Читать книгу Als ein Anderer leben - Hans Jürgen Kolvenbach - Страница 15

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Unter der Bettdecke - Verschwiegenes

Ich blieb erregt alleine mit all meinen Fragen unter meiner Bettdecke zurück, viel zu wach, zu unruhig, im Bett liegen zu bleiben, wagte jedoch nicht, aufzustehen und meine Retter erneut zu erzürnen. Als die Neumondnacht mit all ihrer Dunkelheit mein Zimmer eingeschwärzt hatte, es vor meinen Augen dunkler nicht werden konnte, fühlte ich eine menschliche Person sich mir nahezu geräuschlos annähern, spürte ihren Finger meine Lippen verschließen, merkte am behutsamen Fingerdruck, dass es die mir gut gesonnene Zwillingsschwester sein musste, die sogleich mit ihren weichen Lippen mein Ohr verschließend eine Nachricht einflüsterte, die ich nicht verstand: »Psst, niemand darf uns hören! Wenn sie mich bei Dir erwischen… Wir werden liquidiert, beide auf der Stelle. Ich komme, um mich für meine Familie zu entschuldigen.« Weiter kam sie nicht. Ein aus der Stille der dunklen Nacht immer lauter heranpolterndes Geräusch hatte sie von meinem Bett vertrieben. Ich hatte keine Vorstellung wohin. Verschluckt war sie von der Finsternis wie alles andere um mich her. Nicht das Fußende meines Bettes, nicht einmal meine Hand vor den Augen hätte ich sehen können, bis plötzlich überhell alle Lichter meines Zimmers mit einem Schlag eingeschaltet wurden von zwei Pflegern, die in bedrohlichen Körperbewegungen das weitläufige Zimmer durchsuchten, sich verwunderlicher Weise um mich und meine offenen Augen nicht kümmerten, ihre Suche dann erfolglos abbrachen, im Verschwinden, ohne einen Blick an mich zu vergeuden, sogar auf den Boden sich niederbückten und ein Stück weit unter mein Bett robbten, dann alle Lichter wieder ausschalteten, so dass ich unvermittelt in noch schwärzere Nacht mich zurückgestoßen fühlte.

Es dauerte, bis erneut zwei Finger meine Lippen behutsam tastend verschlossen. »Das war knapp. Hätten sie mich aufgespürt, wir wären schon tot. Ich krieche jetzt unter deine Bettdecke, aber nur, weil ich mich bei dir entschuldigen will und weil ich nicht bei dir gefunden werden darf, nur deshalb. Bitte! Verrate mich nicht!« Während sie sich zu mir gesellte in das weite Bett und unter mein Seidenbettzeug, schien sie ihre größte Mühe darauf zu verwenden, sich so an mich zu schmiegen, dass an den Wölbungen des Bettzeuges nicht abzulesen war, dass ein zweiter Mensch sich darunter verborgen hielt. Trotz ihres Untertauchens hielt sie ihren Mund erregt meinem Ohr lippennah für ihre Einflüsterungen, die sie los werden musste, obwohl ich den Sinn kaum verstehen wollte. Am nächsten Tag schon würde ich sterben müssen. In der nächsten Nacht schon würde meine Leiche, eisenkettenbeschwert in die Seine verkippt werden. Alles, weil ihre Schwester den Vater hatte misstrauisch machen können, dass ich mich in die Familie hinterlistig hineingetaucht hätte, dass ich gar nicht sein Sohn Domenico sei, dass ich irgendein unbekannter angeschwemmter Deutscher oder Franzose sei, ein Fremder, ein straniero. Aber letzte Chance, die mir nichts nützen würde, der Vater wollte, vorsichtshalber und weil er sich immer noch danach sehnte, in mir seinen Sohn Domenico mit Hilfe der Heiligen Mutter Gottes Maria wieder zu beleben, vorsichtshalber wollte er mich am nächsten Tag an einen Lügendetektor anschließen lassen. Das aber, so ließ sie mich wissen - ihr Mitleid verriet sich bis in den Stimmton -, würde mich nicht schützen, hätte nur aufschiebende Wirkung, denn auch sie wusste ja, dass ich nicht der auferstandene Domenico, nicht ihr Bruder sein konnte. Sie aber hätte so gerne den Vater im falschen Glauben gelassen. Mich erst einmal zu retten, war alles, was sie im Sinn hatte. Noch ehe ich eine Frage zu diesen ungeheuerlichen Neuigkeiten formulieren konnte, musste sie verstummen und zur Tarnung vor dem nun schon auf