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Einen Lügendetektor belügen?

Keinen Augenblick zu früh war meine Nachtgefährtin unter dem bauschigen Rock der heiligen Maria, der »Mutter Gottes bete für uns!«, verschwunden, da wurde von unsichtbarer Hand aufgestoßen die nur widerstrebend sich öffnende doppelflügelige Tür zu meinem Zimmer für einen Tross von Menschen. Menschliche Wesen, welche nur eine Absicht verfolgen wollten, mit wissenschaftlichen Mitteln herauszufinden, ob ich wohl der Sohn des Hausherrn sein könnte oder nur ein übler Betrüger war, der sich ins Herz des Padrone eingenistet hatte. Der Padrone, den ich am ersten Wort, das er sprach, wiedererkannte, dessen Aussehen so behaglich väterlich war wie der samtige Klang seiner Stimme, der Padrone, ein Mann wie zum Anlehnen geschaffen, der Padrone nahm auf einem erhöhten Lehnenstuhl Platz. Als einziger im Raum hatte er alles im Blick, mich im Bett, mich auf dem Lügendetektorstuhl, auf den ich am Nachmittag genötigt werden würde, den Diplom-Ingenieur, der als Polygraph Examiner herauszufinden versuchte, ob ich der wundersam wiedergeborene Sohn des Padrone sein könnte oder aber nur ein nichtswürdiger Betrüger. Zunächst durfte ich in meinem Bett etwas aufgerichtet verharren. Die Vatertochter postierte sich seitlich hinter meinem Kopf, schob mir mehrere Kissen hinter den Rücken, so dass ich aufgerichtet, aber doch entspannt, als Hauptdarsteller an der Veranstaltung teilnehmen konnte. Wie ein hüpfender Tennisball mit überdicken Brillengläsern näherte sich mir ein Männlein, das gerade über die Kante meines hochgestellten Bettes zu blicken vermochte. Sein dicklippiger Mund bewegte sich pausenlos und stellte sich selbst als Diplom Ingenieur vor, als weltweit erfolgreichster Polygraph Examiner. Ich schloss immer wieder die Augen, weil ich die Erklärungen verstehen und mich vom unentwegten Auf und Ab der dicken Lippen nicht ablenken lassen wollte. Das Männlein erläuterte mir zunächst in übertriebener Ausführlichkeit das geplante Verfahren. An diesem Vormittag würde er mir den Test erklären, mich rückhaltlos darüber aufklären, welche Fragen, Probleme und Sachverhalte beim Test thematisiert werden müssten. Er würde mit mir ein Interview durchführen, das als Vortest galt und aufzuzeichnen sei. Dabei würde er mir auch den genauen Ablauf des Tests darlegen. Von Dottore Caputo müsste schließlich noch einmal meine gesundheitliche Befindlichkeit in allen wesentlichen Punkten untersucht und geklärt werden. In der Zwischenzeit werde das Interview mit einer geheimen Software einer Stimm-Stress-Analyse unterzogen, so dass der Polygraph Examiner schon vor Eintritt in die Testphase wichtige Informationen über meine innere Gestimmtheit sein eigen nennen könne. Nach dem Mittagessen, das ich mir ganz nach Wunsch zusammenstellen dürfe, würde über zwei oder drei Stunden der eigentliche Test durchgeführt. Der Examiner würde mich durch ein eng strukturiertes Gespräch führen. Ich würde nur mit »ja« oder »nein« zu antworten haben, manchmal auch einfach, seiner Ansage gehorchend, schweigen dürfen. Die überdicken Brillengläser mit den dahinter aufgedickt ins Komische blickenden Augenkugeln hatten mich an Hitchcocks Film »Der Fremde im Zug« erinnert und mir zu meiner Überraschung ein tröstliches Gefühl eingeflößt. Vielleicht, weil es für Hitchcocks Helden doch immer zuletzt gut endet, selbst wenn der Meisterregisseur sie durch die tödlichsten Bedrohungen gehetzt hat? Der Polygraph Examiner, sehr besorgt darum, dem Auftraggeber, mir und dem neugierig lauschenden Dienstpersonal jeden Zweifel an der Qualität und Zuverlässigkeit seines