Читать книгу Als ein Anderer leben - Hans Jürgen Kolvenbach - Страница 13

Оглавление

Blick durchs Schlüsselloch - bestraft

Die Männerstimme, die sich mir aufdrängte, wiederholte ihre Versprechungen in beinahe immer gleichem Wortlaut an sieben Tagen in Folge. Das registrierte mein Kalender. Ich hatte nämlich begonnen, mir meinen eigenen Kalender in die Bettkante aus Holz einzuritzen mit einem Obstschälmesser, das ich unbemerkt von einem Serviertablett hatte entwenden können. Nicht leicht, das Messer so zu verstecken, dass nicht einer der Pfleger es finden konnte. Behutsame Männer, die sich täglich an mir zu schaffen machten, deren Händen ich wehrlos ausgeliefert blieb, weil ich tatsächlich ohnmächtig war oder mich angestrengt tot stellte. Zwischen zwei Matratzen, die zu mehreren übereinander gehäuft waren, hatte ich das Messer schieben können, so dass es leicht erreichbar blieb, aber nicht entdeckt wurde, wenn mindestens zwei Mal am Tag die Pflegermannschaft mein gesamtes Seidenbettzeug erneuerte. Immer an den Tagen mit ungeraden Kerben zog die Frau mich in eine Nähe, die zu Lust und Leben verlocken musste, sogar eine lädierte Wasserleiche wie mich. War aber die Zahl der Kerben gerade, also 2, 4, 6 und so weiter, dann ließ die Frau mich in meiner Bedürftigkeit liegen ohne jedes Entgegenkommen. Barsche Stimme, abgeschirmter Körper, Kälte eher noch als Gleichgültigkeit. Da nutzte es auch nichts, dass ich, nachdem ich mir diesen immer gleichen Wechsel bewusst gemacht hatte, statt der elften Kerbe am elften Tag gleich die zwölfte mit meinem Messer einritzte. Nicht an den Kerben konnte es liegen, dass diese Frau in beharrlicher Regelmäßigkeit mich eine Distanz spüren ließ, die mit der Gleichgültigkeit der männlichen Pfleger nicht zu vergleichen war. Ihre Gleichgültigkeit wollte verletzen. Nachdem die Männerstimme sieben Tage den selben Text von Tod und wunderbarer Errettung immer wieder mir einzuflößen versucht hatte, ohne mich dadurch erwecken zu können, blieb sie eine Weile verstummt. Erfolgreicher war die Frau, die gleichermaßen an den geraden wie ungeraden Tagen, die mir am achten, neunten, zehnten, elften, zwölften und dreizehnten Tag eine wärmende Flüssigkeit Löffel für Löffel zwecks Wiederbelebung eingeflößt hatte. Von Tag zu Tag weniger gelang es mir, diese allzu verführerische Nahrungsaufnahme zu verweigern. Aus einem Löffel Minestrone, zunächst sehr dünn aufgebrüht, waren Tag für Tag mehr geworden, die Minestrone immer dickflüssiger. Schließlich nahm ich eine solche Menge zu mir, nicht weniger als eine bis zum Rand gefüllte Suppentasse, dass ich nicht mehr lange mich würde in meiner Kraftlosigkeit verborgen halten können. Ich musste, mochten noch so viele Irritationen aus meinem Inneren aufsteigen, mochten noch so viele Verwirrspiele um mich herum täglich aufgeführt werden, ich musste ermitteln, wo ich mich befand und was die Menschen, die mich offensichtlich gerettet hatten und die sehr besorgt um mich waren, mit mir machen würden, sobald ich aussteigen würde aus meinem Krankenbett. Warum hatte Catherine mich nicht ein einziges Mal besucht? Wo blieben die polizeilichen Ermittler? Warum lag ich nicht in einem Krankenhaus? Warum wurde ich von einer fremden Männerstimme als Sohn vereinnahmt und von einer Frau mal umschlungen, mal weggestoßen?

Seitdem ich an der Holzbettkante meinen Kalender führte, hatte ich einzuschätzen gelernt, durch welche Ereignisse sich der helle Tag und die lichtlose Nacht gliedern würden, so dass ich, wenn auch ans Bett gefesselt, die immer gleiche Langeweile erfolgreich vertreiben konnte. Ich verstand es, vorherzusagen, wann Pfleger mich umbetten würden, wann mein Stuhlgang und wann mein Urin von mir weg geholt werden würden, wann die Frau zwei- oder drei Mal am Tag auf mein Bett sich niederlassen würde, offensichtlich alleine mit mir, Zug um Zug dichter zu mir rückend oder distanziert von mir in immer gleichem Abstand verharrend. Nur die Vaterstimme vermochte ich nicht vorherzusagen, denn deren Erscheinen war immer kurz, mal Tag für Tag kontinuierlich auf meine Ohren einwirkend oder erst nach tagelanger Pause.