fünf Personen angewachsenen Untersuchungstrupp, der, alles Licht entzündend, zu neuem Kontrollgang in mein Zimmer gestürmt kam, sich mit ihrem Schoß unter meinen Po drängen und ihre Brüste dichter an und unter meinen Rücken pressen, als es einem Liebespaar angenehm gewesen wäre. Ich ließ recht dreist die Augen offen. Weder die vier Pfleger noch die böse Zwillingsschwester hatten auch nur einen Blick für mich. Sie suchten die Verräterin, die sie im ganzen Haus nicht hatten aufspüren können. Sie krochen unter mein Bett. Sie öffneten die vielen Schränke, rissen die Damast- und die Seidenbettwäsche achtlos aus den tiefen Regalen, von der Absicht getrieben, die Versteckte, die sich dahinter gut hätte verbergen können, endlich zu entdecken. Auf einer Stufenleiter stieg die böse Schwester sogar an jedem der zahlreichen Schränke aufwärts, prüfend, ob nicht hoch oben hinter der barocken Schrankblende die mit dem Fremden paktierende Schwester sich versteckt haben könnte. Konventionalität im Denken und die Gewissheit jenseits jeden Zweifels, dass eine jungfräuliche Italienerin niemals mit einem fremden Mann Körper an Körper gepresst im Hause ihres Vaters in einem Bett sich herumtreiben könnte, hinderten die fünf Scharfrichter daran, mein Bettzeug von mir wegzureißen und unsere zu dicht aneinander gepressten Körper in all ihrer selbstverständlichen Schamlosigkeit zu entblößen. Nachdem dieser zweite Suchtrupp festgestellt hatte, dass nicht einmal unter meinem Bett sich jemand versteckt hielt, verschwand er, erneut mein Zimmer mit wenigen Handbewegungen in tiefste Finsternis versetzend. Meine Bettgenossin wagte keinen Ausbruch aus ihrem Versteck, lockerte aber die Annäherung ihrer Brüste und ihrer Schenkel an meinen Körper. Nur ihren Mund hielt sie dicht an meinem Ohr, denn sie wusste, dass uns beiden einzig diese Nacht noch blieb. Endlich ließ sie mich mit Fragen in ihren Redefluss eindringen. Auch ich nicht frei in den Raum sprechend, sondern nur, nachdem ich meinen Mund so dicht an ihr Ohr geführt hatte, dass ihre Haare meine Wangen und mein Gesicht zart, manchmal auch kitzelnd umspielten. Die Nacht mit all ihrer Dunkelheit hatte keine Eile. Als über längere Zeit kein Suchtrupp mehr in mein Zimmer eingerückt war, empfand ich, gerade weil sie einen Hauch von mir abgerückt war, die Nähe ihres Körpers, der ungehemmter noch als an den früheren Tagen in mich einströmte und ewig nicht verspürte Lust entfachte. Ohne jede Gegenwehr fühlte ich meinen Körper antworten, weich dahin schwebend, verspürte dies kaum erklärliche Widerspiel in meinem Leib, der sich auf Wellen, die von ihr ausgehen mussten, tragen und heben ließ und ihr diese Annäherungen zurückspielte, so dass wir uns in ein wechselseitiges Körperschweben versetzten, obwohl ich festen Willens war, Daumen und Mittelfinger meiner linken Hand nicht von meinen Ehering mit der kleinen Muschel zu lösen, obwohl ich für immer treu sein wollte. Weil die mir so zugeneigte gute Zwillingsschwester einen ganzen Roman in dieser Nacht an mich übermitteln musste, waren wir in ein Gespräch verwickelt, welches nur Mund überdicht am fremden Ohr geführt werden konnte, in unbewegter Lage unter der sorgsam eingefalteten tarnenden Bettwäsche, so dass wir keine strenge Aufsicht über unsere Körper zu führen vermochten. Zwei Körper, die sich mit ihren Annäherungen und Sympathiewallungen und der sich mehr und mehr erhitzenden Haut durchaus auf selbstbestimmte Weise zu unterhalten wussten. Immerhin disziplinierte die so unbeaufsichtigt unter der Bettwäsche auf verbotene Nähe zusammen gerückten Körper eines Mannes und einer Frau die unbestimmt drohende Möglichkeit, dass ein weiterer zorniger Suchtrupp in dies Zimmer hineinstürmte, alles in entlarvende Helle versetzend, disziplinierte vorläufig jedenfalls. Catherine, wenn Du diesen Roman in einer Buchhandlung entdeckst, Dich bitte ich weiter zu lesen ohne Groll.