Tests auszutreiben, stellte in längeren Ausführungen ausführlich dar, warum bei mir der Othello-Fehler ausgeschlossen war. Hatte Othello doch die ihm vollkommen treue Desdemona im Ehebett erdrosselt, weil er die Angst, die ihr das Gesicht verzerrte, als Zeichen missdeutete, sie versuche, ihn über ihre Untreue zu belügen. In Wirklichkeit schoss der treuen Desdemona Angst durch ihr Gesicht und entstellte ihr so hübsches Antlitz, weil sie nicht ohne Grund befürchtete, ihr Mann möchte ihr nicht glauben. »Nicht also das Lügen hatte Desdemona erregt und in Angst und Schrecken versetzt. Es war ganz alleine die Angst vor dem Ehemann, der sie mit dem Tod bedrohte. Sie, junger Mann«, mit diesen Sätzen, die mich beruhigen sollten, verriet der Polygraph Examiner, dass er um die Tötungsabsicht meines falschen Vaters wusste, »Sie, zu Ihrem Glück, kann solch ein Irrtum, solch eine Fehldiagnose, nicht zu Tode bringen. Der ehrenvolle Herr Leonido Barone wird Sie niemals im Othello Irrtum hinrichten, denn das Lügendetektor Verfahren des Polygraph Examiners, der leibhaftig vor Ihnen steht, ist in tausendfacher Praxis als hundertprozentig zutreffend getestet. Wenn Sie wirklich der Sohn Domenico dieses Noblen aus Tropea sind, dann haben Sie darauf heute Abend mein unauslöschliches Sigel.« Er hatte weltweit zur Zufriedenheit seiner Kundschaft die Treue in der Ehe verifiziert oder falsifiziert, angezweifelte Glaubwürdigkeit von Angestellten und Polizisten nachgewiesen, den Verdacht auf Diebstahl in unterschiedlichsten Firmen und in Familienverbänden geklärt, die Einstellung von Sicherheitspersonal und Vertrauenspersonen abgesichert und bei der Einstellung von Spionen und Geheimnisträgern erfolgreich mitgewirkt. Die auffällig übertriebene Dicke der Brillengläser, durch die sein Blick sich erst einmal hindurch bohren musste, wirkte wie ein Gütesiegel. Dieser Tester konnte gar nicht irren. So meinte er seine Worte. Seine Bewegungen ließen allerdings Zweifel aufkommen. Der Polygraph Examiner bewegte sich bei diesen Darlegungen, unablässig wie ein hüpfkranker Tennisball agierend, um mein Bett herum, dann auf den Auftraggeber zu und dann wieder, nachdem er kurz vor der überlebensgroßen Maria Mutter Gottes verharrte, auf mich Bettlägrigen zuschießend und die böse Zwillingsschwester mit einem Handstreich aus meinem Rücken vertreibend. Statt ihrer an meiner Bettkante verharrend und mir seinen Hinterkopf zuwendend, schwang er sich mit Blick auf die respektvoll blickenden Zuhörer zu seiner eigentlichen Triumph-These auf: das Verfahren der Lügendetektion mit Hilfe des Polygraphen war nichts anderes als die endgültige Bestätigung des von René Descartes begründetem neuzeitlicheuropäischen Subjektivismus. Wie der Polygraph Examiner, nun gar nicht mehr hüpfend, sondern breitbeinig aufgestellt, uns Ungebildete meinte wissen lassen zu müssen, hatte Descartes in einem noch nie da gewesenen Akt geistiger Unerschrockenheit bewiesen, dass kein Mensch auf die Tradition bauen kann, dass kein Mensch sich auf althergebrachte Erziehungsweisheiten und Verhaltensregeln verlassen kann, dass jeder Mensch nur aus einer einzigen Gewissheit sein Leben zu entfalten vermag, aus der Gewissheit des »cogito ergo sum«. Und nun tobte still bei meinem Bett stehend der Polygraph Examiner los wie ein Wirbelsturm. Nein, alle hatten dies »cogito ergo sum« falsch übersetzt mit »Ich denke, also bin ich.