Читать книгу Als ein Anderer leben - Hans Jürgen Kolvenbach - Страница 10

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Wiedergeburt

Erwischt. Gerade mich. Warum gerade mich? Warum hatte es gerade mich erwischt? Nach dem Sturz, unvorhersehbar, das erste Zusich-Kommen. Musste es gerade mich treffen? Hinter verschlossenem Gesicht erwachen. Zu kurz für einen Augen Blick. Rückfall in die weiche Wärme der Ohnmacht. Die Wiederholung eines Gedankens: Musste es gerade mich erwischen? Kurz nur auftauchend aus der Bewusstlosigkeit, haltlos absinkend. Wortloser Rückzug. Den Körper bewegungslos liegenlassen. Flachgestreckt. Ein leichtes Schweben oberhalb, einen Atemhauch breit über mir selbst. Verstecktes Kauern in undurchdringlicher Wärme. Mich zurückfallen lassen in den vom Zahnarzt so oft schon angeordneten Tod. Aus den weißen Ledersesseln des Wartezimmers in ein Behandlungszimmer gerufen werden. Mich wie selbstverständlich aus dem Sessel erheben, den Körper durch zwei Türen bewegen. Den Zahnarztstuhl besteigen. Rückwärts mich nach hinten aushebeln lassen, den Blick aus dem Fenster fahren lassen, die Füße fahren lassen, den Raum fortstürzen lassen. Die Hände an den Haltegriffen erstarrt zurücklassen. Die dahintreibende Decke aus dem Blick verlieren. Die Augen unbewegt in ein konzentriertes Licht halten. Den eigenen Zustand im bestürzten Blick des Zahnarztes suchen. Zusammenkauern mich unter dem Atem der Zahnarzthelferin. Mir vom geübten Griff der Zahnarzthelferin den Kopf in ihrer Umarmung zurechtlegen lassen. Mich unerkannt in die undosierte Zärtlichkeit dienstlich gemeinter Routinegriffe flüchten. Den Mund überdehnt geöffnet halten. Die Sanftheit der Haut einsaugen, durch nichts zurückzuhalten von der Zahnarzthelferin bei ihrem dienstlichen Fingergriff hinein in mein Gebiss. Meinen berstenden Schädel in die weiche Körperwärme der Zahnarzthelferin hinüberschmuggeln, Bruchstücke wenigstens, Splitter. Meinen Körper unter den Händen eines routinierten Teams unbesorgt zurücklassen.

Hinterhereilen den Atembewegungen der Zahnarzthelferin, die ihrem dienstlichen Blick weit vorausgeeilt ist in die Abendfreiheit. Mir ihre Körpertemperatur aneignen, in der wiegenden Wärme einer nie vereinbarten Begegnung den Blick verschließen, alle Erinnerung in der Vergangenheit lassen, keinen Gedanken in die Zukunft richten, keine Zukunft erinnern, alle Pläne ungeöffnet in der Zukunft liegen lassen, mich zwischen dem Ein- und Ausatmen der Zahnarzthelferin einpendeln und ihrem Zugriff ergeben. Immer wieder der Rückzug in das versteckte Kauern im Dunkeln des kranken Zimmers. Atemlosigkeit voller Ergebenheit. Versunken über meinem verlassenen Körper schweben, zurückgezogen in die Leere meines eigenen Phantasierens.