Immer neu führte ich, als griffe ich nach dem winzigen Zipfel einer Erinnerung, meinen Daumen und Zeigefinger zu dem Ring mit der kleinen Muschel und bestand darauf, dass ich verheiratet sei mit einer Frau, auf deren Wiedererscheinen ich warten wolle, ein Wiedererscheinen, das eintreten muss.

Versuchen will ich zu erklären Dir, mit der ich mich eins fühle, auch wenn das Wüten des Meeres uns auseinandergerissen hat, dass in der blicklosen Dunkelheit dieser Nacht unsere Körper sich auf eine Weise verselbstständigt haben, die ohne unsere Nachtblindheit kaum denkbar gewesen wäre. Immer nur im hellsten Licht habe ich Dich, meine Frau, die meine Hand durch ihren kleinen Muschelring an meinem Ringfinger untrennbar umklammert hält, geliebt. In der ersten Märzsonne, die durch kleine Fensterluken auf unser Ausziehbett fiel, im heißen Sand der Augustsonne oder unter den künstlich beleuchteten Monden aus Japanpapier, die zu jeder Jahreszeit durch unseren Schlafraum schwebten. Einer Meinung waren wir vom ersten Tag an, dass wir die Licht-aus-Liebe unserer Eltern nicht akzeptieren wollten, dass wir keine Sorge hatten, einander liebend, körperliche Defekte besonders vergrößert und NAH sehen zu müssen. Wir wollten alles sehen, hellwach und mit weiten Augen, während wir uns ineinander versenkten. In dieser Nacht, in der die mir so wohlgesonnene junge Frau sich in meinem Bett hatte verstecken müssen, nah an mich gedrängt, um mir den ganzen Roman Stück für Stück zu erzählen, warum ich zu ihrem Bedauern am nächsten Tag hingerichtet werden würde, in dieser Nacht erlebte ich zum ersten Mal die Liebe, wie Blinde sie vermutlich erleben. Körperlicher, leiblicher, fleischlicher ist diese Liebe, ohne Bildphantasien, ohne Vergrößerung der lustvollen Augen-Blicke, frei vom wissenden Wollen. Liebe der verschlossenen Augen. Deshalb muss ich Dich, Catherine, bitten, nicht zu schmollen. Es spricht nicht gegen Dich, dass du mich nie so schwach hast machen können wie diese Todesbotin. Auch wir haben uns immer im Licht gesehen. Selbst wenn die Wärme des Juli oder des August und die Blendung einer wolkenfreien Mittagssonne mich sehnen machte nach Deinem Körper, dessen Auf und Ab und dessen gleitende Bewegtheiten in Deinem gespannten Gang aus der Hüfte meine Blicke häufiger mit sich zogen, als Du vielleicht ahnst, so blieb doch immer mein Verstand und mein Wille - nur knapp oft genug - Herr über die aufsteigenden Empfindungen. Ich wusste, dass ich nur mit meiner Frau, die nicht für immer verloren sein konnte, durch das irdische Chaos gleiten wollte. Ein Chaos, das sich seit dem Urknall so sehr ausgedehnt hat und zu seiner Selbstbelustigung uns Menschen aus dem Affenkäfig hat entspringen lassen. Auch Dich, meine angetraute Frau, die in mein Erinnern zurückgekehrt ist durch meine Wiedergeburt aus dem tobenden Mittelmeer, Dich, Catherine Steinreich, Dich bitte ich, mir diese eine Nacht nicht zu verübeln, denn du musst mir glauben, dass ich sie nicht selbst zu verantworten habe. Näher an meinem Ohr waren noch nie weibliche Lippen gewesen. Erschreckender hätte der Kontrast nicht sein können zwischen der Zärtlichkeit dieser sich anschmiegenden Botin und ihrer