Читать книгу Zwei gegen Ragnarøk - Hans-Jürgen Hennig - Страница 16

WIE THURID ZU IHREM NAMEN KAM

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Alle Arbeiten waren erledigt, die ihre Mutter aufgetragen hatte. Hilda konnte nun endlich die Hütte verlassen und Fifilla besuchen.

„Na gut“ sagt sie sich, „das Flattervieh ist gefüttert. Jetzt gehe ich zu Fifilla und später bereite ich das Essen für heute Abend vor. Rüben soll ich kochen. Ha, das ist leicht.“

Sie schaute noch kurz auf die Feuerstelle, schob die Glut zusammen und verließ die Hütte.

Draußen umfing sie ein wunderschöner Sommermorgen mit einem lauen Lüftchen und Sonnenschein. Nach den vergangenen Regentagen und den ewigen dicken Wolken am Himmel, empfand sie diesen Morgen wie Glück.

Als sie schon ein paar Schritte gegangen war, rief sie Skyggi, der schon vom Dach her laut protestierte, weil sie ohne ihn losgegangen war: „Skyggi, komm her, dann können wir uns unterhalten und du kannst wieder etwas lernen.“

Skyggi gab ein paar unverständliche Laute von sich und flatterte auf Hildas Schulter.

Hilda versuchte seit einiger Zeit, ihm einige Dinge beizubringen. Das Wichtigste für sie war, dass er verstand, was nach Hause bedeutete und dass er ihre Freunde unterscheiden konnte. Wenn sie zu ihm sagte: „Flieg zu Falki“, dann sollte er sich auch auf Falkis Schulter setzen, was auch meistens klappte.

Viele im Dorf beneideten sie um ihren Raben und Hilda war auch wirklich stolz auf Skyggi, der ihr nun auch wie ein Schatten folgte.

Sie hatte auch bemerkt, dass Sölvi sich sehr gut mit Skyggi verstand und es schien ihr, als ob es da gegenseitige Zuneigung gäbe.

Hilda beschloss einen kleinen Umweg zu machen und nicht gleich zu Fifillas Hütte zu gehen. Sie lief zum Apfelhain und dann an seinem Rand entlang. Hier wollte sie testen, ob Skyggi ihre Befehle richtig verstand und gehorchte. „Flieg zu Falki!“, rief sie, aber Skyggi hielt nur den Kopf schief, mal links, mal rechts und machte: „Oorr, korr.“

„Flieg zu Falki!“, wiederholte sie nun eindringlicher und hob die Hand ruckartig hoch. Da hatte Skyggi begriffen und flog los. Er umkreiste Hilda einmal und flog dann in Richtung des Dorfes davon.

Sie beobachtete seinen Flug gespannt. Erst flog Skyggi nach Hause, kreiste mehrere Male über der Hütte und rief immer wieder laut. Dann zog er einen größeren Kreis bis zur Schmiede und ließ dort sein Gekrächze ertönen. Irgendwo setzte er sich dort nieder. Hilda konnte ihn nicht mehr sehen, aber sie hörte noch eine ganze Weile seine ständigen Rufe. Dann war plötzlich Ruhe.

„Da hat er wohl Falki gefunden“, sagte sie sich und setzte sich ins Gras. Hilda ließ sich auf den Rücken fallen und genoss einen Moment lang die wärmende Sonne.

„Und was mache ich nun“, dachte sie. Aber sie kam gar nicht dazu andere Gedanken zu entwickeln. Es flatterte in der Luft und Skyggi setzte sich zu ihr. Er hüpfte um sie herum und gab eine ganze Menge von Lauten von sich, die Hilda einfach kullerige Laute nannte. Er hüpfte vor ihr auf und ab und machte so deutlich, dass er belohnt werden wollte. Für diesen Fall, wenn sie mit Skyggi unterwegs war, hatte Hilda immer ein paar Bröckchen in ihrer Gürteltasche.

Sie fütterte ihn, lobte ihn ausführlich und Skyggi genoss es sichtlich. Er hielt ihr seinen Hals immer wieder hin, um gekrault zu werden. „Skyggi, ich bin zufrieden mit dir. Du bist ein kluger Rabe. Du musst aber noch weiter lernen, bis du so klug bist, wie Hugin oder Munin.“ Sie überlegte einen Moment, dann fragte sie: „Kannst du auch zu Sölvi fliegen?“

Hilda lockte Skyggi auf die Hand und befahl: „Flieg zu Sölvi!“

Skyggi blieb sitzen und guckte sie einfach nur an. Da schaute sie ihm richtig streng die Augen und wiederholte: „Flieg zu Sölvi! Sööölvi.“

Da schien Skyggi verstanden zu haben. Er hob ab und flog sogar gleich in die richtige Richtung. Hilda war zufrieden und machte sich wieder auf den Weg zu Fifillas Hütte.

Nach ein paar Schritten kreuzte Alfger ihren Weg. „He, meine schöne Hilda, ich suche dich schon eine ganze Weile.“

„Wieso suchst du mich?“, fragte sie und freute sich, dass sie Alfger getroffen hatte.

„Weil ich wusste, dass die meisten Leute heute alle zum Fischen sind, auch Steinar, dachte ich, dass wir fünf was zusammen machen könnten. Falki macht in der Schmiede nur Arbeiten, die er sonst auch machen kann, nichts Wichtiges. Sölvi sitzt wieder bei Alvitur und spielt mit den Runen. Bjarki habe ich auch gesehen, der trampelte in einem Bottich den Ton weich, damit Leifur töpfern kann, aber das kann er morgen auch noch machen.“

„Ich ahne schon, worauf du hinaus willst, du starker Mann“, lachte Hilda. „Du willst wieder kämpfen und suchst die Mannschaft zusammen. Ja, ich mache mit. Du brauchst mich gar nicht fragen. Ich will nur noch zu Fifilla, dort etwas abholen. Sag, wo wir uns treffen wollen.“

Alfger guckte erstaunt. „Na du bist ja fix im Kopf. Ja, genau das wollte ich. Ich glaube, zwischen der Schmiede und eurer Hütte ist der beste Platz. Mach dir nachher einen Knoten in die Zöpfe, damit du mit dem Schwert nicht drin hängen bleibst.“ Dabei lachte er schelmisch.

„He, Hilda und Alfger, was macht ihr da?“, hörten sie Sölvis Stimme, begleitet von einem Flattern und Skyggis „Arr, arr.“

„Skyggi, du bist ja toll, du hast dich wirklich übertroffen. Ich hab ihm gesagt, dass er zu Sölvi fliegen soll. Einfach nur so, aber er hat ihn gefunden und nun bringt er ihn sogar mit.“

Alfger schaute plötzlich etwas beleidigt drein und fragte: „Warum hast du deinen Raben nicht zu mir geschickt?“

„Ganz einfach“, sagte Hilda schnippisch, „weil Sölvi ihn mag und du nicht. Du verscheuchst ihn ja immer wenn er zu dir kommt und sagst immer Flattervieh zu ihm, statt Skyggi. Das merkt er sich wohl“ – und Hilda lachte über ihren gelungenen Scherz.