Immer wieder das Eintauchen in die weiche Umarmung einer Frau. Den geschwollenen Mund mit der Zunge nicht austasten können. Kein Blutgeschmack, nur verstummte Trockenheit, die Zunge festgeklebt am Gaumen, ausgetrocknet. Den Versuch aufzustehen abbrechen, den Körper nicht herausfordern, Rückzug der Gedanken hinter die Undurchlässigkeit meines erstarrten Gesichts. Die Gedanken spielen lassen. Hatte ich nicht aufbrechen wollen, aufbrechen von Tropea nach Paris? Der Zahnarzt, besorgt hinter seiner Lupenbrille, muss meine Frage, die ich nicht zu sprechen vermag, Zunge verdorrt im verwüsteten Mund, er muss meine Frage vernommen haben. Der Zahnarzt, sich immer tiefer auf mich zubeugend, bleibt nicht dienstlich, hinter dem Trösten seiner Augen, hinter dem ermunternden Lächeln seiner Wangen steckt niemand anderes als mein Opa. Mein Beschützer, den ich viel zu lange schon vergessen habe. »Du musst mich nur an Land ziehen, dann bin ich wieder bei dir«, flüstert er mir so leise ins Ohr, dass uns die neugierig sich ins Bild schiebende Zahnarzthelferin nicht belauschen kann. »Du musst ziehen! Mit beiden Händen.« Er überreicht mir ein nasses Hanfseil, für mich beinahe zu schwer. Wie von ihm gefordert, ziehe ich das ungeheure Gewicht auf mich zu, muss mich nahezu nach hinten fallen lassen, damit Bewegung in dies Seil kommt. Dann aber schlangenlebendig gleitet es durch meine Hände. Endlich erblicke ich weit draußen auf dem Meer das Todesfloß, einst von mir für meinen armen erschlagenen Opa zusammengebaut. Er winkt schon fröhlicher. Sein Schädel immer noch von dem Sturz, in den die Mörder ihn gnadenlos gedrängt haben, gespalten, auseinanderklaffend, das Gehirn ungeschützt herausquellend graumassig, rot spritzend das Blut, ein Feuerwerk der Düsternis. Heftiger ziehe ich, eiliger. Ein Sturmstoß vom Meer fährt in das Segelkreuz, das ich meinem Opa aus angeschwemmten Hölzern und seinen Hemden gebastelt habe. Der Wind hilft mir mit seinem Pusten, das nicht leichte Floß durch den Eingang der Höllengrotte zu ziehen, der sich lustvoll lockend in schräger Verkantung wie die übergroße Vulva einer Felsriesin aufspannt und Fische, Schwimmer und sogar kleine Boote in die Tiefen dieser Grotte, die sich an vielen Stellen für den Himmel offen hält, verlockt. Meinem Opa schießt das Blut zurück in seinen Schädel, noch ehe die klaffenden Hälften sich wieder verschließen, schützend, wie es von der Natur vorgesehen ist, über den Faltungen seiner Gehirnmasse, die vor meinen Augen zurückverschwunden sind in den Schädel. »Hast du einen tollen Zug!« Wie macht mein Gesicht lächeln dieses Lob meines Opas, der jetzt schon im fußtiefen Wasser der zum Himmel offenen Grotte steht und seinen mittagssonnenkurzen Schatten über meinen schiebt, meinen Kopf zum weitgespreizten Grotteneingang wendet und sie herbeiwinkt. »Wie groß Du schon geworden bist, mein lieber Junge! Jetzt musst Du mich verlassen, jetzt solltest Du dich binden!«, meint mein Opa liebevoll und wie erlöst und winkt sie herbei, Catherine Steinreich. Schon sind unsere drei Schatten vereint und wir drei dann, gefolgt von unseren Schatten, in das Wasser der gemächlich tiefer werdenden Seine übergewechselt, verharren stehend im Seinewasser, stehen alle drei barfuß im vorbeiströmendem Wasser. Dies Wasser lockt nicht mehr den Blick transparent durchsichtig bis zum Grund, weist alles von sich, bräunlich-grün verschlossen. Uns an den Händen haltend, waten wir noch ein wenig zur Seinemitte hin. In Sichtweite, aber über uns aus der Erhöhung der Pont Saint-Louis auf uns niederschauend drängeln sich Freunde und neugierige Fremde. »Was gibt´s denn da zu sehen?« Ihren Beifall huldvoll aus der Brückenferne auf uns niederprasseln lassend, tauschen wir die Eheringe, mein glücklicher Opa verheiratet uns: »Bis das der Tod Euch scheidet!« Barfuß - darauf hätte keiner von uns verzichtet – barfuß. Von der gleichgültig davonfließenden Seine wird hinausgezogen Catherines Schleier, der Strömung hinterhereilend, das Seinewasser weiß bedeckend, hinausgezogen und langsam versinkend, sein Weiß überdehnt langsam verschmuddelnd, dann, unvermittelt Dich von mir wegziehend. Verschluckt, alles verschluckt, selbst die schmuddelige Strömung grün-bräunlich, verschluckt.