Nachricht, dass ich mit Gewissheit nur noch wenige Stunden zu leben hatte und niemals die Dunkelheit einer folgenden Nacht würde erleben können, schon gar nicht den langen Weg, den der Mond zurückzulegen hat, bis er wieder aus ganzer Fülle weiches Silberlicht über Wälder und Städte fließen lässt. Rätselhaft bis heute ist mir, wie schwer es mir fiel, die Todesdrohung überhaupt zu verstehen. Nicht für eine Sekunde erschauerte ich so, wie es meiner Lage angemessen gewesen wäre. Mag sein, dass mich die Neuigkeiten des Romans, den die Lippen mir zuflüsterten, zu sehr von mir selbst ablenkten oder dass ich - nicht ohne heimliche Zustimmung - die Verstrickung unserer Körper in näherndes Auf und Ab, in Erhitzung und neckende Berührungen genoss. Ich erfuhr, dass ich nicht am Strand unter den aufragenden Häusern Tropeas gerettet worden war, sondern Kilometer entfernt am Capo Vaticano, klafftertief exakt unter der letzten Ruhestätte des Bruders Domenico, dessen Grabengel aus feinstem weißen Marmor vom höchsten Hügel des Capo Vaticano aus über das in immer neuen Wellen ans Ufer schwappende Mittelmeer bis zum Stromboli blicken konnten. An der selben Stelle hatte der Vater, genau ein Jahr, bevor er meinen nackten Körper leblos in der Tiefe des Strandes hinter einem weißen Baumstamm erblickte, seinen Sohn Domenico hingerichtet mit seinem Dolch, weil der allen Mahnungen des Vaters, allen Klinikentzügen zum Trotz von seiner Drogensucht nicht hatte lassen können und sogar zur Schande seines Vaters und der ganzen Familie Barone sich von den Comercis, einer Familie, mit der man seit Menschengedenken in Fehde und Feindschaft lebte, hatte einspannen lassen als Drogenkurier für den südlichen Bereich. Zu lange zu viel hatte Domenico sich herausgenommen, den Vater hintergehend, die Weisungen des Vaters missachtend, bis dann Gott dem Vater einen Weg gezeigt hatte, die beschmutzte und zerstörte Ehre durch Blut wieder herzustellen und strahlen zu machen. Nicht nur von den Nachbarn, sogar vor Gericht war der Vater freigesprochen worden dafür, dass er an einem Sonntag im Abendlicht der rot sich hinter den Meereshorizont zurückziehenden Sonne Calabriens den Sohn Domenico meinte auf den höchsten Hügel des Capo Vaticano führen zu müssen, ihm ein letztes Bittgebet im Anblick der untergehenden Sonne gestattet und gnädig ihm die Augen verbunden hatte, um ihm dann den langstieligen Dolch mit einem Stoß durch die Brust ins Herz zu stoßen, darin heftig umdrehend, damit der Sohn keinen Schmerz mehr erleiden musste. Auch das Gericht hatte anerkannt, dass der Vater zur Reinigung der Ehre seiner alteingesessenen Familie meinte bringen zu müssen Gott dieses blutige Opfer, welches ihm, dem Täter, am schwersten zugesetzt hatte, schwerer gewiss als dem geopferten jungen Mann, drogenabhängig. Ein Jahr Strafe auf Bewährung, aber nur formell gemeint, weil der Vater es verzeihlicher Weise versäumt hatte, die staatlichen Instanzen nach geltendem Recht mit dem Fall zu befassen. Als ihre Lippen mir dieses Familiengeheimnis eingeflüstert hatten, erregte ich mich weniger über den ungeheuerlichen Übergriff eines Vaters, der sich mit dem Glorienschein eines Reinigers und