« Das aber hieß es gerade nicht. Wenn es einen bösen Gott gab, wie Descartes versuchsweise unterstellt hatte, ein Gottmonster, das uns ständig über alles täuscht, was wir fühlen, meinen, denken, dann konnte auch das Denken, das Formulieren von Erkenntnissen in sprachlichen oder mathematischen Sätzen und Urteilen, eine üble Täuschung sein, uns eingeflößt als Einbildung von dem bösesten aller Götter. Aber, das vermochte Gott nicht, nicht einmal der schrecklichste aller betrügerischen Götter, uns daran zu hindern, dass wir, solange wir grübelten, VORSTELLUNGEN hatten. Der Polygraph Examiner machte eine sehr sehr lange Pause, weil er uns wohl die Chance geben wollte, seinen Gedanken hinterherlaufend, ihn einzuholen und mit ihm die Erkenntnis zu genießen, dass die revolutionäre Erkenntnis des René Descartes: »ego cogito, ergo sum« nichts anderes heißen konnte als »Ich habe Vorstellungen, also bin ich.« Anders formuliert: »Solange ich vorstelle, bin ich seiend und nicht nichts.« Das gesamte Erbe der Geschichte, alle Vorschriften der Autoritäten mussten immer neu von jedem in die Welt geborenen Menschenwesen geprüft und verworfen oder akzeptiert werden. Jeder von uns, ein nicht austauschbares einmaliges Subjekt, war verpflichtet, sich zum Souverän aufzuschwingen, oder aber er musste weit unter Wert als Mitläufer dahindämmern und verkümmern. So die Gedankenführung des Polygraph Examiners. Zu gefährdet fühlte ich mich, zu bedrängt von dem Todesurteil, welches drohend über mir schwebte, als dass ich den Gedanken hätte nachhängen können, die mir bei dem Vortrag des bei jedem Wort auf unnachahmliche Weise hüpfenden Polygraph Examiners unweigerlich durch den Kopf ziehen mussten. Hatte ich doch beinahe wortgleich wie er in meiner kurzen Zeit als Aushilfslehrer in der Ecole Allemande Internationale de Paris meinen Schülern immer schon in den ersten Stunden des Philosophiekurses genau diese Einsicht zu vermitteln versucht. Dass nämlich seit Descartes` unglaublich mutigem Denken kein Mensch mehr auf dieser Erde, ob Frau oder Mann, ob Chinese, Europäer oder Indianer oder Afrikaner, das Recht hatte, sich von ungeprüft übernommenen Weisheiten der Vorfahren lenken zu lassen. Isoliert auf die eigenen Füße gestellt, war jedes Individuum alleine der Wahrheit, die in den selbst gedachten Sätzen steckte, verpflichtet. Da ich auf keinen Fall Hinweise zu dem mir drohenden Verfahren überhören durfte, wich ich den Erinnerungen an meinen kurzen Hilfslehrerjob in Paris aus und konzentrierte mich auf die Rede des Mannes mit den ungeheuer dicken Brillengläsern. »Nicht an ihren Taten, an ihren Sätzen werdet ihr sie erkennen. Der Massenmensch spricht: ›Man lügt doch sowieso den ganzen Tag lang, dagegen kann man nichts machen.‹ Der neue befreite Mensch aber sagt: ›Ich‹ und nicht ›man‹. Er formuliert voller Stolz: ›Ich lüge nie mehr, denn jede Lüge ist Unterwerfung unter die Erwartung der anderen, ist Verzicht auf Freiheit und Selbstbestimmtheit.‹ Wenn Sie das verstanden haben«, so der Polygraph Examiner triumphierend, sich vor allem mir zuwendend, »Wenn Sie das verstanden haben, dann haben Sie auch verstanden, dass der Lügendetektor nichts anderes ist als der Geburtshelfer des zu sich selbst befreiten Menschen.« Der Polygraph war, so versuchte es der Polygraph Examiner allen Anwesenden zu vermitteln, nichts anderes als das Hilfsgerät, das dem Menschen, der an den Lügendetektor angeschlossen war, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, die ganze vollständige Wahrheit über seine Vorstellungen verraten musste, die bei dem Test angesprochen wurden. Hielten viele Menschen den Lügendetektor für eine Art elektrischer Stuhl, so war er in Wirklichkeit nichts anderes als der unbestechliche Geburtshelfer für die Inthronisierung des Subjektes in seiner einzigartigen Subjektivität. »Bei meinem Test arbeite ich mit einem 5 