Steiler scheint die Sonne aus ihrer höchsten Mittagshöhe in den hinteren Teil der Grotte Inferno, die an dieser Stelle ihre Felsdecke abwerfend sich landeinwärts zieht und Wanderer, manchmal aber auch die Wildziegen des Cap de Creus verlockt, einen Blick über die Felsenkante in ihr tiefes Abwärts zu werfen und aus abgesichertem Anklammern an verkrüppeltes Gehölz das Schaudern aus der Tiefe der Höllengrotte, wie ein catalanischer Aberglaube sie vor Jahrhunderten genannt hat, einzusaugen.

Zu gerne hätte ich die Augen geöffnet, meinen Opa zu sehen und anzufassen, aber nur meine Ohren tun noch ihren Dienst, streunen von meinem Leichnam weg, den das Meer ausgespuckt hatte, wie ich erst Wochen später erfahren sollte, keineswegs unterhalb der herrschaftlichen Häuser Tropeas, sondern Kilometer entfernt ganz am Ende des Capo Vaticano, wo das kaktusbewehrte Land sich auf staubigen Trampelpfaden abwärts aus seiner Höhe zum Meer hinabbegibt. Aus Überdruss am Schleuderspiel mit mir entblößtem Menschlein, oder weil das Meer sich zu schade war, mir mit seinem kostbaren Salzwasser die Lunge zu fluten und mich zu ersticken, oder einfach nur ohne jeden Anlass aus purer Gleichgültigkeit musste das Meer mich ausgespieen haben auf den Sand, mit dem der Strand sich seit Jahrhunderten unmerklich immer weiter auf die im Hintergrund steil ansteigende Höhe des Capo Vaticano zubewegt, abgeworfen hinter einem silbrig-weiß abgeschälten sich lasziv gelangweilt dahin streckenden riesenhaften Holzstamm.

Selbst wenn sich mein Opa aus meinem Blick entfernt hatte und ich nur noch zu schweben schien im auf- und abschwellenden Atmen der Zahnarzthelferin, vermochte ich meine Augen nicht zu öffnen, meine Hand, die irgendjemanden herbeiwinken wollte, nicht zu bewegen und auch kein Rufen hinauszuschicken aus meinem verdorrenden Mundraum. Allein meine Ohren, die Streuner, mussten sich mehrmals in diesen ungezählten Tagen erkundend von mir weg bewegt haben. Ich erinnere die unsichere Kinderstimme, die forderte, sich schleunigst von mir nacktem Mann wegzubewegen, ehe die Kindergärtnerin diese unerlaubte Nacktheit mitbekäme: »Don`t say fanny more nakedly once again. Your then get in the bad corner. Shoot away here. The nursery-school teacher mustn`t see us with the naked man here, otherwise she makes us stand in the bad corner.« So oder so ähnlich müssen die Stimmchen geklungen haben.