Alfger guckte erst wie ein ertapptest Kind, dann blieb ihm nichts weiter übrig, als auch zu lachen.

„Ich gehe jetzt zu Fifilla. Sucht ihr mal den Rest der Gruppe zusammen.“ Dann rannte sie los und Skyggi flog hinter ihr her.

Hilda fand Fifilla draußen in ihrem Kräutergarten, bei der Arbeit. „Guten Morgen Fifilla“, rief Hilda. Als wenn Skyggi auch grüßen wollte, rief er ein paar mal, flog von ihrer Schulter und setzte sich, in der Nähe von Fifilla, auf einen Zaunpfahl. Von dort schrie er wieder laut: „Orr, orr“, dass Fifilla ihre Hacke fallen ließ.

Fifilla schaute etwas erschrocken über die Rabenrufe, aber dann lächelte sie und grüßte zurück: „Guten Morgen Hilda, guten Morgen Skyggi. Hilda, was brauchst du, ein Suppenkraut?“

„Fifilla, kannst du hellsehen? Genau das brauche ich. Ich soll nämlich heute alleine Rübensuppe kochen.“

„Na dann hast du ja wirklich noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen.“

„Wieso wichtig? Die Suppe kochen ist doch leicht.“

„Sicher, schwer ist das nicht, aber wenn du sie nicht gut kochst, dann zieht deine Familie heute Abend lange Gesichter und du wirst dich darüber ärgern.“

„Fifilla, du hast Recht. Ich will mir auch Mühe geben, damit sie gut schmeckt. Was für Kräuter gibst du mir dafür?“

„Hier, zupf dir davon ein paar Blätter ab. Das ist Liebstöckel, eine Pflanze die du schon kennst. Du weißt aber bestimmt nicht, dass Alvitur dieses Kraut, damals mit den Apfelbäumen, von seiner Reise mitgebrachte hatte.“

Hilda war erstaunt „Nein, das wusste ich wirklich nicht. Ich dachte, das wächst schon immer hier. Danke Fifilla.“

„Hilda, nimm noch ein Kraut mit. Das wächst aber nicht hier bei mir. Geh von hier aus zum Bach, es wächst dort am Ufer, in großen Mengen. Ich meine das Kraut, mit den weißen Blüten, das dir bis zum Bauch reicht. Das ist Rauke. Nimm etwa fünf, sechs Stängel davon und koche sie in der Suppe mit, aber klein gehackt.“

„Danke Fifilla.“ Hilda drehte sich um und wollte schnell wieder nach Hause, da fiel ihr doch noch eine Frage ein, die sie immer schon fragen wollte.

Sie drehte sich wieder um und fragte: „Fifilla, sag mal, warum sieht deine Hütte so anders aus, als alle anderen Hütten im Dorf?“

Fifilla stützte sich auf ihre Hacke und schaute etwas versonnen in die Ferne. „Mädchen, das ist eine lange, fast vergessene Geschichte.“

Hilda sah, dass Fifilla plötzlich Tränen in den Augen hatte und sie ging zu ihr und umarmte sie. „Fifilla, entschuldige, ich wollte dir nicht wehtun. Ich merke, du hast eine Erinnerung, die dich schmerzt.“ Dann drückte sie die ältere Freundin noch einmal.

„Ach, Hilda es tut nicht wirklich weh, es ist mehr die Sehnsucht nach dem, was ich vor ganz langer Zeit verloren habe.“

Sie machte eine kleine Pause und fuhr fort: „Ich bin nicht hier geboren. Als kleines Mädchen kam ich mit meiner Familie hierher. Komm setz dich zu mir hier auf die Bank und ich erzähle es dir.“

Sie setzten sich auf die Bank vor der Hütte, die aus weißen Birkenstämmchen gebaut war. Hilda streichelte Fifillas Hand und Fifilla begann: „Eigentlich heiße ich Kylikki und ich war etwa acht Jahre alt, als wir hierherkamen. Wir, mein Vater, meine Mutter und mein Bruder, Teemu, kamen von weit her. Unser Volk lebte auf der anderen Seite des Gebirges, aber ganz weit im Osten und wir nannten uns Sami.

Wir lebten am Rande des östlichen Meeres, aber eine Zeit lang wurde unser Dorf ständig überfallen, bis es ganz zerstört war. Nichts blieb mehr übrig und so viele waren tot.

Mein Vater beschloss, dass wir weit weg gehen sollten, aber wo wir auch hinkamen, wir blieben nie lange. Ich weiß auch nicht warum, aber ich glaube, meine Eltern waren etwas eigensinnig. Schließlich brachte uns jemand über das Gebirge und wir landeten, nach jahrelanger Wanderung hier.

Mein Vater und meine Mutter, sie bauten dieses Haus. Es sieht so aus, wie ich die Häuser aus unserem Dorf in Erinnerung habe. Sie bauten auch den kleinen Anbau hinter dem Haus; unsere kleine Sauna.

„Das komische kleine Haus, wo der große Ofen drin ist?“, fragte Hilda.

„Ja, genau das. Hier benutzen nur wenige Leute die Sauna, aber Alvitur und ich, wir wissen sie sehr wohl zu schätzen, dein Vater übrigens auch. Na und noch ein paar andere im Dorf.“

Hilda griff wieder nach Fifillas Hand. „Kylikki, wo ist deine Familie? Sind sie alle schon tot?“

„Ach Mädchen, du machst mich ja fast glücklich. Seit einer Ewigkeit hat mich niemand mehr mit meinem alten Namen angesprochen. Ja, Vater und Mutter sind hier gestorben. Sie haben wohl zu sehr die Heimat vermisst und wurden krank. Es ist schon merkwürdig mit dem Schicksal. Meine Eltern waren beide Heiler und meine Mutter so wie ich, eine Kräuterfrau. Mein Bruder Teemu ist damals mit Alvitur gegangen. Eigentlich war er noch viel zu jung für solche Abenteuer, aber er hat sich einfach heimlich davongeschlichen. Alvitur ging auch einfach weg. Er ging auf große Fahrt, ohne sich von mir zu verabschieden und ich dummes Mädchen habe jahrelang auf ihn gewartet.

Alvitur und Teemu haben sich aber irgendwann getrennt und nur Alvitur kam zurück, mit Leif. Ein oder zwei Jahre später kam Teemu zurück und er hatte nichts besseres zu tun, als Einurd ein Kind zu machen. Kurz danach verschwand er wieder. Ob er noch lebt, weiß ich nicht.“

„Was, du warst mit Alvitur ein Paar“, flüsterte Hilda ganz erstaunt.

