Читать книгу Als ein Anderer leben - Hans Jürgen Kolvenbach - Страница 9

Оглавление

Untergang

Wer ist das in uns, der uns über den arglos schlafenden Hund stolpern lässt? Wer war das in mir, der mich nach diesem grandiosen Erfolg zum Abschied von diesen Sommerferien noch einmal das Meer suchen ließ? »Fahr Du schon mit Salvatore nach Hause. Ich komme gleich nach. Nur noch einmal kurz ins Meer springen. Dann bin ich da. Noch heute fahren wir los.« Catherine nicht und auch Salvatore nicht, keiner fiel mir ins Wort. Leider. Sie gönnten mir dies letzte Vergnügen. Eben mal die Serpentinenstraßen abwärts fahren am Hafen vorbei zu den goldweißen körnigen Sandstränden Tropeas, die den ganzen Sommer über das grünviolette Meer auf kurze Distanz halten zu den schroff aufragenden Pressfelsen, die in großer Höhe herrschaftlich als Fundament dienen den über das Meer blickenden Palästen und Wohnhäusern Tropeas. Ich hätte zu meinem Erstaunen bemerken sollen, dass zur Mittagszeit unter den haltlos dahinrasenden Wolken nicht ein Badender in den sich um Tropea sanft dahin windenden Badebuchten zu erblicken war. Ich hätte zu meinem Erstaunen bemerken sollen, dass das Meer seine Transparenz verloren hatte, dass die violettgrüne Färbung von wütend anbrandenden Wogen und Wellen, die in heftiger Folge sich überboten, den Strand zu überfluten, in ein ungewohntes Schmutziggrau verquirlt wurde. Mir aber erschien, immer noch erfüllt vom ungezügelten Triumphgeheul über meinen unglaublich und einmalig erfolgreichen Bankraub, das Meer wie ein kameradschaftlicher Sympathisant, der mir entgegeneilt und der es eilig hat, mir seine Übereinstimmung mit meinem innersten Empfinden zu demonstrieren, seine Verbundenheit, ja seine Unterwürfigkeit. Während die bis zu sechs Stockwerke hoch auf dem sand-, kalk- und granitfarben schroff aus dem Meer aufsteigenden Felsen ruhenden Paläste Tropeas unbeteiligt und gleichgültig die zerrissenen Wolkenschleier über sich hinwegrasen ließen und keinen Blick zu mir hinunterwarfen, dem winzig kleinen und über die langen Strandverläufe hin einzigen bewegten Lebewesen, genoss ich erregt mein Kraftgefühl und beschloss, zum Abschied noch einmal vollkommen nackt von meinem Meer mich zu verabschieden. Mit jedem Kleidungsstück, beginnend mit dem Oberhemd, warf ich eine Sklavenkette nach der anderen ab, durch die ich mich beinahe freiwillig von unserer zivilisierten Stadt- und Bürowelt hatte fesseln und domestizieren lassen. Achtlos ließ ich erst das halbärmelige Hemd, weiße Palmen auf schwarzem Grund, hinter mich fliegen, ließ die Jeans so auf den Strandsand rutschen, dass ich, ohne mich zu bücken und ohne einen Handgriff tun zu müssen, hinaussteigen konnte, ließ im immer lauter antosenden Meeresbrausen und im Duft des fischigen Salzwassers jeden Gedanken dahinsausen, der mich in die Sicherung von Portemonnaie, Ausweisen und Autoschlüsseln hätte verstricken können, hatte die Sandaletten schon längst in den weichen Sand gedrückt, als ich nur noch mit beiden Händen den schwarzen Slip die Beine abwärts streifen musste. Übermütig warf ich meinen Slip zur Nimmerwiederkehr Richtung Flutwelle. Mit ihm auch wegschleudernd alle Beklemmungen, Verklemmtheiten, Verschwitztheiten einer in Gehorsamsritualen erstarrten Bürozivilisation.

Alleine die Taucheruhr durfte mich nackten Mann schmücken. Sie würde mir helfen, diesen letzten Ausflug ins Meer nicht selbstvergessen auszudehnen. In mir tobte Freiheitslust, nur kurz gemindert, weil ich für einen Moment in einen unsinnigen Zweifel verfiel. Absurderweise machte der Anblick an mir abwärts mich unfroh, obwohl er mir bewies, dass ich in diesen achtundzwanzig Tagen tatsächlich von 80 Kilo auf 74,8 Kilo Gewicht hatte abmagern können, was bei einer Größe von einmetervierundsiebzig kein schlechter Erfolg war. Irritiert bemerkte ich, dass mich dieser Anblick nicht wie zu erwarten fröhlich stimmte, sondern eher melancholisch. Statt mich selbst zu beglückwünschen, welchen Erfolg das jeden Morgen absolvierte kilometerlange Jogging mir eingetragen hatte, das disziplinierte Essen am Abend ohne Pane, ohne Pasta, ohne Pizza, lediglich mit einem Stück Hartkäse und einem minikleinen Gläschen Rotwein von Salvatore, morgens ohne Croissants, ohne Butter, ohne Margarine, wohl aber mit Aprikosen, süß und weichfleischig von der Südsonne und orangefarben duftend auf dem Brötchen oder Ciabatta. Kein wirkliches Hungern in den zurückliegenden achtundzwanzig Tagen, damit der arglistige Jojo-Effekt, der mich jedes Jahr nach Sommerfastenferien bis zum Dezember wieder dickfütterte, in diesem Jahr nicht würde wirksam werden können.