Ich wollte mit meiner Hand diese Kinderstimmen näher auf mich zu winken. Vermutlich aber bewegte sich keine Hand, die den Kindern hätte bedeuten können, dass dieser über den ganzen Körper hin blutig zerschundene nackte Mann ohne jeden weiteren Zeitverlust hätte gerettet werden sollen, auf einer Trage abtransportiert in das nächste Krankenhaus. Dass die Kinderstimmchen sich entfernten, berührte mich nicht, ängstigte mich nicht, wie ein Zuschauer hätte befürchten müssen, der von einem Standpunkt oberhalb Zeuge dieses kindlichen Unverständnisses geworden wäre. Vor dem Verlassensein keine Angst. Bedrängend aber, als viel zu nahe an meinen Ohren Pistolen- oder Gewehrschüsse wohin auch immer abgefeuert wurden und Jungenstimmen in unangenehm krächzendem Umbruch die von ihnen selbst für verrückt gehaltene Idee durchspielten, endlich einmal auf einen echten menschlichen Körper zielen zu können, ohne eine Bestrafung fürchten zu müssen. »Wer seinen Bauchnabel trifft, hat gewonnen. Sollen wir?« »Oder nehmen wir sein Arschloch aufs Korn?« Zu gerne hätte ich gerufen: »So haltet doch bitte ein! Barmherzigkeit!« Hätte mit beiden Händen abwinken wollen. Doch meine Zunge war weiterhin verklebt mit dem Gaumen in totaler Verdorrtheit oder sogar schlimmer noch mit meinem Mundraum für immer im Ganzen versteinert. Meine Hände ließen mich nicht wissen, ob sie sich bewegt hatten. Vielleicht hatte meine Verängstigung schon geholfen und die Schießwütigen vertrieben. Vielleicht hatten sie sich auch nur davongestohlen, weil sich eine Gruppe von Jungmanagern vom Meer her annäherte. Einige nordeuropäische Firmen liebten es, ihre erfolgreichsten Controller mit einem Survivaltraining tief im Süden des italienischen Stiefels zu belohnen. Vielleicht war solch eine Gruppe im Meer durch das gezielte Kentern eines Bootes in voller Bekleidung verkippt worden mit dem Auftrag, sich zur Küste durchzuschlagen und dort ohne Wasser und Nahrung sieben Tage lang das Überleben eigenhändig und ganz allein auf sich selbst gestellt zu sichern. Der Anführer dieser Gruppe jedenfalls schien mich für eine gezielt hinter dem abgeschälten Silberstamm platzierte Versuchung der sozialen Art zu halten. Immer, wenn einer der Überlebenden sich meinem zerkratzten und von getrockneten Blutstreifen überzogenen Körper näherte, warnte er, dass nur der Mensch überleben könne, der ohne jedes Mitleid für sich selbst zu sorgen wisse. »Lasst euch auf keinen Fall und durch nichts verführen. Einfühlung und Mitleid, Mitleid, Einfühlung, Barmherzigkeit. Das sind die schlimmsten Untugenden beim Überlebenstraining. Diese traurige Figur soll euch die Kräfte rauben, die ihr am siebten Tag noch mehr als dringend für euer eigenes Überleben werdet aktivieren müssen. Versucht nur nicht, den barmherzigen Samariter zu spielen. Es geht jetzt nur noch um Euch. Finger weg von dieser dilettantisch schlecht gespielten und albern kostümierten Wasserleiche.« Meine Hände hätten diesem Redner den Mund verschließen sollen, doch wahrscheinlich bewegte sich weder meine linke noch meine rechte Hand auch nur millimeterweit. Meine Zunge sowieso blieb steinern stumm gelähmt. Nur meine Ohren spionierten für mich, konnten aber keinen Notruf senden. Von außen gesehen hätte ich in lauter Schmerzen verzweifelt mich fühlen müssen, lag aber beinahe gleichgültig, ohne jeden Antrieb, meine Lage zu verändern. Immer wieder wendete ich mich ab von den Entdeckungen meiner Ohren und ließ mich fallen in die undosierte Zärtlichkeit der Zahnarzthelferin, die sich zu meiner Beglückung das tröstliche Lächeln meines so lange verschollenen Opas aufgesetzt hatte. Immer neu eintauchend in bergende Ohnmacht.