„Heute weiß ich, wir waren nicht wirklich ein Paar. Nur ich glaubte das damals. Ich liebte ihn. Er war stark, klug und ein ansehnlicher Mann, dem alle Frauen gerne nachsahen. Er nannte sich auch damals noch Djarfur.“

„Kylikki, es tut mir leid, dass du keine Familie mehr hast.“

„Nein Mädchen, es soll dir nicht leid tun. Ich habe ja eine neue Familie gefunden. Ihr alle hier seid meine Familie. Alle Kinder, die heute hier im Dorf umherspringen, hatte als erste ich in den Händen. Bei allen saß ich schon am Bett, wenn sie sehr krank waren und dann ist da auch noch Sigudur. Er ist ein wunderbarer Mann. Er poltert nie und ist sehr lieb zu mir.“

Fifilla lächelte etwas verträumt. „Außerdem kann er so wunderschön auf der Flöte spielen. Er hat das Herz eines Lämmchens und doch ist er auch stark. Hi, hi, nur riecht er manchmal so arg nach seinen Schafen, aber dann schicke ich ihn immer in die Sauna. – Übrigens, noch etwas. Es war Alvitur, der mir den Namen Fifilla gab. Wir waren beide Kinder und spielten oft zusammen. Eines Tage machte ich mir einen Kranz aus Löwenzahnblüten und lief damit einen halben Tag lang herum. Alvitur gefiel dass und er nannte mich fortan Fifilla.

Dann schwiegen beide und Hilda streichelte weiter Fifillas Hand.

„Jetzt geh aber nach Hause, sonst verwelkt das Kraut noch in deiner Hand. Vergiss nicht, vom Bach ein paar Stängel Rauke mitzunehmen. Nun geh schon, du hast doch heute bestimmt noch einiges vor und Danke, dass du mir zugehört hast.“

Hilda drückte Fifilla einen Kuss auf die Wange und lief los.

Auf dem Weg kam sie an Alviturs Hütte vorbei und hörte seltsame, aber schöne Klänge von dort. Sie blieb stehen und lauschte. „Was ist das für ein Instrument? Was ist das für eine Musik?“, fragte sie sich und ging lauschend näher.

Draußen, neben und hinter der Hütte war niemand und so schlich Hilda leise weiter, um die Quelle dieser Klänge zu finden. Vor der Hüttentür merkte sie, dass die Musik von drinnen kam. Ganz vorsichtig und leise steckte sie den Kopf zur Hütte rein.

Alvitur war nirgends zu sehen, aber ganz hinten, hinter dem Feuer, saß Sölvi und hatte ein merkwürdiges Ding in der Hand, auf dem er mit den Fingern herumzupfte und diese wunderschönen Klänge hervorbrachte.

Hilda sah, dass Sölvi ganz vertieft in seinem Spiel war; er hielt die Augen geschlossen. Auf Zehenspitzen schlich sie näher und ihre Augen wurden vor Staunen immer größer, denn die Töne, die Sölvi da mit diesem Instrument erzeugte, klangen so wunderschön und harmonisch in ihren Ohren.

Sölvi wiederholte immer die gleiche Tonfolge und Hilda merkte bald, dass es wie ein Lied klang, dass sie auch kannte.

Als sie vor Sölvi stand, flüsterte sie ganz leise: „Sölvi, das ist wunderschön, was du da machst.“

Augenblicklich brach die Musik ab und Sölvi riss erschrocken seine Augen auf. „He, bist du verrückt, mich so zu erschrecken?“ Dann aber wurde sein Gesicht ganz mild und seine Augen strahlten Hilda an. „Entschuldige den barschen Ton, aber ich war eben ganz weit weg mit meinen Gedanken. Warum schleichst du dich so an? Du hättest doch einfach an der Tür klopfen können.“

„Sölvi, es klang so wunderschön und ich wollte nicht stören. So etwas habe ich noch nie zuvor gehört und dann war das grade so wie ein Traum und ich musste einfach schleichen, damit ich ihn nicht unterbreche. Was ist das da, worauf du die Musik machst? Woher hast du das?“, fragte sie und konnte ihre Neugier kaum zügeln.

„Ich wusste bis vor kurzem auch nicht, dass es dieses Ding gibt. Alvitur hat sie aus einer Kiste herausgeholt, deren Inhalt er bisher immer vor mir verborgen hatte. Vor ein paar Tagen sprachen wir etwas länger miteinander, dass heißt, er erzählte eigentlich nur, von seinen damaligen Reisen und auch von seiner Liebe, von Einurds Mutter, der schönen Saida. Alvitur meinte, dass dieses Instrument mal ihr gehört hatte. Er nennt diese Holzbirne Oud23 und sagte, dass es dort, wo Saida damals lebte, solche Instrumente häufig waren und dass Saida auch darauf gespielt hatte.“

Hilda kicherte: „Hi, hi, Holzbirne. Na ja, das sieht schon etwas, wie eine Birne aus.“

„Hilda, du kennst mich etwas und ahnst, dass ich sofort fasziniert war, von dieser Oud, als mir Alvitur das Instrument gezeigt hatte. Alvitur kann zwar darauf nicht richtig spielen, aber er weiß, wie man es machen muss. Hier schau mal, damit die Oud auch die richtigen Klänge macht, gab er mir dazu diese kleine Pfeife. Hör mal“, und Sölvi blies darauf einen hellen Ton.

„Alvitur gab mir auch ein Pergament, wo aufgezeichnet ist, wie man die Finger halten muss. Jetzt über ich eben und es geht immer besser, aber die Finger tun mir schon dolle weh. Schau mal“ – und er hielt Hilda seine Fingerspitzen hin.

„Ui“, machte Hilda, „Da sind ja richtig tiefe Rillen drin, aber ich finde das toll, dass du darauf übst. Schade, dass Alvitur nicht schon früher diese Holzbirne aus der Kiste geholt hat, dann könntest du jetzt schon richtige Lieder spielen.“

„Hilda, sag bloß nicht Holzbirne, wenn Alvitur anwesend ist. Als er mir das Instrument erklärte, war er innerlich ziemlich bewegt, ich hab es deutlich gespürt, aber er sagte, dass er das jetzt machen musste, bevor er vergisst, wozu sie da ist. Mir macht das Spielen darauf auch große Freude und ich glaube, dass ich es bald richtig kann.“

„Sölvi, ich höre dir noch etwas zu, dann muss ich dich verlassen, noch ein paar paar Kräuter sammeln. Spiel bitte noch etwas.“

Sölvi lächelte Hilda an und begann wieder an den Seiten der Oud zu zupfen.

Als Hilda nach einer Weile aufstand, um zu gehen, merkte Sölvi es nicht mal, so vertieft war er wieder in seinem Spiel.

Hilda machte die Tür ganz leise zu und schlenderte, im Kopf immer noch Sölvis Musik, langsam zum Flüsschen.

Sie schaute am Ufer entlang und wie Fifilla es ihr gesagt hatte, wuchs hier wirklich viel von diesem Kraut. Komisch, noch nie war es ihr aufgefallen, schon gar nicht, dass das ein nützliches Suppenkraut war.