Wiedergutmachers schmücken wollte, obgleich er nur feiger Mörder seines Sohnes war. Mich packte der für mich vollkommen neue Gedanken, dass ich in diesem Augenblick in diesem Bett nur lag, weil ein abergläubischer Italiener mich irrtümlich für die Reinkarnation seines Sohnes Domenico gehalten und kein Mittel gescheut hatte, mich durch ärztliche Kunst und Fürsorge vom Ertrinkungstod ins Leben zurückzuholen. Ehe ich das Staunen über mein wunderliches Schicksal in detailliertere Überlegungen weiter treiben konnte, machte die junge Frau, die wohl ähnlich wie ich in dieser dunkelsten aller Nächte und in der sich steigernden Hitze unter der unser Beisammensein tarnend verdeckenden Seidenwäsche auf die willentliche Herrschaft über ihren Körper verzichtete, machte die junge Frau ein Erlebnis zum Thema, über das sie noch nie mit jemandem gesprochen hatte. Ein Erlebnis, das sie nur in sich selbst immer neu erwogen hatte, das wohl nur in dunkler Nacht mit geschlossenen Augen einem wie mir gestanden werden konnte, weil wir uns so nahe geworden waren, dass die Entfernung ihrer Lippen zu meinem Ohr schon als weite Distanz hätte gelten können. Die junge Frau machte mir ein Geständnis, nicht weil ich das, was sie mir einflüsterte, hätte wissen müssen, sondern allein deshalb, weil sie es nicht mehr alleine mit sich herumtragen konnte, weil sie es mit mir teilen musste. Längst schon hatten unsere Körper alles Trennende, alles auf Distanz Haltende von sich geworfen und sich so in einander verwirbelt, so weit es überhaupt zwei Körpern möglich sein kann, ein Leib zu werden. Sie setzte zunächst an bei einer Sache, die ich wissen musste, nämlich, dass ihre Schwester sehr gefährlich für mich sei, mich hasse, weil sie von Anfang an durchschaut hatte, dass ich nicht ihr Bruder Domenico sein konnte, weil sie ihren Vater abgöttisch liebte und verehrte und ihn vor der Täuschung durch mich mit allen Mitteln bewahren wollte. Vielleicht war ich es, der sie ohne jede Absicht zu einem weiteren Geständnis trieb, einem Geständnis besetzt mit lauter Scham. Ich stellte die naheliegende Frage, ob sie eineiige Zwillinge seien. Als sie das bejahte, bezweifelte ich, dass derart gleich veranlagte Menschen sich so entgegengesetzt verhalten könnten. Sie von Anfang an mich zärtlich pflegend, sich mir annähernd und mich bergend. Ihre Schwester barsch und abstoßend und feindselig kalt. Vielleicht wollte sie mir das wirkliche Geheimnis gar nicht verraten, mir nur ein Stück weit erklären, wieso zwei so gleiche Frauen, wie es nur eineiige Zwillinge sein können, so unglaublich unterschiedlich mit mir verfahren wollten, die eine mich töten, die andere mich erretten und erheben. Tatsächlich hatten diese beiden Schwestern vom ersten Augenblick an, den sie erinnern konnte, um die Liebe des Vaters gekämpft, mit allen Mitteln, und sich zerstritten. Mit zwei oder drei Jahren hatte jede von ihnen als erste dem Vater den Gutenachtkuss ablocken wollen und jämmerlich geweint, wenn er sein lächelndes Gesicht der anderen zuerst näherkommen ließ. Jeden Tag neu hatten sie über Jahre versucht, beim Essen den einzigen freien Stuhl nahe dem Vater zu erobern. Zählen hatten sie viel zu früh gelernt, weil