Statt mich über dies Abnehmen zu freuen und den so selbstbefriedigenden Anblick brustabwärts, überfiel mich für einen Augenblick der übellaunige Gedanke, ob denn das früher einmal, früher beim Aufbruch in mein Leben während der Pubertät, ob denn das mein Lebensziel gewesen war, mich zum Liebediener meines Leibes zu machen, oder ob ich nicht zu ganz anderen Zielen und hochglitzerndem Sternenleuchten mich hatte aufschwingen wollen. Hatte ich meine Gedanken nicht vor langer Zeit hoch zum Firmament aufgeworfen, zum höchsten und hellsten Stern des Weltenraumes? War es wirklich mein Ziel gewesen, mich darüber zu freuen, dass ein gelbes Zentimetermaß um Hüfte und Bauchnabel geschlungen irgendeinen Wert unter 100 Zentimetern zeigte? Etwas zögerlich auf die ungewohnt herantobenden und grollenden Wellenstürme mich zubewegend, ließ ich diese kleinkarierten Mäkeleien, ließ alle Selbstkritik hinter mir zurück, drehte mich nicht mehr um nach den hoch über mir wachenden Bürgerpalästen, genoss, dass ich an diesem Tag endlich wieder einmal alleine war mit dem so geliebten und an anderen Tagen auch silberglitzernd sanften Mittelmeer, »der unendlich sanft bergenden Mutter«, so die Worte, mit denen ich Catherine zum Wohlwollen gegenüber diesem Meer immer neu zu überreden versuchte. Ohne Erfolg bisher, denn Catherine wollte kein Vertrauen zum Wasser fassen. Trotz all meiner Überzeugungsarbeit hielt Catherine beim Schwimmen demonstrativ ihre Lippen drei Finger breit über dem Meereswasserspiegel himmelwärts, nicht anders, als schwimme sie im Chlorwasser eines rechteckigen Stadtschwimmbades, obgleich der Mund nach meiner Überzeugung, wie ich zu demonstrieren noch nie müde geworden war, im zärtlichen Wechselspiel mit dem Salzwasser tauchen und Wasser ausprustend wieder auftauchen sollte. »Nur so und nicht anders!« Das hatte ich Catherine immer neu gepredigt, natürlich immer erfolglos. Meine Füße näherten sich nur verhalten zögerlich den blasig auslaufenden und im weißen Sand dunkelnd versickernden Wellen. Ungezügelt dahinstürmend war mir mein Triumphgefühl schon weit voraus in die mit meinem innersten Gefühl so harmonisch wild sympathisierenden Fluten geeilt. Als tiefe innere Bestätigung erlebte ich in diesem Augenblick mir meiner noch sehr bewusst, dass genau in dem Augenblick, als meine Zehen sich vom Wasser benetzen ließen, der Stromboli, als wollte auch er mir seine Hochachtung für meine kühne Tat darbringen, unerwartbar plötzlich seinen göttlichen Vulkankegel aus den zum Horizont hin verschwindenden Meeresweiten aufsteigen ließ, natürlich mit dem nach rechts wegtreibenden weißen Rauchfähnchen über sich wie immer freundlich friedlich wedelnd.