Hilda pflückte sechs Stängel von der Rauke und rannte damit schnell nach Hause, aber im Gedanken war sie wieder bei Fifilla und sah das kleine Mädchen, Kylikki, wie es Löwenzahnblüten sammelte.

Zu Hause angekommen, sah sie schon, dass die Jungen um die Schmiede herumlungerten und auf sie warteten.

Hilda legte alles in der Hütte auf dem Tisch ab und kletterte auf den Dachboden. Dort hingen an langen Fäden einige Stücken Trocken- und Räucherfleisch. Sie schnitt von beiden je ein Stück ab und kletterte wieder nach unten.

Als Wasser und Fleisch, im Topf, über dem Kochfeuer hingen, klatschte Hilda in die Hände.

„So, jetzt habe ich Zeit und kann die Jungen verkloppen“, dachte sie befriedigt und griff sich ihre Holzschwerter. Nachdem sie sich die Filzweste angezogen hatte, band sie noch die Enden der Zöpfe am Kopf fest und setzte sich eine dicke Filzkappe auf. „So, nun wird auch Alfger zufrieden sein.“

Nun als Kriegerin gerüstet, rannte sie zu den wartenden Jungen hinaus.

Da standen sie nun, die jungen Krieger von Björkendal: Alfger, Falki, der dicke Arnor, Bjarki und Sölvi, und sie warteten mit betont gelangweilten Gesichtern, auf ihre Kriegerin.

Die anderen Mädchen von Björkendal hatten bei dieser Art Spiel keine Chancen gegen die Jungen und auch nie wirklich Lust auf Kampfspiele. Sie waren zwar alle nicht zimperlich, aber ihre Kraft und Schnelligkeit reichten nicht aus, um mit den Jungen hier mithalten zu können.

Hilda dagegen konnte alles, was die Jungen auch konnten. Sie war sogar mit dem Bogen oft die Beste, konnte mit dem Speer umgehen und auch mit dem Holzschwert kräftig zuschlagen.

Alfger gab einen kleinen Wink und sie stellten sich alle im Kreis auf um gegenseitig ihre Schilde und Schwerter zu begutachten. Arnor hielt sein Schild so, dass ihn alle sehen konnten und sagte ganz stolz: „Hier seht mal, jetzt ist es fast wie ein richtiger Schild, mit einem Eisenrand.“

Falki reckte die Brust und ergänzte ganz stolz: „Das hab ich gemacht, bei Arnors und bei meinem Schild. Bei euch beiden mache ich das auch noch. Jetzt halten die Schilde viel mehr aus.“

„Na das wollen wir mal sehen“, meinte Bjarki spöttisch.

„Und wie machen wir das heute?“, fragte Sölvi dazwischen.

Hilda guckte Sölvi etwas merkwürdig an. Er sah jetzt so ganz anders aus, als der Junge, der vor einer Weile noch auf dieser Oud herumzupfte.

„Ich denke, wir machen das wie immer. Wir bilden zwei Gruppen und kloppen los“, erwiderte Falki.

„Richtig loskloppen, bis einer eine Beule hat oder umfällt?“, frohlockte Alfger und schlug sein Schwert auffordernd immer wieder gegen den Schild.

Inzwischen waren auch ein paar von den Mädchen eingetroffen. Bei so einem kleinen Schaukampf zuzusehen, war nach ihrem Geschmack. Wenn man nur zuschauen brauchte war es lustig und manch eine von ihnen lächelte Alfger dabei gerne etwas schmachtend an.

Die Mädchen setzten neben der Schmiede sich ins Gras. Sie klatschten in die Hände und riefen: „Anfangen!“

Vom Dach der Schmiede meldetet sich Skyggi mit ganz vielen Arrarr-Rufen, so als ob er die Gruppe auch anfeuern wollte.

„Wir können ja auch erst Einzelkämpfe machen“, meinte Bjarki und fuchtelte dabei schon wild mit seinem Schwert herum.

„Nein, in zwei Gruppen richtig kämpfen“, kam es von einem der Mädchen, die im Grase saßen.

„Na dann haut euch mal, am besten, jeder gegen jeden, aber alle zugleich“, tönte plötzlich eine tiefe Männerstimme.

„Hey, Vater“, tönte es von Falki und Hilda fast zugleich und Hilda fragte erstaunt: „Was machst du denn schon hier? Ich dachte du bist zum Fischfang im Fjord.“

„Das waren wir auch, aber der Fischfang war heute so einfach und erfolgreich. Wir hatten in ganz kurzer Zeit so reichlich, dass wir aufhören konnten. Das ganze Boot ist voller Fische und ich wollte nur herkommen um Hilfen für die Verarbeitung zu holen.

Hm, ihr wollt euch grade die Köpfe einschlagen, da muss ich wohl noch etwas warten oder mir andere Hilfen holen.“

Ernir drehte sich um und ging in die Schmiede. Er suchte etwas herum und nahm sich dann einen mittelgroßen Hammer mit langem Stiel, weil er damit später am Boot etwas reparieren wollte.

Jetzt war er aber auch gespannt auf einen kleinen Schaukampf und setzte sich auf einen großen Stein, der vor der Schmiede lag. Ernir machte ein erwartungsvolles Gesicht und brummte: „Ich schaue euch ein wenig zu und dann kommt ihr alle mit runter zum Steg, die Fische ausladen. Ja?“

Die Antwort war ein vielstimmiges Schweigen, nur Hilda druckste ein dünnes „hmm“ heraus.

„Haha, das dachte ich mir schon, ihr starken Kämpfer. Na dann schwingt mal eure Schwerter. Vielleicht kann ich ja hier noch etwas lernen.“

„Gut, machen wir zwei Gruppen. Arnor und ich eine Gruppe, und ihr gegen uns!“, kam knapp Alfgers Anweisung. Er war immer ihr Anführer und die Gruppe folgte ohne Zaudern. Sie nahmen sofort Kampfhaltung ein und standen sich, mit den Schwertern fuchtelnd, gegenüber.

Falki zischte leise zu Hilda: „Wenn die glauben, dass sie uns zu zweit schaffen, haben sie sich aber getäuscht. Arnor ist viel zu langsam!“

Da standen sie nebeneinander, der dicke Arnor, fast ein riesiger Fleischberg und der hochgewachsene Alfger, das jugendliche Abbild eines edlen Kriegers und machten grimmige Gesichter. Alfger tänzelte leicht hin und her und Arnor neben ihm wirkte wie ein großer Fels, an dem niemand vorbeikam.

Auf der anderen Seite standen, in der Mitte Falki und Hilda, rechts Bjarki und links Sölvi. Statt eines Schildes hatte Hilda ihr zweites, aber kurzes Schwert in der linken Hand. Hildas Augen funkelten vor Kampflust und ihrem Blick entging keine Bewegung der Gegner.

Falki stand dicht neben ihr, federte in den Knien und machte ein konzentriertes Gesicht.