Als ich mich ganz zweifellos in einem Bett wiederfand, als ich ein Zimmer um mich herum zu fühlen glaubte, als kein Zweifeln mehr sein konnte, dass ich vor dem Ertrinken gerettet worden war, überraschten mich meine Ohren - diese wohl durch nichts ruhig zu stellenden Spione - mit der Nachricht, dass die Menschen, die in meinem Zimmer aus- und eingingen, der festen Ansicht waren, sich in Frankreich zu befinden und bereit und fähig waren, in typischen französischen Warenhäusern das zum Leben Notwendige einzukaufen: bei E. Leclerc, bei Auchan, bei Super U, bei Monoprix und Intermarché. Aber wieso sprachen diese Franzosen immer nur Italienisch? Ich beschloss, meine Augen verschlossen zu halten, unbewegt auszuharren. Ich beschloss, trotz der Stimmen, die sich um mich zu bemühen schienen, meine Augen auf keinen Fall zu öffnen. Nur meine Ohren ließ ich ausschwärmen, spionieren, so weit mein Hören reichte und fähig war, die ungewohnten Geräusche und Stimmen auseinander zu halten, zu sortieren, zu filtern und in meinem verwirrten Kopf Einsichten zu erzeugen. Obwohl ich keine Schwierigkeiten hatte, die Italienisch sprechenden Stimmen aufzunehmen und den Sinn des Geredes zu erfassen, wurde ich immer neu abgelenkt von meinen Horchversuchen, weil tief aus mir selbst Vorstellungen aufstiegen, die so wenig zu ertragen waren, dass ich mich mehrfach gedrängt fühlte, die Augen aufzureißen und mich an diese unzweifelhaft fremden Italiener auszuliefern, in der Hoffnung, dann von den bedrängenden inneren Bildern weggerissen zu werden in eine erlösende Wirklichkeit. Weil ich aber, aus welchem Grund auch immer, meine Augen nicht aufriss und durch keine auch nur minimalste Bewegung meines Körpers den mich umgebenden Menschen mein Erwachtsein verriet, verharrte ich wie tot in tiefem Gekränktsein, dass mein Schwimmertod es versäumt hatte mich aus diesem Erdenleben zu reißen, nicht gnädig genug gewesen war, alle meine Erinnerungen wie ein Katze im Sack zu ersäufen. Das war nicht barmherzig, das war die sadistische Ironie eines Weltgeistes oder das gleichgültiges Zufallsspiel der hin- und wider rollenden Meereswellen. Statt mich im tobenden Mittelmeer zu ersäufen oder wenigstens meine Vergangenheit wegzuspülen, den nicht ohne meine Schuld am Capo Creus brutal ermordeten Opa, die von mir ohne jede Nachricht in Ungewissheiten zurückgelassene geliebte Frau, spuckten mich die Naturgewalten in ein neues Leben hinaus, aber nur, um mich im gleichen Augenblick in verlorene Erinnerungen zurück zu katapultieren und mich an wildfremde Menschen auszuliefern. Und wie nur konnte ich, in Italien ertrunken, plötzlich in Frankreich zum Leben erwachen. Oder erlitt ich einfach nur ein Zufallsspiel meines Gehirns? Vielleicht träumte ich lediglich den Wirrtraum einer verhinderten Wasserleiche? Gerade weil ich die Augen umso fester verschlossen hielt, je bedrängender die Erinnerungen und die Zimmergeräusche auf mich einstürzten, vermochte ich nicht vorbei zu blicken an Deinem zögernden Lächeln und Deiner zärtlich tröstenden Hand, mit der Du damals meine Wange berührtest, ehe wir uns zusammentaten.

Die so zögerlich, aber doch zärtlich auf mich wartende Frau, ohne Zweifel die erste und einzige Frau, mit der ich mich verheiratet hatte, die in diesem Moment, wo auch immer, enttäuscht von mir lebte und vielleicht immer noch innerlich entsetzt, der ich ohne jede Nachricht nicht mehr zurückgekehrt war nach Hause. Vermutlich wartete sie irgendwo, fern oder nah, wartete in Gram auf mich oder hatte mich abgeschrieben, vielleicht sogar vergessen, was ich aber nicht glauben wollte, was nicht sein konnte, bei der Heftigkeit und Zärtlichkeit unseres Verliebtseins.

Wechselseitig hatten wir uns das Leben retten müssen mit Gewalt und List mitten in den Straßen von Paris. Im Seinewasser barfuß stehend, hatten wir geheiratet, bis dass der Tod uns scheidet, unzweifelhaft. Wie sie mich gesucht hatte nach meinem Verschwinden, ob sie immer noch mich suchte, verzweifelt vielleicht, konnte ich nicht wissen. Jetzt aber, wer immer mich an Land gezogen hatte, in diesem Augenblick, gleichgültig, in welchem Bett, in welchem Haus, an welchem Ort ich liegen mochte, jetzt aber beschlich mein Innerstes immer neu die Trauer, dass ich leider noch nicht tot war. Ich wagte nicht, die Augen zu öffnen, um zu erkunden, wo ich angeschwemmt worden war.