sie an ihrem Geburtstag feststellen mussten, ob die andere mehr Geschenke bekam. Einmal im Fluss der Erinnerungen, konnte Leonora ihr Erzählen nicht abbrechen. Noch nie hatte sie einem lebenden Menschen erzählt, was sie mir nur anvertrauen wollte, wenn ich ihr versprechen würde, dieses Wissen niemals zu nutzen, nicht einmal um mein Leben zu retten. Dies Versprechen fiel mir nicht schwer, ich gab es hastig, nicht in Angst um mich, sondern eher in Furcht, Leonoras Rede könnte unterbrochen werden und dann für immer beendet sein. Die beiden Zwillingsschwestern, so setzte Leonora ihre Beichte fort, hatten gerade ihren achten Geburtstag im weiten Rund der Familie gefeiert und trotz der unüberschaubar vielen Geschenke sich beide beschwert, dass sie nicht die so sehnlich gewünschte Barbiepuppe, die mit den leicht geöffneten Lippen und den Wimpern aus echtem Haar, bekommen hatten. Für die weit über den Garten hin verstreut sitzende und mit Eistortenstückchen und Asti spumante feiernde Familie hörbar hatte der Vater ihr Wehklagen untersagt und verkündet, dass sie so eine hässliche Barbie niemals von ihm bekommen würden, niemals, es sei denn, was aber undenkbar wäre, ihre Mutter, seine Frau, würde beim Ehebruch erwischt, dann sei ihm alles egal, dann könnten sie Barbiepuppen haben, so viel sie wollten, dies werde aber niemals eintreten, solange er lebe und so wahr er Leonido heiße. Und weil er selbst voller Selbstzufriedenheit über diesen Spaß hatte lachen müssen, hatte sich die gesamte Familie bis in die letzten Winkel des Gartens diesem Lachen angeschlossen, vermutlich sogar die Mutter. Keine 28 Tage später war ihre Schwester, gerade mal acht Jahr alt, zum Papa gelaufen und hatte ihm das Ungeheure ins Gesicht geschrien. »Die haben sich geküsst. Papa! Die haben sich geküsst! Mama und Fernando di Macrela. Der repariert gar nicht den Pizzaofen im Garten. Der küsst die Mama!« Leonoras Vater hatte noch niemals Raffaela getraut. Lügen war ihr Hauptspaß. Seine Tochter Leonora war die fromme, die Wahrheitsliebende. Sie zog er immer hinzu, wenn wichtige Neuigkeiten bestätigt werden mussten.

»Jetzt muss ich dir etwas gestehen, was mich in Scham versinken lässt. Wenn ich es doch nur rückgängig machen könnte! Nichts in meinem Leben bereue ich so wie diese Untat. Ach, ich fühle mich so erbärmlich, aber jetzt muss es raus! Mein Vater rief mich zu sich. Er kündigte an, dass jede von uns noch am nächsten Tag in Reggio di Calabria die von uns so heiß begehrte Barbiepuppe bekommen würde, von ihm eigenhändig mit uns gekauft, wenn, ja wenn das stimme, was Raffaela ihm gesteckt hatte. Und obwohl ich nichts gesehen hatte und meine Schwester es vielleicht ebenso wenig gesehen hatte, bestätigte ich ihre Behauptung, Mama habe sich von Fernando di Macrela küssen lassen. ›Ja hinter dem Pizzaofen hat sie sich küssen lassen. Wir beide haben es beobachtet!‹ Hätte ich als Achtjährige ahnen sollen, dass mein Vater noch in der selben Stunde sich verpflichtet fühlte, meine Mutter hinzurichten? Mit seiner Schrotflinte, seiner ältesten! Hätte ich das wissen können? Das Gericht sprach meinen Vater nach kürzester Verhandlung von jeder Schuld frei. Zumal an der Tatsache, dass die Ehebrecherin von Schrotkugeln durchsiebt in der Küche lag in einem See von Blut, ihrem Blut, schwimmend, für jedermann offenkundig wurde, dass mein Vater aus tiefstem Herzen seine verletzte Ehre und die der ganzen Familie wiederhergestellt hatte, nur von seinem aus den Tiefen hemmungslos tobenden Gefühl getrieben. ›Zweifelsfrei‹ ohne verbrecherische Absichten, die gerichtlich hätten bestraft werden müssen.«