Ernir schlug mit seinem Hammer auf ein Fass, dass neben ihm auf dem Rasen lag und rief: „Los!“ – und der dröhnende Ton tat seine Wirkung.

Wie eine Ramme rannte Arnor mit dem Schild voran in die andere Gruppe. Durch Arnors Wucht taumelten Falki und Hilda mehrere Schritte zurück. Diesem Ansturm konnte niemand von ihnen standhalten.

Alfger sprang sofort in die entstandene Lücke und schrie wie ein großer Krieger: „Odiiiiin!“

Arnor war Stolz auf die Wirkung seiner Kraft und deshalb etwas unaufmerksam. Sofort bekam er von Hilda zwei blitzschnelle Schwerthiebe auf seine Filzkappe und einen Stich von Falki in den Bauch.

Weil Arnor, vor Schmerz, laut aufschrie, schaute Alfger zu ihm statt auf Falki zu achten und der nutzte blitzartig diese Gelegenheit, dem starken Alfger einen kräftigen Hieb auf den Schwertarm zu verpassen.

„Hoho, so nicht“, rief Alfger und setzte seinerseits zu einem heftigen Angriff an.

Bjarki und Sölvi angespornt durch Falki und Hilda bedrängten nun ihrerseits Arnor und Alfger mit wilden Hieben.

Alfger war der Übermacht gewachsen und ging nun in seine federnde Kampfhaltung über; nicht ohne Beifall der zuschauenden Mädchen.

Alfger hob seinen Schild zur Abwehr und machte gleichzeitig einen Ausfall. Sölvi bekam einen Schwertstoß unter die Rippen, dass er keuchend zurücktaumelte und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht krümmte.

Als Bjarki aber Arnor mit einem unerwarteten Stich traf, wurde Arnor wüten. Der dicke Arnor, der sonst immer etwas behäbig war, wurde bei ihren Kämpfen manchmal ziemlich heißblütig und auch unbeherrscht.

Bjarki tänzelte um ihn herum, stach ihn mal hier und piekste ihn mal dort mit dem Schwert. Bjarki war ziemlich schnell und Arnor begann schon wütend zu schnaufen.

Als ob die Akteure erst warm werden mussten, wurde das Kampfspiel wilder und ihre Füße wirbelten so viel Staub auf, dass sie jetzt in einer riesigen Staubwolke eingehüllt kämpften. Dazu klapperten ihre hölzernen Schwerter in immer schneller Folge auf die Schilder.

Jetzt hatte sogar Alfger arg zu tun, sich gegen Falkis und Hildas Attacken zu wehren. Sie waren beide sehr schnell und auch raffiniert in ihrer Taktik. Hilda liebte es sehr, im Kampf mit Finten und List zu arbeiten. Wenn der Gegner glaubte, dass sie seinen Körper mit einem Stich treffen wollte, dann kam bestimmt ein Hieb auf die Mütze. Sie konnte sich mit Falki auch gut abwechseln; mal war der Eine vorne, mal der Andere. Falki beherrschte es sehr gut, sich fallen zu lassen und sein Schwert in das Kniegelenk des Gegners zu schlagen, oder ihm die Füße wegzufegen.

Auch Hilda konnte blitzschnell abtauchen und an der anderen Seite des Gegners wieder auftauchen.

Jedes Mal, nach so einer Aktion, gab es lauten Beifall von den Zuschauern.

Bei einem ihrer Kunststücke bewegte sich Hilda rückwärts und stolperte. Plötzlich lag sie vor Arnor auf dem Boden.

Die zuschauenden Mädchen kicherten.

Arnor stellte, wie ein Sieger, ein Bein auf Hildas Bauch und piekste ihr sein Schwert in die Brust.

„Na, Strumpfhilda, gibst du schon auf. Du musst doch nicht gleich meine Füße küssen. Ohje, die arme Strumpfhilda ist platt.“

So schnell konnte man gar nicht gucken, wie Hilda wieder auf den Füßen stand. Rot im Gesicht, wie ein Mohnblüte, schrie sie: „Du Fleischberg, sag das nie wieder, nie, nie wieder zu mir und ihr kleines Schwert stach heftig in Arnors Bauch. Er riss seinen Schild nach unten, aber da traf ihn auch schon ein kräftiger Schwerthieb auf dem Kopf.

Arnor machte einen Schritt zurück und guckte verdutzt. Dann lachte er spöttisch: „He, he die kleine Strumpfhilda wird ja zur Wildkatze!“

Falki hielt inne, als ob er ahnte was nun passieren würde. Er schaute Hilfe suchend auf Alfger, aber der begriff die Situation noch nicht und musste sich Bjarkis und Sölvis Angriffen erwehren.

Hilda stampfte mit einem Fuß kräftig auf und schnaufte: „Na gut, dann werde ich dir mal zeigen, was die kleine Strumpfhilda kann.“

Wie ein Blitz war sie bei ihrem Vater und riss ihm den Hammer aus der Hand.

Ernir rief erschrocken: „Hilda, nein!“ Er kannte seine Tochter und ahnte, wie wütend sie jetzt war.

Da war auch Hilda schon wieder vor Arnor und tänzelte um ihn herum. Arnor grinste immer noch über das ganze Gesicht und rief wieder das für Hilda so schlimme Reizwort: „Na komm schon, Strumpfhilda, zeig mal wie stark du mit einem Hammer bist.“

Er bemerkte nicht, wie Hilda ihn, mit ihrem Getänzel, so drehte, dass er die Sonne voll im Gesicht hatte.

Falki rief noch: „Auweia, jetzt wird es ernst!“, da krachte auch schon ein gewaltiger Schlag auf Arnors Schild nieder.

Arnor machte überrascht: „Uff“, als ob die Luft aus ihm entwich und taumelte einen Schritt nach hinten.

Nun begriff auch Alfger die brenzlige Situation und rief: „Hilda, Hilda, hör auf!“

Doch da krachte schon der zweite Schlag auf Arnors Schild und der Schild brach, so dass ihn nur noch der Eisenreif zusammen hielt. Arnor schnaufte, Hilda keuchte wütend und es folgte der dritte Schlag. Mit lauten Krachen splitterte Holz, Arnor taumelte und stieß einen unartikulierten Schrei aus.

Die zuschauenden Mädchen hörten plötzlich auf zu jubeln und es war, für einen Moment, als ob die Zeit stehen blieb; alle waren plötzlich still und die Kämpfer standen wie festgenagelt, nur Arnor taumelte noch ein paar Schritte und wurde ganz weiß im Gesicht.

Jetzt war nur noch Hildas Keuchen war zu hören.

„Oh je“, hauchte Falki, dann fiel Arnor um und lag wie tot im Staub.

Ernir sprang auf und war sofort bei ihm. Vorsichtig zog er die zwei Hälften des Schildes von Arnors Arm.

Arnor stöhnte leise und hatte Schweißperlen auf der Stirn.

