erzählt?“

Mutter Hilda legte ihren Finger auf Falkis Mund und flüsterte: „Lass sie, sie wird schon mit dir reden. Ich ahne schon worüber Alvitur mit ihr gesprochen hat. Lass sie das erst mal alles verdauen. Morgen ist auch noch ein Tag.“

„Hmm, na gut“, machte Falki und freute sich, dass er sich den Bauch nun alleine mit dem leckeren Essen voll stopfen konnte.

Später, unter ihren Fellen konnte Hilda lange nicht einschlafen. Immer wieder gingen ihr Alviturs Worte und die Prophezeiung durch den Kopf, aber sie hatte nun keine Angst mehr; sie hatte ja gute Freunde und sie hatte Falki. „Ja, er würde mich beschützen, was immer auch käme“, war ihr letzter Gedanke.

Das gab ihr Ruhe und sie begann dem leisen Rauschen im Rauchabzug des Daches zu lauschen. Sie spürte ganz deutlich Falki neben sich und seine Kraft.

Zwei gegen Ragnarøk

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