Meine Lebendigkeit ließ sich nicht länger versteckt halten, als ein unmäßiger Wasserschwall nass und kalt über mein Gesicht hin spritzte, gegen meinen unerschütterlichen Vorsatz meine Augenlider aufschreckte und allen, die sehen konnten, die Wiedergeburt meiner Blicke verriet. Zimmerwände sah ich noch nicht in diesen ersten Blicken aufwärts, übergroß jedoch den Weihwedel, mit dem der Priester über mir fuchtelte, an mir vorbei alle bespritzte, die sich der Prozession angeschlossen hatten. Ich sah schönste Stuckausfaltungen unterteilen die Decke, die einen weiten Raum überspannte, so weit ausgespannt, wie ich noch kein Zimmer in einem Privathaus erlebt hatte. Die Wände sah ich nicht, weil ich immer noch flach auf meinem Rücken hingestreckt lag, wohl aber zeigten mir meine ersten Blicke, dass ich Teilnehmer meiner eigenen Beerdigung sein musste. Einer kaum vorstellbar kostbaren. Mein Bett, ausgeschlagen mit wildseidener Bettwäsche in Weiß trieb inmitten eines ausufernd großen Raumes. Ein leichtes Erheben meines Oberkörpers, noch ohne mich mit den Händen aufzustützen, brachte mir eine solche Unzahl von Kränzen vor die Augen, Goldlorbeer bespannt und wehende zweigeteilte Kranzschleifen in den Raum spreizend, auf denen in mir kaum verständlichem Italienisch vermutlich zu meinem Gedächtnis, sei es dem stillen oder dem liebenden, aufgerufen wurde. Angerufen wurde, in dem Augenblick, in dem ich die Augen öffnete, von Männern und Frauen in größter Verzückung die Mutter Gottes Maria, die mich zu neuem Leben erweckt haben musste. »Egli vive, egli vive, ringrazio Santa madre di Maria, ringrazio santa Vergine Maria. Egli vive, lui vive, egli vive!« Ohne mich weiter zu beachten, fielen die Menschen, die mein Bett in dieser Prozession schon eine Weile umschritten haben mussten, sich in die Arme, küssten sich. Die Jüngeren küssten Älteren die Hände und riefen immer neu: »Egli vive, egli vive. Un miracolo, cosa un miracolo.« Durch die weite zweiflügelige Zimmertür sah ich, als ich mich aufstützte in meinem Totenbett, Neugierige hinzuströmen, die noch nicht verstanden hatten, welch ein Wunder sich wenige Sekunden vorher ereignet haben musste. Ich, die Wasserleiche, war dank der Gebete zur Muttergottes, dank der Gnade der Jungfrau Maria ins Leben zurückgekehrt. Das wollte jeder gesehen haben. Zu meinem Glück übernahm der ganz in Schwarz gekleidete Priester wieder die Führung der Prozession, brachte eine junge Frau dazu, mir zunächst unzählige Kissen hinter den Rücken zu drücken, so dass ich endlich der Mutter Gottes und ihrem Sohn von Angesicht zu Angesicht gegenüber saß. Der Priester wies die vier Träger strickt an, die Trage mit der Muttergottes eine Weile nah an mich heranzuhalten. Tatsächlich schaute eine durchaus nachdenkliche Muttergottes aus etwas schlitzigen und leicht aufgeschwemmten Augen mit sorgendem Mund von oben auf mich herab, bekümmert, nicht arrogant. Ich wusste nicht zu entscheiden, ob sie mein Leiden teilte oder das ihres Sohnes, der nicht wie gewöhnlich als pralles Baby an ihrer Brust oder auf ihrem linken oder rechten Arm ruhte, sondern ähnlich erwachsen wie ich über ihren Schoß gebreitet lag bis in ihre Arme dahingestreckt von ihr gehalten wurde, sehr bleich und sehr tot, leider mit einem übergroßen Schwert in seinem Herzen und blutdurchnagelten Händen, mit denen er bestimmt in weit gräußlicherem Entsetzen als ich an einem Kreuz aus Holz hatte hängen müssen.