Dann plumpste der Hammer aus Hildas Hand und ihre Stimme klang immer noch wütend, aber auch ängstlich: „Du musstest mich ja immer wieder ärgern. Das hast du nun davon.“

Ernir schaute seine Tochter sehr besorgt an: „Sei still Hilda. Du hast zwar gekämpft, wie eine richtige Kriegerin und Thor hätte seine helle Freude an dir gehabt, aber so arg hätte es nicht kommen dürfen. Eine ganz wichtige Eigenschaft für einen guten Krieger oder Kriegerin ist vor allem Beherrschung, sich im Griff zu haben.“

Ernir tastete etwas an Arnor herum und wackelte dann besorgt mit dem Kopf. „Arnors Arm ist gebrochen! Los Jungs, bringt ihn zu Alvitur, der macht ihn wieder heile.“

Erst jetzt begannen die am Rand sitzen Mädels wieder zu reden. Sie tuschelten, standen auf, beäugten neugierig den armen Arnor, der mit Schweiß auf der Stirn, keuchend da saß und ziemlich bemitleidenswert aussah.

Alfger bedeutete den anderen Jungen, ihm zu helfen. Sie holten ein großes Fell aus der Schmiede und trugen Arnor damit zu Alvitur.

Ernir schickte noch eines Mädchen zu Fifilla: „Sagt ihr, sie soll zu Alvitur kommen und Kräuter für einen Knochenbruch mitbringen!

Ihr anderen Schnattergänse, geht mal zum Bootssteg und helft dort den Fischern.“

Als alle weg waren, legte er seinen Arm um Hildas Schulter, drückte sie und ging mit ihr langsam zu Alviturs Hütte.

Hilda lief mit gesenktem Kopf neben ihm her und sah nichts mehr von dem schönen Sommertag. Um sie herum war plötzlich alles grau. In ihrem Kopf war Aufruhr. Die Gedanken purzelten nur so durcheinander und sie machte sich Vorwürfe: „Der arme Arnor.“

Als sie bei Alvitur ankamen, war dieser grade dabei, alle weg zu schicken: „Geht nach Hause. Sölvi bleibt hier. Sölvi mach’ Feuer und setzt einen Kessel mit Wasser auf. He, ihr haut endlich ab. Zaungäste brauche ich jetzt nicht.“ Mit so harscher Stimme kannte man Alvitur kaum.

Da kam auch schon Fifilla zur Tür herein. „Wer liegt hier im Sterben?“

Hilda saß neben Ernir auf einer Liegestatt am Eingang und bei Fifillas Worten riss sie die Augen weit auf.

Sie sprang erschrocken auf. „Was, nein, Arnor wird doch nicht sterben, oder? Alvitur, sag, muss er sterben?“ Und in Hildas Augen standen Tränen.

Ernir zog seine Tochter wieder auf die Felle und legte einen Arm um sie.

Alvitur stand an dem großen Tisch, auf dem Arnor lag und machte ein sehr ernstes Gesicht.

Er drehte sich zu Hilda um und schaute ihr in die Augen: „Ja, Mädchen, du hättest gut daran getan, dich etwas zu zügeln. Ob er sterben wird, weiß ich noch nicht, aber wir beide müssen und ganz dringend unterhalten, aber später.“ Dabei zwinkerte er Fifilla so zu, dass Hilda es nicht sehen konnte.

Fifilla schaute auch sehr ernst drein und legte eine ganze Menge Kräuter auf den Tisch. „Hier sind Beinwell und Arnika, ich denke, das müsste reichen.“

Zu Sölvi sagte Alvitur: „Sölvi bringe mir mal das Bündel mit den dünnen Stöckchen, das dort hinten rechts in der Ecke steht, damit werden wir Arnors Arm wieder in Form bringen.“

Alvitur wandte sich an Ernir: „Geht mal auch nach Hause. Hilda soll einen süßen Tee trinken. Ich schicke Sölvi nachher, wenn ich den Arm geschient habe und mit Hilda sprechen will.“

Dann stand auch noch Mutter Hilda in der Tür und mit besorgtem Gesicht fragte sie Ernir: „Was ist los? Wen hat Hilda erschlagen?“

Ernir legte ihr den Finger auf dem Mund und sagte leise: „Komm, wir gehen nach Hause.“

Sie nahmen Hilda in die Mitte und Ernir erzählte ihr mit leiser Stimme wie sich alles zugetragen hatte.

Hilda trottete mit gesenktem Kopf zwischen ihren Eltern dahin. Ihr schlechtes Gewissen plagte sie so sehr, dass sie am liebsten in der Erde versunken wäre.

„Der arme Arnor. Wie kann ich das nur wieder in Ordnung bringen?“ kreisten die Gedanken in ihrem Kopf.

In der Hütte angekommen, machte die Mutter schnell einen Kräutertee für Hilda und süßte ihn reichlich mit Honig.

Hilda trank in kleinen Schlucken und ihr Blick schien im Trinkbecher gefangen zu sein. Nicht einmal hob sie die Augen.

Endlich brach Ernir das Schweigen: „Hilda, du musst dir keine großen Sorgen mehr machen. Arnor ist bei Alvitur und Fifilla in den besten Händen.“

„Aber wenn er nun stirbt? Ich bin schuld. Das wollte ich doch nicht.“

„Hilda, Arnor wird nicht sterben. Alvitur hatte das vorhin nicht ernst gemeint. Er wollte nur, dass du über deine unbeherrschte Wut etwas nachdenkst. Arnor wird ganz sicher wieder gesund. Der hat doch die Gesundheit von einem wilden Moschusochsen.“

Hilda hob langsam den Kopf. „Wirklich? Willst du mich nicht nur einfach trösten?“

Mutter Hilda schaute von einem zum anderen. „Was ist hier los. Wer macht hier wem etwas vor?“

Dann lächelte Ernir und sagte: „Wirklich, Alvitur hatte vorhin nur übertrieben. Du wirst ja nachher mit ihm sprechen und Arnor wird bestimmt dort bei ihm sitzen und dich wieder angrinsen. Außerdem will ich dir noch sagen, dass ich, trotz der bösen Folgen, stolz auf dich bin.“

„Wieso, flunkerst du jetzt?“

„Nein Hilda, ich meine das ernst. Wir sollten dich wohl fortan lieber Thurid24 nennen. Mit dem Hammer in der Hand warst du eine fürchterliche Kriegerin und hättest Thor alle Ehre gemacht, wenn er dich so gesehen hätte. Ich habe noch nie eine Frau so überlegen mit einem Hammer kämpfen sehen. Arnor ist mindestens einen Kopf größer als du und wiegt das Doppelte. Mit seiner Kraft könnte er dich unangespitzt in den Boden rammen, aber er kann sie noch nicht bewusst nutzen, aber du deine Kraft und deine Schnelligkeit schon.

Hättest du ihn nicht so arg verletzt, dann hätte ich dort gleich Beifall geklatscht. Tochter, du warst großartig, nur deinen Zorn musst du besser beherrschen lernen. Obwohl es gerade dein Zorn war, der dich zu so einer fürchterlichen Kriegerin werden ließ.“

Hilda schaute nun vom ihrem Trinkbecher auf und ihr Gesicht bekam langsam wieder Farbe.