Von diesem Augenblick an aber war alles unbekannt, neu und anders, als ich es je zuvor in diesem Meer erlebt hatte. Das nie Gekannte überwältigte mich, als ich gerade noch mit dem Gedanken beschäftigt war, dass die ungewöhnliche Tobsucht von Himmel und Meer mich etwas vorsichtiger hineinschreiten lassen sollte in das vertraute Wasser, so dass ich noch hätte zurückkehren können zum Strand, falls das Hinausschwimmen sich zu gefährlich anfühlen würde. Das war das Ende meines selbstbestimmten Denkens. Noch ehe ich mich hatte entscheiden können, ob ich waden-, knie- oder hüfttief mich hineinbegeben sollte in das unerwartet kühle tobsüchtige Gewässer, riss eine erst über mich landeinwärts hinwegschießende, dann aber meerwärts zurückrasende hochaufgetürmte Folge von Monsterwellen meinen Körper wie ein jämmerlich kleines Sandkorn, nein, wie lauter Nichts mit sich, mich tief hinein schleudernd in ein einziges Meerestosen. Noch ehe ich mir über das Unerwartete hätte Gedanken machen können, wurde mein Körper rundgeschleudert wie im schlimmsten Schleudergang einer überdimensionierten Waschmaschine. Ich, der ich mir auf mein Schwimmen weit hinaus ins Meer immer so viel eingebildet hatte, ich, der ich immer geschmunzelt hatte über alteingesessene Italiener, die, wenn sie mich vom Horizont zurückkehren sahen, von ihrer »Paura« stotterten und meinen Wagemut kaum zu fassen wussten, ich vermochte mit keiner Schwimmbewegung mehr mich selbst in irgendeine Richtung zu bewegen. Wohl erahnte ich noch die Gefahren, wenn der Wellenschwung mich nah über den Meeresboden zu schleifen drohte, wohl gelang es mir noch, den Kopf zwischen den ausgestreckten Armen schützend zu verstecken, weil ich lieber aufgerissen bekommen wollte die Brust als mein Gesicht von den schrundigen Felsmatten, die ich verstreut aus dem Sandboden herausragen wusste. Auf keinen Fall sollten meine Nase, mein Mund, meine Wangen, meine Stirn abgeschabt werden. Ohne es im Geringsten schützen zu können, dachte ich kurz an die Gefährdung meines Gliedes, über dessen Befreiung aus allen Beklemmungen der Bürozivilisationskleidung ich mich wenige Minuten zuvor noch so freudig erregt hatte. Nahezu alle Gedanken vergingen, weil ich, der ich so ausgiebig trainiert hatte, lange und tief zu tauchen, schwere rundgescheuerte Granitformen aus der Tiefe an die Oberfläche zu bergen, weil ich entsetzt erleben musste, dass die in diesem Augenblick alles beherrschenden Meeresverwirbelungen meine Tauchkünste zunichte machten. Denn kaum warf eine Schleuderwelle mich zu meinem Glück durch die Wasseroberfläche hindurch ins Luftige, schon stürzten die Wassermassen der pausenlos heranrollenden Wellenkronen über meinem Kopf zusammen. Mir blieb nicht die Zeit, ausreichend Luft einzuatmen, war schon wieder hinabgezerrt in irgendeine rotierende Schleuderbewegung vermutlich weit unterhalb der Wasseroberfläche, in eine Tiefe, die aber aufgrund des chaotischen Hin- und Herwogens, Anbrandens und Zurückflutens überhaupt nicht einzuschätzen war. Nie vorher geahnt, an was ich plötzlich mich hilflos ausgeliefert fand, an Wassermassen in uneingeschränkter Gewalt tobend. Wasserbewegungen, die mir nicht eine einzige Sekunde ließen, in der mein Mund souverän sich hätte über die Wasseroberfläche erheben können. Gerade mal für Bruchteile einer Sekunde ergab sich unvorhersehbar, dass die Wasserkräfte mich ins Luftige aus sich heraushoben, dann aber wieder Absturz in Erstickungsangst und das Umhergeschleudert-Werden in Wasserverwirbelungen, die sich ihrem Krafttaumel hingaben in immer neuen Übersteigerungen. Eingeschüchtert und verängstigt, ersticken zu müssen oder zermalmt zu werden im Schleuderschub über irgendwelche schartigen Bodenfelsen hinweg, gab es noch einen allerletzten Gedanken in mir, dass ich vielleicht versuchen könnte, statt mich ans Ufer retten zu wollen, hinauszuschwimmen in die Weite des Meeres, weil ich dort mit viel Glück ein wenig Überblick in einem weniger chaotischen Wogen und in gleichförmigeren Wellen würde mir erschwimmen können. Sicher schien mir das aber nicht, vielleicht tobte irgendwo da draußen zum Horizont hin das Meer ja noch blindwütiger. Als wollte es mich verspotten, hielt das Meer für Sekunden meine Uhr, durch die Wasserturbulenzen von meinem linken Arm gerissen, mir ganz dicht vor die Augen, in einem Schwebezustand, der auf meinen Sturz durch das Wasser abgestimmt zu sein schien, als sollte ich eine letzte Chance bekommen, meine Zeit mir wieder aufzugreifen. Aber selbst so ein nahes Ding vermochte ich nicht zu fassen, und so entschwand dann auch diese Uhr, die als allerletztes Zivilisationsstück an meinem nackten Körper mir hatte anzeigen sollen, wann ich dies kurze Abschiedsschwimmen beenden musste, damit wir endlich mit unserem runderneuerten Citroën Richtung Mailand und dann Paris starten konnten. Dann das Ende aller Ängste, allen Vorstellens, ein endloser Baumstamm näherte sich mächtig tänzelnd, wieder abtreibend, erneut unausweichlich auf mich zurasend. Ich fühlte ihn, umklammerte ihn immer neu, rutschte ab, musste ihn fahren lassen. Schlug er mich, aus hoher Welle abwärtsstürzend, bewusstlos? Ich spürte jedenfalls als allerletztes noch einen heftigen Schlag gegen den Kopf.

Als ein Anderer leben

Подняться наверх