Kanal Polygraphen, der die obere Atmung, die untere Atmung, den Hautleitwert und den Puls und den Blutdruck misst. Der 5. Kanal ist ein Monitor Sensor, der alle Körperteile unterhalb des Abdomens, unterhalb des Bauches, überwacht. Nach dem Mittagessen werden wir Ihnen einen Atmungsgürtel um die Brust und um den Magen binden. Damit messe ich, wie sich die Geschwindigkeit und die Intensität Ihrer Atmung verändert. Eine Blutdruckmanschette am Bizeps misst die Herzaktivität und macht sie auf einem Computermonitor sichtbar. Mit dem vierten Sensor registrieren wir winzige Veränderungen beim Schwitzen. Dafür müssen wir Metallelektroden an Ihren Fingern befestigen. So manche Dummköpfe halten das Schwitzen für irgendeine Äußerlichkeit. In Wahrheit verrät das Schwitzen unglaublich viel über den Austausch unseres innersten Inneren mit der Welt, die unsere Sinne und unser Verstand für eine außer uns liegende Welt halten, für eine Objektwelt. Das Schwitzen aber ist nichts anderes als Vermittlungstätigkeit, nichts anderes als der bewundernswerte Diplomat, der immer neu für den Waffenstillstand zwischen dem Subjekt und der vorgestellten Objektivität sorgt.« Der Auftraggeber, der Mann, der so gerne mein Vater sein wollte, wurde erkennbar ungeduldig und offensichtlich ungehalten. Durchaus verärgert hatte er mitbekommen, dass der von ihm hoch entlohnte Polygraph Examiner den vereinzelten Menschen auf ein höheres Podest zu stellen versuchte als die Tradition und die väterlichen Autoritäten. »Tun Sie jetzt endlich das, wofür ich Sie bezahle. Nur keine Angst. Ich und einzig und alleine ich erkläre meinen Leuten, wo`s langgeht. Machen Sie Ihren Job. Rufen Sie mich lieber etwas zu früh, wenn es heute Nachmittag losgeht. Schweiß und Wahrheit, Schweiß, Schweiß, wie kann man nur so einen Quatsch verzapfen?«, meinte der Auftraggeber erkennbar unwirsch, erhob sich von seinem erhöhten Stuhl und verließ den Raum, alle anderen hinter sich herwinkend, damit der Wahrheitsfinder mich ungestört interviewen konnte. Wusste ich besser als der kleine, hüpfende, dickäugige Polygraph Examiner, dass er mit seinen Gerätschaften mich keineswegs auf den Königsstuhl des triumphierenden Subjekts heben würde, dass er vielmehr mit all seinem Getue nur eine kleine Verschnaufpause zugunsten meiner Henker veranstaltete? Er war doch wohl eingeweiht, mein Lügentester, dass er wunderbar wissenschaftlich fundiert meine Ermordung freigeben würde. Die Security des Auftraggebers erhoffte keineswegs meine Freisprechung durch den Polygraph Examiner, in Wirklichkeit hatten diese Wächter längst schon ihre Ärmel aufgekrempelt, mich zu erdrosseln und mit Ketten beschwert in dunkler Nacht in die Seine zu verkippen. Wenn mir der Blick auf die Freiheitsstatue nicht eine Wahnvorstellung gezeigt hatte oder eine von einem bösen Weltgeist veranstaltete Täuschung, dann müsste ich allerdings in den Hudson River oder in den Hafen von New York verkippt werden, aber, was ging das mich an, in welchem Gewässer mein Körper tot versinken würde? Meine Unterstützerin hatte verwunderlicher Weise von der Seine als meiner Grabesstätte gesprochen. Da ich keine Gelegenheit gefunden hatte, mit ihr meinen überraschenden Blick auf die Freiheitsstatue zu besprechen, glaubte ich ihrer Aussage. Besonders gerne glaubte ich ihr, weil Paris mich in der Vergangenheit nie geschont, mir aber doch soviel Glück gebracht hatte.