„Meinst du das im Ernst, darf ich jetzt wirklich Thurid heißen? Ich glaube, mir gefällt dieser Name. Ich gehe auch gleich zu Arnor und werde ihn bitten, mir nicht mehr böse zu sein.“

Plötzlich verdüsterte sich Hildas Mine wieder und sie platzte heraus: „Aber er darf nie wieder Strumpfhilda zu mir sagen!“

Da musste Ernir plötzlich laut loslachen und lachte so, dass der ganze Tisch wackelte. Mutter Hilda fiel in das Lachen ein und schließlich auch Thurid.

„Ja“, rief Hilda, ich will Thurid sein, wie Thor, der es im Kampf mit jedem Gegner aufnehmen kann.

Vom Lachen abgelenkt, bekamen sie nicht mit, dass Sölvi plötzlich im Raum stand und ganz verdutzt fragte: „Worüber lacht ihr denn so verrückt? Das war ja schon zehn Schritte vor eurer Hütte zu hören.“

Er schaute fragend von Einem zum Anderen: „Hilda, du sollst zu Alvitur kommen, er will mit dir reden.“

Mit einem schelmischen Lächeln fragte Mutter Hilda: „Ich soll zu Alvitur kommen? Was will er denn von mir?“

„Nicht du, die kleine Hilda soll kommen“, dabei schaute er Hilda ernst an.

Ernir lachte wieder und Hilda-Thurid sagte fröhlich: „Hier gibt es nur noch eine Hilda und das ist meine Mutter. Ich bin jetzt ab sofort Thurid“ – und sie reckte dabei ihre Brust und hob den Kopf.

Sölvi starrte entgeistert auf die drei am Tisch. „Habt ihr auch etwas mit dem Hammer auf den Kopf bekommen? Warum veräppelt ihr mich?“

Ernir wischte sich über den Mund, weil er vor lauter Lachen gesabbert hatte und sagte dann zu Sölvi: „Niemand veräppelt dich, Sölvi, aber Hilda war mit dem Hammer vorhin wirklich eine überragende Kämpferin, so wie Thor. Du weißt doch sicher, dass man auch seinen Namen ändern kann. Aus Hilda ist nun Thurid geworden.

Du hast es doch miterlebt, dass sie einen Gegner, der einen Kopf größer ist, als sie und viel schwerer, zu Boden geschickt hat.“

Sölvi nickte überrascht. „Ja, das stimmt. Das hätte ich vorher nie für möglich gehalten“ – und an Thurid gewandt: „Bist jetzt wirkliche eine Thurid?“

„Ja, ich will jetzt für immer Thurid heißen.“

Sölvi schaute die neue Thurid mit seinen sanften Augen an, dass sie leicht rot wurde. „Thurid, dann komm.“

Er drehte sich auf der Stelle um und ging.

Thurid war sich nicht schlüssig, wie sie sich jetzt fühlen sollte, aber sie stand auf und folgte ihm.

Ernir und Hilda sahen sich an und Hilda fragte: „Was war denn das eben?“

Auf dem Weg zu Alviturs Hütte schaute Thurid unentwegt nur nach unten und lächelte ganz fein. Jetzt sah sie wieder die Gänseblümchen im Gras und dachte an Arnor.

Sölvi dagegen sah die ganze Zeit die neue Thurid von der Seite her an und fand sie unheimlich schön.

In der Kochstelle von Alviturs Hütte loderte, ein ziemlich großes Feuer und auch ein paar Öllampen verbreiteten ihre warmes Licht. Alvitur saß mit Fifilla an seinem Tisch und beide tranken gemütlich Kräutertee.

Thurid glaubte ihren Augen nicht zu trauen, denn Arnor saß grinsend auf Alviturs Fellen, auch einen Teebecher in der rechten Hand und ließ es sich schmecken.

Als Thurid in fragend anschaute, grinste er noch breiter.

Sölvi schob sie von hinten und drückte sie sanft zu Arnors Lager.

Thurid wusste auch warum.

Sie holte tief Luft, setzte sich seitlich auf den Rand. Etwas zögerlich und mit heiserer Stimme flüsterte sie: „Arnor, bitte sei mir nicht mehr böse. Ich wollte dich wirklich nicht so schlimm verletzen. Meine Wut war aber plötzlich so groß, dass ich nicht mehr richtig denken konnte. Ich wollte nur noch draufhauen.

Es tut mir so leid, dass dein Arm gebrochen ist. Schmerzt es noch sehr?“

Dann schaute sie ihn mit bittendem Blick an.

Als ihn Thurid mit ihren großen Augen ansah, wurde Arnor plötzlich verlegen und lief rot an. Er wollte ihr die Hand reichen, aber da er nur eine Hand benutzen konnte und in der war ja der Trinkbecher, hielt er ihr den Becher hin.

Thurid war in diesem Moment auch nicht ganz geistesgegenwärtig. Sie nahm den Becher und trank aus ihm.

Sölvi im Hintergrund begriff das kleine Missverständnis und kicherte leise.

Auch Alvitur verzog seine Mundwinkel, dass es schon fast wie ein Lächeln aussah.

Da begriff Thurid. Sie stellte den Becher ab und nahm Arnors Hand.

Alvitur räusperte sich. „Wie ich sehe, hast du nicht nur Kampfkraft, sondern auch ein Gewissen, das dich mit Recht geplagt hat. Aber du hast grade menschliche Größe gezeigt. Du hast hier niemandem eine Schuld untergeschoben, sondern die Hand gereicht, ohne zu zögern. Das war gut, aber ich habe auch nichts anderes von dir erwartet. Über den bösen Unfall brauchen wir also nicht mehr reden.“

Thurid fiel ein großer Stein vom Herzen und in ihr Gesicht kam wieder ihr jungenhafte, freimütige Lächeln, das Sölvi so liebte.

Dann klopfte Alvitur mit seinem Becher auf den Tisch. „Lasst uns jetzt von etwas Ernstem reden.

Ich hätte es nicht vorhersagen können, aber das was heute geschehen ist, verwundert mich nicht wirklich, wenn ich an unser letztes langes Gespräch denke, indem ich dir von den Nornen und ihrer Prophezeiung gesprochen habe.

Schau nicht so ängstlich auf Arnor. Er wird schweigen, und du kannst dir sicher sein, dass er ab heute zu denen gehört, die immer an deiner Seite stehen werden.

Ich habe lange über die Worte der Nornen nachgedacht. Du weißt ja inzwischen auch über die Bedeutung eines Verses Bescheid. Stimmt das?“

„Ja, Alvitur. Ich weiß, du meinst das mit dem eigenen Blut. Falki ist damit gemeint. Aber Sölvi ist darauf gekommen, nicht ich, doch ich habe es gleich verstanden.“

„Das dachte ich mir schon. Sölvi, ich bin stolz auf dich“, bemerkte Alvitur. Er war nie leichtfertig mit seinem Lob, und man sah Sölvi an, dass er sich darüber sehr freute.