Das Risiko war unvermeidlich, von der Vaterstimme überrascht zu werden, als ich beschloss, für einen Augenblick das Bett zu verlassen und mir durch einen Ausblick aus einem der Fenster Gewissheit oder wenigstens einen ersten Eindruck zu verschaffen, in welcher Gegend ich wohl aufgebahrt war. Kaum hatte die an diesem Tag abweisend agierende Frau die Zimmertür hinter sich geschlossen, sie tat es an den geraden Tagen ungehöriger und damit lauter und damit eindeutiger als an den ungeraden, an denen selbst ihr Verschwinden kaum zu hören war, weil von Behutsamkeit und Fürsorge bestimmt und deshalb schwebend leise. Kaum war überlaut die Tür an diesem Nachmittag ins Schloss gezogen worden, riskierte ich den allerersten Ausstieg aus meinem Krankenbett. Sofort, als ich noch sitzend auf der Bettkante den Oberkörper aufrichtete, drohten mir Schwindel und Ohnmacht. Unerwartet schwer fiel mir jeder Schritt. Kaum mochte ich glauben, dass jede Spannkraft aus meinen Waden, meinen Schenkeln, meiner Hüfte entschwunden war. Meine Bewegungen, mir fremd, als wäre ich viel zu früh vergreist, ein ängstliches Fuß vor Fuß Setzen. Nichts zwischen Bett und Fenster, an dem ich mich hätte halten oder abstützen können. Der riskanteste Gang, den ich je hatte gehen müssen. Weit, viel zu weit wurde mir das lächerliche Stückchen Weg von meinem Bett zu dem Erkerfenster, das meinem Bett am nächsten lag. Die Gedanken in meinem Kopf und die Bewegungen meines Körpers waren sich nach meiner Erinnerung noch nie so uneins gewesen. Unterwegs nirgendwo ein Halt. Die Schwäche dieses Körpers im Streit liegend mit dem festen Willen in meinem Kopf. Am Fenster angekommen, hielt ich mich aufrecht an den kräftigen Vorhängen. Dann der suchende Blick ins Freie, mein Zweifel, dass mir meine Augen wirklich zeigten, was zu sehen war. Denn ich blickte in den goldenen Strahlenkranz, der über einem entschieden blickenden weiblichen Gesicht in alle Richtungen zu zucken schien und beinahe aufspießte den rechten Arm der Riesenfigur, mit dem diese Statue aus grünem Metall kraftvoll eine Fackel hoch in den Himmel stieß. Noch während mein Blick zu ihrem linken Arm hinüber wandern wollte, überkam mich die verrückte Idee, der New Yorker Freiheitsstatue in großer Entfernung vis-à-vis zu stehen. Da stand ich schon nicht mehr, ein Schwarz hatte sich vor meine Augen gesenkt. Ich war bewusstlos unter dem Fenster zu Boden gestürzt. Fataler Weise musste der Mann, der sich mir seit Tagen als Vater aufzudrängen versucht hatte, leider musste er mich am Boden unter dem Fenster ohnmächtig hingestreckt gefunden haben. Beim Erwachen wieder in meinem Bett liegend, erinnerte ich mich sogleich an den überwältigenden Fensterausblick auf die Freiheitsstatue.