Ein wenig Hoffnung, diesen Tag zu überleben, schöpfte ich aus dem unbestimmten und doch tröstlichen Bauchgefühl, dass der Padrone mich, wenn es nur irgendwie ging, als seinen Sohn erfinden und wissenschaftlich unwiderleglich beglaubigen lassen wollte. Meine Hoffnung steigerte sich, während der nun nicht mehr hin und her hüpfende Polygraph Examiner mich auf das freundlichste interviewte. Seine Höflichkeit verstärkte meine noch etwas zögerliche Vermutung, dass er mit seinem wissenschaftlichen Brimborium unausgesprochen beabsichtigte, mich als erstgeborenen Sohn seines Auftraggebers zu rehabilitieren. Ein zu 98,99 Prozent wahrheitsfindiger Polygraph konnte nicht irren. Nicht einmal im Blick auf das unglaubliche Wunder, welches die so gnadenreiche Jungfrau und Mutter Gottes Maria bei mir durch Fürsprache bei ihrem Sohn bewirkt hatte. Willig, aber abwesend ließ ich mich durch das Interview führen, denn mein Blick fixierte den Aufbau des Lügendetektor-Stuhles, auf dem ich am Nachmittag würde Platz nehmen müssen. Er zeigte eine blanke Holzfläche, kein Kissen. Tatsächlich: kein Kissen. Nicht einmal ein Anzeichen war zu sehen, dass ein Kissen im letzten Augenblick ins Spiel gebracht werden würde. Der Stuhl, aufgestellt an ausgewählter Stelle. Wirklich nur auf drei Beinen? Hingestellt. Wuchs in meinen Augen. Würde er mein Thron, mein rettender Thron werden oder mein Scheiterhaufen, mich wieder herstellen, mich wieder errichten oder vernichten? Ein Lügendetektor-Stuhl ohne Kissen, lediglich mit planer Holzsitzfläche. Der Blick auf abgewetzte Sitzflächen solcher Holzstühle ließen immer noch Scham in mir aufsteigen. Warum bringen sich Gefühle nach so vielen Jahren noch in Erinnerung? Wie hatte ich vollkommen nackt, entwürdigend nackt ausgezogen, auf dem Trainingsstuhl in Paris sitzen müssen, gerade mal sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Verschämt. Aber keine Unsittlichkeiten, keine Sexspiele, nicht einmal infantilen Unsinn hatte die Bande mit mir anstellen wollen. Nicht einmal quälen wollten sie mich, die Berufsgauner. Dies Training wollten sie, für den Fall, dass ein Pariser Flic mich schnappte und ich auf einen Lügendetektor-Stuhl gezwungen würde. Wie hatte die Bande in Paris das mit mir trainiert. »Merk dir das! Wenn du die Wahrheit sagst, kneifst du die Arschbacken zusammen. Genau so, wie wir es mit dir trainieren. Wenn du lügen musst, lockerst du entspannt deinen Hintern. Du musst das nicht verstehen. Aber präge dir alles ein. Nur soviel: Du verwirrst dadurch den Lügendetektor der Flics, machst sie meschugge, und sie lassen dich laufen.« Jahre später hatte ich mich kundig gemacht: Arschbacken zusammenkneifen erhöht alle Körperwerte, als wäre man mit heftigster Lügenarbeit beschäftigt. Die Betätigung des Schließmuskels aktiviert mehrere Muskelgruppen und Nervengruppen, so dass die Computerauswertung höchste Nervosität anzeigt, obwohl man lediglich so etwas Äußerliches wie die beiden Backen des Hinterns dicht an einander presst. Beim Training hatte die Bande mich ausgezogen, splitternackt, entwürdigend nackt. Nackt auf einem Holzstuhl sitzend, musste ich erst auf Befehl, dann nach eigener Ansage wechseln zwischen zusammengestrafftem Hintern und lockerem Sitzen auf entspannten Pobacken. Das entspannte Sitzen beim Lügen würde Körperdaten in den Lügendetektor einspeisen, die auf ein ruhiges Aussprechen der Wahrheit schließen ließen. Dann aber Arschbacken zusammenkneifen, denn das würde mich beim Aussprechen der Wahrheit als Lügner entlarven. All meine Antworten würden ungefähr die gleichen Erregungswerte anzeigen, mich von dem Verdacht entlasten, ich könne ein Trickbetrüger sein. Trainiert wurde ich unerbittlich hart, obgleich ich wegen meines harmlosen Jungengesichtes für einen nicht sehr schlimmen Diebstahl auserkoren war. Verkleidet als deutscher Pfadfinder mit blaugelbem Halstuch über