„Nun noch mal zu der Prophezeiung, zu dem einen Vers:

… Für die Götter 1000 Jahre

begleiten sie drei Augenpaare …

Ich denke nun, dass ich weiß, wie das gemeint ist. Die drei Augenpaare, das sind drei Götter, unsere Götter, Odin, Freyja und Thor. Deine Kampfkraft mit dem Hammer kommt nicht so einfach aus dem Nichts. Du hast doch nie mit einem Hammer das Kämpfen geübt. Nun ist es mir sonnenklar, dass drei Götter dich mit besonderen Eigenschaften ausgestattet haben. Odin und Freyja ahnte ich schon lange, aber seit heute weiß ich, dass auch Thor zu deinen Beschützern gehört. Seine Waffe, der Hammer, könnte nun auch deine sein. Ich bin mir sicher, dass das heutige Ereignis sein Werk war. Wenn wir weiter denken, müssen wir uns fragen: Warum beschützen drei mächtige Götter ein Mädchen aus unserem Dorf und eignen ihr besondere Fähigkeiten zu, wie Klugheit, Wissensdurst, Schönheit und die Kampfkraft eines Kriegers? Die Antwort sehe ich jetzt ziemlich klar; weil dieses Mädchen für die Götter sehr wichtig ist. Was kann für drei, so unterschiedliche, Götter so wichtig sein?“

Alvitur schwieg einen Moment und schaute fragend in die Runde.

Wieder war es Sölvi, der mit seinem klaren Verstand das Rätsel löste. „Ragnarök?“, fragte er.

„Ja, Ragnarök, und ein Mädchen, nein eine junge Frau aus unserem Dorf, beschützt von drei Göttern, soll versuchen, Ragnarök zu verhindern, so die Weissagung.“

Geahnt hatten es fast alle, die in der Hütte saßen, aber nun hatte Alvitur es unwiderruflich ausgesprochen.

Alvitur griff über den Tisch und nahm Thurids Hände in seine. Er schwieg nachdenklich, dann kamen ihm seine Worte bedeutungsschwer über die Lippen: „Seit heute bist du Thurid. Für mich ist damit auch der letzte Schleier gefallen. An deiner Seite stehen nicht nur mutige Leute aus unserem Dorf, nein, auch drei Götter und sie werden immer ihre Hände schützend über dich halten. Ich sagte, für mich sei auch der letzte Schleier gefallen. Damit meine ich auch eine ganz bestimmte Stelle in der Prophezeiung. Du und Falki, ihr werdet es nicht leicht haben. Ich denke …, aber nein, darüber reden wir viel später. Thurid, heute bitte ich dich, nimm dein Schicksal an. Es gibt niemanden sonst, der dieser Aufgabe gewachsen ist, sonst hätten die Götter dich nicht auserwählt und mit besonderen Gaben ausgestattet. Nimm dein Schicksal an, für dein ganzes Dorf, für dein Volk, für unsere Welt, so wie wir sie kennen und lieben, denn unsere Welt ist in großer Gefahr. Ich glaube inzwischen, dass genau das mit Ragnarök gemeint ist.“

Alvitur lehnte sich nachdenklich nach hinten und schloss sein Auge, dann fuhr er fort: „Thurid, in den nächsten Jahren wird deine wichtigste Aufgabe sein, zu lernen, z.B. einen gebrochenen Arm zu versorgen und mit dem Kräutern so umzugehen, wie es Fifilla kann.“

Thurid schaute versonnen in das kleine Öllämpchen auf dem Tisch, und ohne dass sie drüber nachdachte, was sie sagte, kam es über ihre Lippen: „Ja Djarfur, ja Kylikki, ich glaube, ich habe es verstanden.“

Diesmal war Alvitur etwas überrascht und schaute Fifilla an.

Fifilla lächelte und strich über Alviturs Hand.

„Ja, Alvi, ich habe ihr von damals erzählt.“

Alvitur nickte und sagte: „Niemals hätte ich je geglaubt, dass ich so ein Bündnis erleben oder gar es zusammenschmieden würde.

Sölvi, hole mal bitte die anderen rein.“

Sölvi stand auf und brauchte nur die Tür aufmachen, da kamen schon Falki und Alfger herein.

Sie standen da, schauten mit fragenden Blicken in die Runde. Sie wussten beide nicht so recht, warum Sölvi ihnen gesagt hatte, dass sie auch herkommen sollten.

„Setzt euch“, sagte Alvitur kurz, und als die beiden Jungen saßen fragte er sie nach dem, was sie von ihrem Schicksal im Zusammenhang mit Thurid wussten.

Beide erzählten, was sie schon wussten und Alvitur erklärte ihnen die restlichen Zusammenhänge in knappen Sätzen.

Die beiden jungen Männer lauschten mit offenen Mündern und ihre Blicke pendelten zwischen Alvitur und Thurid hin und her.

„Es ist schon komisch, aber irgendwie ist das alles Vorhersehung“, und er bückte sich zu einer Truhe, die am Boden stand.

Er öffnete sie und stellte fünf Kelche auf den Tisch, die noch niemand hier im Dorf gesehen hatte. Selbst Fifilla schaute die Kelche mit großen Augen neugierig an und flüsterte andächtig: „Die sind aber schön.“

„Sölvi bringe mal bitte den kleinen, blauen Krug von hinten her. Dort wo die anderen Weinkrüge stehen.“

Sölvi war sofort wieder zurück und stellte den gewünschten Krug auf den Tisch.

Alvitur entfernte den Wachsverschluss und deutete auf den Krug: „Das ist ein sehr alter Wein und ich habe ihn für einen besonderen Anlass aufgehoben. Manchmal glaubte ich, dass er hier auf ewig verstauben würde. Ich denke, dass wir heute, mit diesem Bündnis, einen besonderen Anlass haben, der dieses Weines würdig ist.“

Alvitur schob Thurid und den Jungen je einen dieser Kelche zu.

„Sölvi, reiche uns doch noch zwei von den anderen Weinbechern und dann gieß’ bitte ein.“

Mit gespannten Gesichtern verfolgten alle am Tisch, wie Sölvi den Wein eingoss. Man sah, dass es kein Apfelwein war, denn er leuchtete in einem sehr dunklen rot.

Alvitur fuhr fort: „Nehmt eure Becher“ – und er erhob seine Stimme, wie bei einer großen Zeremonie: „Odin, Freyja und Thor, schaut auf uns. Wir lehren diesen Becher auf euch und auf dieses Bündnis. Wir schwören unser Leben für diese Aufgabe zu geben und einander auch in den schwersten Stunden beizustehen, damit unsere und eure Welt erhalten bleibt.

Trinkt!“

Die Runde am Tisch antwortete: „So sei es.“

Zwei gegen Ragnarøk

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