Die Frau, die mich so zärtlich gepflegt hatte, die Frau, deren Körper sich mit dem meinen schon so ungeschützt verbunden hatte, dass kaum noch zu spüren war, welche Erregung von meinem oder von ihrem Körper ausging, diese Frau versank neben mir in Scham. Da konnte ich nicht anders, als sie zu trösten und aus ihrer Verschämtheit zu erheben und ihr ins Ohr zu flüstern, dass sie keinerlei Schuld habe, verführt als Achtjährige von diesem ungeheuerlichen Vater. Das war das letzte Wort, das wir tauschten. Ohne einen Blick in tiefster Dunkelnacht überließen wir uns dem nicht endenden Spiel unserer Körper. Die hatten sich – unkontrolliert und ungesehen – wohl längst schon abgestimmt und nutzten unser Verstummen, sich einander ungestümer noch hinzugeben, sich schwitzend glücklich an einander abzureiben und ineinander einzudrücken mit jeder Pore und sich ohne unser willentliches Zutun zu vereinigen. Sie mochte sich für immer unsichtbar unter mir versteckt geborgen fühlen, ließ ab von jeder Zügelung ihres Schoßes, der meinen Penis in seine Tiefen zu verlocken vermocht hatte, ihn liebkosend massierend umschmeichelnd. Eine Zeitlang hatte ich mich noch verantwortlich gefühlt für das, was unsere Körper im Ungesehenen in Bewegung hielt, vielleicht wie Eltern, die ihr Kleinstes beim Spielen im Sandkasten behüten müssen, vielleicht hatte ich auch für Momente an Verhütung gedacht, ohne jedoch ein Gespräch mit ihr darüber zu beginnen. Dann ließen wir beide im gleichen Augenblick die Spiele unserer Körper im Höhlendunkel geschehen, eher stille Spiele, wie ich im Nachhinein feststellen muss. Unsere Münder, nicht durch Seidenwäsche getarnt, wohl aber unsichtbar in der Schwärze dieser Neumondnacht, verstummten, die Lippen gaben sich sprachlos Wort und Widerwort. Unbekümmert um das nicht mehr zu beaufsichtigende Treiben unserer beiden Körper, verbissen wir unsere Münder ineinander und ließen unsere Zungen frei auf ihren Wechselpfad, hatten so noch eine Weile die Empfindung, zwei in eins zu sein. Als auch die letzte Distanziertheit im Glück des kleinen Todes schwand, als wir beide nicht mehr umeinander wussten, konnte zu unserem Glück kein Schrei unser unerhörtes Beisammensein verraten, weil unsere Lippen nicht mehr von einander lassen wollten. Leonaras Beben lustvoll geschah überraschend und zu unserem Glück von keinem Laut, von keinem Schrei begleitet. Nur diese Lautlosigkeit im Vereinigen bewahrte uns das Leben, wie der nächste Morgen zeigte. Die böswillige Zwillingsschwester hatte vor meinem Zimmer wachend ausgeharrt, starrsinnig darauf bedacht, ihre Schwester doch noch überführen zu können beim Verlassen meines Raumes, obgleich ihr doch alle Durchsuchungen gezeigt hatten, dass außer mir niemand im Zimmer sein konnte.