blauem Hemd sollte ich, immer zwischen dem Arc de Triomphe du Carrousel und der Place du Carrousel hin und her strolchend, Paare, die vermutlich gerade das Musée du Louvre genossen hatten und auf die Seine zu spazierten, zu möglichst hohen Trinkgeldgaben verführen. Dazu bekam ich für jeden Arbeitstag bis zu zwanzig billige Messingringe, die ihrem hochpolierten falschen Goldglanz und der aufgeblähten Form nach nur Eheringe sein konnten. Ich hatte mich an etwas ältere und gesetztere Paare von hinten seitlich anzunähern. Sobald ich in ihren Augenwinkeln aufgetaucht war, musste ich mich auffällig zum Sandboden niederbeugen, dort einen Goldring finden und mich zügig seitlich in die Vorwärtsbewegung des Paares einfügen und entscheiden, ob das Paar Englisch oder Deutsch besser verstehen würde. »Entschuldigung. Ich glaube«, bei diesen Worten hielt ich schon auf eingestaubter Handfläche den goldglänzenden ausschweifend wulstigen Ehering vor die Augen des seine Bewegung verlangsamenden Paares, »ich glaube, einer von Ihnen hat gerade seinen Ring verloren. Ich sah etwas blitzen, und als ich mich bückte, fand ich das im Sand.« Die meisten Paare blieben spätestens beim Wort »blitzen« stehen. Auf mein Spiel mit der Habgier der Menschen setzte die Bande, die mich zu dieser Betrugsarbeit zwang, nachdem alle Tests gezeigt hatten, dass ich für Taschendiebstähle zu ungeschickt war. Nicht die Frau, so die Erfahrung, sondern der Mann würde den von mir hochgehaltenen Ring an sich nehmen, ihn prüfen und sich, freudige Erregung heuchelnd, als Besitzer zu erkennen geben. Ich musste Mitgefühl und Freude zeigen, durfte anschließend nicht von der Seite des Paares weichen, bis ich ein fürstliches Trinkgeld ausgehändigt bekam, das den Wert des Talmiringes weit übersteigen sollte. Dass ich im Augenblick der Belohnung auch noch das Portemonnaie stehlen könnte, hielt die Bande durchaus für normal und möglich, verlangte diesen krönenden Diebstahl aber nicht von mir, weil ich als nicht sehr fingerfertig eingestuft war. Obgleich ich bis zur Entlohnung mich bedrängend dicht an der Seite des Paares bewegen musste, hatte ich gleichzeitig sprungbereit zu sein für den Fall, dass irgendeiner dieser von mir soeben beschenkten Männer Verdacht schöpfte, der Goldring könne nur billiger Tinnef sein und ich ein Trickdieb, ein hinterhältiger sogar, erzürnt mich am Kragen packen würde, festhalten und nach der Polizei rufen. Ich musste immer fähig zur Flucht bleiben, selbst dann, wenn ich das Paar bis zur verdienten Belohnung auf Tuchfühlung umkreiste. Vor allem aber durfte ich mich nicht von einem Flic, sei es in Zivil oder Uniform, festnehmen lassen. Denn die Pariser Polizei griff zur Sicherung des Fremdenverkehrs hart durch, brachte Menschen, die anscheinend gerade beim Taschendiebstahl oder bei Trickbetrügereien auf öffentlichen Plätzen und in den Straßen von Paris erwischt worden waren, zunächst nicht vor den Richter, sondern in Polizeitransportern auf Lügendetektorstühle, die in Sichtweite des Hôtel de Ville in der Avenue Victoria geparkt waren. Gestanden die Diebe nicht schon beim Anblick des Lügendetektors, wurden ihnen die Messgeräte umgelegt und die entsprechenden Fragen gestellt. Mir wurde eingeschärft, dass ich niemals die Bande, die mich in Paris gefangen hielt und nun als Betrüger missbrauchte, verpfeifen durfte bei der Polizei. Der Chef malte mir in düsteren Farben aus, dass die Bande in jedem Gefängnis von Paris und in ganz Frankreich beste Freunde einsitzen hatte, die mich quälen und dann erledigen würden, würde ich auch nur ein Wörtchen mit der Polizei wechseln. Ich hatte, sollte ich ergriffen