Wie ich erst viel später erfuhr, öffnete ich genau in dem Augenblick meine Augen, als es einem fünften Träger gelungen war, endlich die Autobatterie, die unter dem Rock der jungfräulichen Mutter Gottes unauffällig verborgen war, mit dem Lichterkranz der Jungfrau zu verdrahten und dadurch ein heftiges Strahlen der göttlichen Mutter auszulösen. Es konnte also für die Teilnehmer der Prozession wirklich kein Zufall sein, dass die Erleuchtete den seit Wochen wie tot Aufgebahrten ins Licht und ins Leben zurückgeholt hatte. »Egli vive, egli vive, ringrazio Santa madre di Maria, ringrazio santa Vergine Maria. Egli vive, lui vive, egli vive!« Bereits wieder erschöpft, hielt ich mich noch aufrecht, von den Kissen gestützt und von einer jungen Frau, die der Mutter Maria gar nicht so unähnlich, Übung darin zu haben schien, den aufgebahrten Wiedererweckten zu stützen, zu pflegen und ihm mit Tüchern, gefeuchtet mit ätherischen Ölen der Macchiapflanzen, Linderung auf der Stirn, den Handoberflächen und um den Hals herum zu verschaffen. Ich achtete aber in meiner Kraftlosigkeit weniger auf diese um mich bekümmerte Frau, gab ihr auch mimisch kein Dankeszeichen, sondern hatte nur Augen für die Prozession, die nun wohlorganisiert von dem voranschreitenden Priester mein Bett in sehr langsamen und feierlich hoppelnden Wechselschritten immer neu umrundete, in sehr gezierten Schritten, die dicht gedrängten Teilnehmer alle in den gleichen Schritt verfallend, wellenartig dahinschreitend, die ganze lange Menschenkette auf- und niederschwankend, auch mich, obwohl ich fest im Bett platziert war, in eine Trance versetzend, in der alles Entsetzen von mir abgefallen war und ich wie ausgelöst aus allen Bindungen in Wohlgefallen zu schweben schien. Ich nahm, als wäre dies alles immer so und immer in dieser Weise um mich herum in gleicher Abfolge angeordnet gewesen, alles hin wie unabänderlich. Die beißend verwirrenden Gerüche, die ein Ministrant mit dem Weihrauchfass, immer neu in Schwung gewedelt, in meine Richtung ausschwenkte, die aufmunternde Nässe des Weihwassers, mit dem der Priester eigenhändig alle Teilnehmer und mich immer neu zu reinigen versuchte, die von einem Vorbeter immer anders variierten Dankeslitaneien, die aus diesem für mich so unermesslich großen Raum hinaus tönten durch die weit aufgestoßenen Fenster. Gar nicht lösen mochten sich meine Augen von dem äußerst geordnet sich abwickelnden Defilee, das im unablässigen Kreisen der Prozession um mein Bett jeden männlichen Teilnehmer in geordneter Abfolge für einen Moment unmittelbar vor die Mutter Gottes brachte, so dass er zunächst ihren Fuß küssen konnte, der auf einer liegenden goldenen Mondsichel aufruhte, dann aber sich aufreckend ihr auch einen Geldschein unterschiedlichster Farbe und Größe und manchmal sogar Dollarscheine mit einer Wäscheklammer an den himmelblauen Schal aus Seide zu stecken vermochte. Einem Schal, der aus wirklichem Stoff gearbeitet war und die Holzstatue offensichtlich nicht nur vor Zugluft schützen, sondern ihr auch den menschlichen Lohn für ihre gütigen Wundertaten eintragen sollte. Ich schwebte selbstvergessen in all diesen Ereignissen, als wäre ich immer schon ihr Mittelpunkt gewesen. Wenn überhaupt ich einen Gedanken dachte, dann wohl den, dass man ja nun die kaum zu zählenden Beerdigungskränze aus den Fenstern werfen könnte, doch da fiel ich überanstrengt durch ein so mächtiges Wunder in eine heilsame Ohnmacht.

Als ein Anderer leben

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