Ob ich eingeschlafen war, weiß ich nicht, ob gar nicht eingeschlafen oder nur über kurz oder gegen meinen Willen über lang, weiß ich nicht, jedenfalls sah meine Beschützerin, die eine ganze Nacht dicht an meinem Leib den eigenen Schutz gesucht hatte, wohl zuerst den Blick des Morgens über die Bettseide gleiten, mit der sie sich die ganze Nacht bedeckt gehalten hatte und in meinen Armen verborgen. Ich spürte bei noch geschlossenen Augen ihre Oberschenkel zittern und ihren Rücken gegen meine Brust gedrückt mit Schüttelfrost mich wachrütteln. Das Klappern ihrer Zähne unüberhörbar. Ich war besorgt, welche Krankheit sich da ankündigte, aber sie wollte nur gewärmt werden von mir. Decken, die wir achtlos aus dem Bett gedrückt hatten, zog ich aufs Bett zurück und spannte sie wärmend über die Frierende aus. Zwei Betttücher verstecke ich in den hintersten Abgründen des wandfüllenden Kleiderschrankes, damit die Blutflecken unsere unerlaubte Vereinigung den Pflegern nicht verraten konnten. Zu den nicht zu beseitigenden Spermaeintrübungen auf der Schonmatratze mochten sie sich irgendwelche Gedanken machen. Die Gefährtin meiner Nacht, kaum dass der Anflug von Schüttelfrost gewichen war, dachte schneller als ich an die tödliche Gefahr, die der neue Tag unweigerlich bringen musste. Ihr Vater würde mit einer ganzen Mannschaft und deren Polygraphen das Zimmer einnehmen, um mich dem Lügendetektortest auszusetzen, der meine unvermeidliche Hinrichtung leider nur bis zum Abend verzögern würde. Wo nur sollte sie noch ein Versteck finden? Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, ungesehen würde sie sich nicht mehr aus meinem Zimmer schleichen können, nicht an diesem Tag. Sie erwog im Ernst, dass wir uns vor ihrem Vater als das Liebespaar, zu dem uns diese Nacht gemacht hatte, offenbaren sollten. Vielleicht ließe sich dadurch mein Tod verhindern. Wenn nicht, würde es sie weniger schmerzen, mit mir zu sterben, als durch meine Ermordung brutal von mir getrennt zu werden. Dies Liebesopfer wollte ich nicht annehmen, konnte ich nicht annehmen. Noch wollte ich mich nicht geschlagen geben. Ich drängte sie, ihre Bekleidung an sich zu nehmen, kein Teil übersehend. Noch während sie in ihre Jeans fuhr und sich die unterschiedlich langen Pullover über das Unterhemd stülpte, diskutierten wir das Für und Wider der möglichen Verstecke in diesem ungeheuer weiten Raum. Unter dem Bett, zu gefährlich, allein schon weil jemandem eine Zigarette oder ein Bleistift unter das Bett rollen mochte. In einem der vielen Schränke – vielleicht. Auf einem der Schränke, flach liegend hinter den auf- und abschwingenden barocken Zierverblendungen? Ich konnte ihr mit einer Räuberleiter dort hinaufhelfen. Die Schränke waren so hoch, dass niemand ohne Nutzung einer Leiter die Versteckte würde erblicken können. Dann aber fiel, wie hatten wir sie nur übersehen können, unser Blick auf die überlebensgroße Mutter Gottes Maria, welche die Träger am Tag meiner wunderbaren Wiederbelebung im Erker dieses Raumes hatten abstellen müssen. Unter ihrem Rock aus wunderschönstem steifen Brokatstoff, himmelblau mit Goldfäden durchwirkt, unter diesem Rock war Platz reichlich. Meine Schutzpatronin verborgen unter dem Rock der himmlichsten aller Schutzpatroninnen, welch ein glückliches Zusammentreffen. Meine Angst, es könne ihr in diesem Versteck an Sauerstoff fehlen, ein Reizhusten könne sie verraten oder das Einschlafen der Beine in unbequemer Haltung, meine Befürchtungen zerstreute sie, indem sie wie den Abend zuvor mit ihrem rechten Zeigefinger meine Lippen verschloss, dann drängte sie sich schon unter den schwer niederhängenden Rock ins himmlische Versteck, das so himmlisch nicht sein würde. Nicht so schlimm, dass sie über Stunden nichts zu trinken hatte, schwieriger, sich kaum bewegen zu dürfen, am schlimmsten - kein Gang zur Toilette möglich.

Als ein Anderer leben

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