Ohne meine Augen zu öffnen, konnte ich nicht daran zweifeln, dass der Fund meines bewusstlosen Körpers den Mann heftig erzürnt hatte. »Das muss geahndet werden! Das wird Folgen haben! Wie konntet ihr ihn nur bis zum Fenster kommen lassen? Kann mir das einer von euch erklären? Sagt schon! Wie kann ein Ohnmächtiger ungesehen bis an dieses Fenster vordringen? Erklärt mir das bitte, wenn ihr könnt! Wer hat ihm diesen Blick durchs Schlüsselloch ermöglicht, noch ehe wir ihm alles, seine Lage, unsere Lage, haben erklären können? Sagt mir, wer von euch handelte so gottverdammt idiotisch? Was hätte nicht alles passieren können, wenn er nicht zusammengebrochen wäre? Glücklicherweise! Euer Verdienst ist das wahrlich nicht. Ihr habt versagt, kläglich versagt. Zur Strafe sind erst mal alle Vergünstigungen gestrichen.« Ohne darauf zu achten, ob der Tobende von den derart heftig Gemaßregelten eine Antwort bekam, grübelte ich, ob ich nicht doch in die Hände meines wirklichen Vaters gefallen sein könnte. Wie ähnlich hatte der mich an Heiligabend gestraft, in der Hubertusburg in Leutesdorf mit Blick auf den Rhein, als ich am späten schon dunkelnden Nachmittag meinem Vater hinterher geschlichen war zu dem Bescherungszimmer, in dem er den Lichterbaum für den Heiligen Abend vorbereitete. Wie begehrlich hatte ich durch das Schlüsselloch blickend den Pferdestall zu entdecken versucht, auf Zehenspitzen. Nur so konnte ich, der ich in wenigen Tagen fünf Jahre alt sein würde, den Blick auf den vor den Fenstern aufgebauten Tannenbaum werfen und unter den tiefsten Zweigen zu meiner Freude den Pferdestall, wirklich als Fachwerk erbaut, entdecken und zwei Pferdegestalten aus Holz, die ihre Köpfe zu mir herausstreckten, da aber riss schon der Vater, der so eben aus der französischen Kriegsgefangenschaft zu seiner Familie zurückgekehrt war, die Türe unerwartet auf, schlug sie wieder zu vor dem Lichterglanz, der aus dem Zimmer für einen Moment in den verdunkelnden Flur sich verströmt hatte, wuchs zu bedrohlicher Größe, drängte mich, seinen kleinen Sohn, weg vom Schlüsselloch und sprach strafend und niederdrückend auf mich Winzling ein. Von seinen Belehrungen verstand ich nur, dass ich diesen verbotenen Blick auf keinen Fall hätte tun dürfen und zur Strafe den so heiß begehrten Pferdestall nicht bekommen würde, an diesem Abend jedenfalls nicht. Welch eine Bescherung! Ich weiß nicht, ob ich in Tränen ausbrach, bestimmt aber wünschte ich diesen Vater zurück in sein Gefangenenlager in Frankreich, aus dem er uns nur ein Jahr zuvor einen Weihnachtsbrief, so berührend und bewegend, geschickt hatte. Gleich, nachdem meine Mutter diesen Brief aus Larzac im Kerzenlicht des Tannenbaums verlesen hatte, nahm ich ein Jahr zuvor meine rotduftende übergroße Orange aus dem Weihnachtsteller, verbat mir, sie zu schälen und zu essen, so sehr sie mich mit ihrem Duft auch verlockte, wanderte die Treppen abwärts mit der rotwangig duftenden Orange in beiden Händen und grub mit meinem Kinderschüppchen viel zu nah unmittelbar vor der Haustüre für meinen Vater ein Loch, in das ich behutsam die Orange versenkte, damit mein liebster Papa bei seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft einen Orangenbaum behängt mit unzähligen Orangen vorfinden würde. Meine Mutter stand lächelnd dabei, hinderte mich nicht an dieser Orangenversenkung. Kaum ein Jahr später, erst wenige Tage zurückgekehrt aus französischer Kriegsgefangenschaft, hatte er mich strafen müssen. Nur ein Jahr, nachdem das dreijährige Söhnlein ihm seine köstliche Orange geopfert hatte, nahm er dem Vierjährigen den ersehnten Pferdestall, den ich schon so greifbar nahe durchs verbotene Schlüsselloch erblickt hatte. Nur wenige Momente nach meinem aller ersten Gehversuch zum Fenster mit Ausblick hatte auch dieser Mann, der so dringlich mein Vater sein wollte, strafen müssen, raubte mir die Verlockungen, in die mich die noch immer ungesehene Frau mit ihrer weiblichen Weichheit hatte verstricken können. Ab diesem Donnerwetter blieb die Frau, die mich zu umsorgen hatte, im Stimmton abweisend und auf größtmöglicher Distanz zu mir. Unzählige Tage, ob gerade oder ungerade. Kam mir nur so nahe, wie es zur Erledigung ihrer Aufgaben wohl nicht anders zu handhaben war, ließ mich sogar durch ihre Haut Kälte, Abwehr, Abstand spüren. Ob dieser Mann meine Pflegerin hatte bestrafen wollen für meinen unerlaubten Blick auf die Freiheitsstatue im Hafen von New York oder mich selbst, machte keinen Unterschied. Nicht eine Sekunde mehr ließ die Frau Wärme und Weichheit zu mir hinüber schweben. Je härter ich abgestraft wurde, um so trotziger hielt ich meine Augen verschlossen, verkroch mich tief und tiefer in meine gespielte Ohnmacht und verweigerte erneut tapfer jede Nahrungsaufnahme, ausgenommen das ziemlich gewaltsam eingeflößte Wasser.

Als ein Anderer leben

Подняться наверх