werden, zu schweigen, wenigstens aber das Blaue vom Himmel herab zu lügen. Ich sollte stur leugnen und niemals etwas von meiner wirklichen Lage verraten. Deshalb also das aufwendige Training, bevor ich bei dieser noch harmlosen Trickbetrügerei nahe dem größten Museum von Paris eingesetzt wurde. Ich, der schmuddelige kleine Trickdieb in deutscher Pfadfinderuniform wenige Schritte entfernt von den reinsten und größten musealen Schönheiten der Welt. Mit sechzehn ahnte ich noch nicht, dass nicht wenige dieser Schönheiten noch weit dreister geklaut worden waren in Ägypten, in Italien, in Spanien. Ich schämte mich, kaum hundert Meter entfernt von edler Schönheit, auf so dreiste und miese Weise Menschen zu betrügen, war aber gnadenlos mit dem Tode bedroht, wenn ich einen Fluchtversuch wagen oder schlimmer noch mich in den Schutz der französischen Polizei flüchten wollte. Meine Sklavenarbeit von Paris. Wie hatte ich sie verflucht. Sollte sie mir jetzt unerwartet meine Rettung bringen? Sollte mir dies Training, das so lange zurücklag und mir tatsächlich bei einer nur einmal erlittenen Verhaftung zur Freilassung verholfen hatte, sollte dies Training mir an diesem Tag das Leben retten? Der Arschbacken-Trick hatte sich im Laufe der Jahre herumgesprochen bei Kriminellen, bei der Polizei, bei sadistischen Folterern, weltweit im Staatsauftrag ihre Neigungen auslebend. Auf vielen Lügendetektor-Sitzflächen wurden Kissen aufgelegt, deren Sensoren das Verschieben der Pobacken anzeigten, so dass ein ruhiges Stillsitzen beim Deliquenten erzwungen werden konnte. Mir schmeckte kein Mittagessen, obwohl ich die freie Wahl zwischen köstlichen Speisen gehabt hätte. Ohne eine Lösung zu finden, wie ich ihr hätte helfen können, litt ich unter der Vorstellung, welche Pein meine Beschützerin tapfer zu ertragen hatte, während sie immer noch unter dem bauschigen Marienrock ausharren musste. Nie verließen alle Menschen mein Zimmer, so dass sie ungesehen hätte fliehen können. Für Augenblicke allerdings verlor sich jedes Mitleid. Ich fühlte meinen Tod näher rücken, blickte ängstlich immer wieder auf die Sitzfläche des Stuhles und war nur wenig erleichtert, das Holz immer noch frei von jedem Kissen zu sehen. Vielleicht würde diese Gesäßkontrolle ja erst angebracht, wenn ich, der zu Verhörende, Platz zu nehmen hatte auf diesem Wahrheitsgestell, das aus einem mir unbekannten Grund sich lediglich mit drei Beinen vom Boden abstützte. Meine Unterstützerin harrte immer noch lautlos unter Marias Schutz und Schirm aus, als ich am frühen Abend unter den Augen des wieder einmarschierten Auftraggebers und seines Gefolges von dem Polygraph Examiner aus dem Bett gebeten und in höflichster Weise - weit zuvorkommender, weit freundlicher als damals von den grob mich stoßenden Flics in Paris in der Avenue Victoria - auf den Stuhl der Wahrheit gebeten wurde an einem mir immer noch unbekannten Ort in einem im Gegensatz zum engen Lieferwagen der Flics ausschweifend üppig weiten Villenzimmer. Mochte mein Zimmer in Paris sein, in New York oder doch immer noch überraschenderweise in Tropea, der Augenblick rückte näher, der über mein Leben und meinen Tod entscheiden würde, und - gütiges Schicksal - der Stuhl der Wahrheit blieb zu meiner übergroßen Erleichterung frei von jedem Kontrollkissen. Ich hatte einen langen Nachmittag über Zeit gehabt, das unauffällige Lockern und Zusammenpressen meiner Pobacken aus alten Zeiten neu zu perfektionieren. Niemand würde diese Bewegungen unter meiner weiten Schlafanzugbekleidung entdecken können, nicht einmal der misstrauische Blick der sich nah an den Vater drängelnden Zwillingsschwester. