Читать книгу Als ein Anderer leben - Hans Jürgen Kolvenbach - Страница 11

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Sohn unverhofft

Mariengesänge waren es nicht, die mich weckten, auch nicht die Litaneien, aufzusagen beim Pflücken der Rosenkranzperlen. Eher schienen es Einflüsterungen zu sein, schmeichelnd in mich hinein gesprochen: »Mein Sohn, mein geliebter Sohn, nun kann uns nichts und niemand mehr trennen.« Schalmeienklänge in mein Ohr gesprochen, gehaucht, geflüstert, so behutsam von einer Männerstimme, die zusätzlich durch den Stimmton mir ihre Zärtlichkeit einzuflößen versuchte. Schon lange hatte ich nicht mehr Sohn meines Vaters sein wollen. Wie konnte also in Calabrien, 2.500 Kilometer entfernt von meinem vermutlich verstorbenen, vielleicht aber weiterhin lebenden Vater, eine Stimme, noch dazu in italienischer Sprache, sich als mein liebender Vater ausgeben? Französisch, ja, hätte mein Vater nach seiner Kriegsgefangenschaft im Lager Larzac fließend sprechen können, Italienisch nimmermehr, nicht einmal radebrechend. Woher auch, als Realschüler aus Düsseldorf mit Französisch als erster, Englisch als zweiter Fremdsprache? »Mein Sohn, glaube mir! Mein Beichtvater, der verehrungswürdige Pater Matteo, ein auserwählter Nachfolger von Pater Pio, kein Kapuziner, ein Benediktiner aus dem altehrwürdigen Kloster Montecassino, hat es mir in aller Geduld und immer neu erklärt. An uns beiden hat der lebendige Gott wieder einmal ein Zeichen geben wollen mitten in diesem Erdenleben. Gott selbst hat mich unbarmherziger geprüft, als einst seinen auserwählten Abraham. Ist doch klar, weil ich eben unwürdiger bin als Abraham. Versteht sich doch von selbst. Pater Matteo, der Verehrungswürdige, hat mir jedes Wort aus der Heiligen Schrift vorgelesen. Zu Abraham sprach Gott: ›Nimm deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, den Isaak, begib dich in das Land Moria und bringe ihn dort auf einem der Berge, den ich dir noch zeigen werde, zum Brandopfer dar.‹ Zu mir aber sprach derselbe Gott; gerade mal ein Jahr ist es her: ›Nimm deinen einzigen Sohn, den du so lieb hast, Domenico, den am Sonntag Geborenen, begib dich auf eine Anhöhe direkt über dem Meer am Capo Vaticano, die ich dir zeigen werde, und bring ihn mir zum Opfer dar, denn er hat gesündigt, immer neu und unverzeihlich schwer gesündigt.‹ Der verehrungswürdige Pater Matteo hat es mir genau erklärt. Gott verfuhr härter mit mir als einst mit Abraham. Als der sein Schlachtermesser über dem Herzen des Sohnes zückte, gebot Gott ihm Einhalt. Durch einen Engel. Bei mir tat er das nicht, leider. Er schickte keinen Engel. Du musst mir glauben. Mich hat es viel mehr geschmerzt als dich. Dieser Stoß meines Messers in dein Herz. Wieviel Leid überfiel mich in diesem schrecklichen Augenblick? Ich tat es schnell. Ich wollte dich den Tod nicht spüren lassen. Deine Sünden wusste ich anders nicht zu tilgen. Ehre und Blut, Blut und Ehre, wie dein Großvater, mein verehrter Vater, und auch schon mein Großvater es gehalten haben und auch bei Dir gehalten hätten. Dann aber, höre, welches unermessliche Glück ich dir künden darf, dann aber, als ich zerrissen in Schmerz zum Jahresgedächtnis genau ein Jahr später an deinem Grab zu Gott flehte hoch über dem tobenden Meer am Capo Vaticano, da wurdest du wiedergeboren aus dem Meer. Gott selbst hat dich gereinigt, neu getauft in den wogenden Wellen unseres geliebten Meeres und dich mir wieder in die väterlichen Arme zurück geschenkt. Genau in dem Augenblick, als ich um Erbarmen flehte, lagst Du wie ausgespuckt auf dem Sandstrand, tief unter mir, aber unübersehbar für meinen Blick. Punkt genau ein Jahr, nachdem ich dich hatte unter Schmerzen opfern müssen. Kaum wollte ich meinen Augen trauen. Zuerst hielt ich dich für tot, alle hielten dich für tot, bis unser unübertrefflicher Dottore Caputo uns versicherte, dass du nur in einer langen Ohnmacht schlummern würdest, wir dich irgendwann zum Leben erwecken könnten, wenn wir nur geduldig dich pflegen würden, über Tage, Wochen, Monate. Ohne Zögern brachte ich dich nach hier in unseren Fluchtpalast. Deine ganze Familie zog heimlich nach hier, um dich zu schützen vor der Rache der Comercis. Hier bist du so sicher wie in Abrahams Schoß. Fürchte dich nicht mehr vor der Rache der Comercis. Sie können dir wirklich nichts anhaben. Wach nur wieder auf. Nichts wird uns mehr trennen. Ach, du mein so sehr geliebter Sohn.« Nicht ohne Ekel fühlte ich, welche Zärtlichkeit er sich abzutrotzen versuchte, als er seine väterlich raue Hand über meine Stirn streicheln ließ. Obwohl ich jedes Wort verstand, italienische Worte, die ein mir vollkommen unbekannter Mann in mich einflüsterte, obwohl ich jeden dieser in Italienisch gesprochenen, geflüsterten, gehauchten, gesungenen Sätze hätte übersetzen können, ich verstand ihren Sinn nicht, nicht den Sinn eines einzigen Wortes, nicht den Sinn eines Satzes, nicht den Sinn all dieser Worte insgesamt. Dass ich aber verlockt werden sollte und ein Lebenszeichen und eine Einwilligung hätte andeuten sollen, das verstand ich.

Um so steifer und toter blieb ich liegen, um so fester hielt ich die Augen verschlossen.

Hätten meine Hände mich dann nicht als sehr lebendig verraten, ich hätte sie zu meinen Ohren aufwärts gerissen, beide Hände flach gegen beide Ohren gepresst und diese uneinnehmbar fest verschlossen, so aber musste ich die geduldig in mein Ohr geträufelten Lockrufe eines Mannes über mich ergehen lassen, der sich als mein Vater ausgab, obwohl ich so lange schon meinen und jeden Vater hinter mir zurück gelassen hatte. Lange schon hatte ich durchschaut, dass die Väter nur eine das Leben stärkende Suggestion sind, die Illusion, dass der Zweifel an diesem ganzen unsinnigen menschlichen Leben überwunden werden kann. Der Vater für das Kind die Instanz, die alles klärt und weiß und unzweifelhaft sicher macht, obwohl das Leben selbst und seine Prozesse nichts anders sind als Bewegung im Zweifel. Verräterisch die Aufspaltung in zwei Geschlechter bei höher entwickelten Lebewesen, verräterisch die scheinbar ewige Dauer der unterschiedlichen Gattungen auf Kosten der Vergänglichkeit des Individuums, entlarvend ein allmächtiger und allwissender Gott, der an seiner eigenen Schöpfung zweifelt, wenn nicht sogar verzweifelt: »Der Herr sah, wie groß die menschliche Bosheit auf Erden war, und daß jegliches Gebilde ihrer Herzensgedanken allzeit nur böse war. Es reute ihn, den Menschen gemacht zu haben auf Erden. Der Herr sprach: ›Ich will den Menschen, den ich geschaffen, vom Erdboden vertilgen. Denn es reut mich, sie gemacht zu haben.‹« Gott selbst, also der Vater aller Väter, zweifelt, aber vergisst im letzten Augenblick den Menschen abzuräumen aus seiner Schöpfung. Wie könnte dann ein vereinzelter Menschenvater erfolgreich den Zweifel aus dieser Welt verbannen? Ich brauchte lange schon keinen Vater-Darsteller mehr. Warum aber drängte sich mir, gerade jetzt, wo ich so hilflos in einem fremden Bett in einem unbekannten Raum unter fremden Menschen lag, ein neuer Vater auf? So bemüht fürsorglich und freundlich? In Italienisch dazu?

Als ein Anderer leben

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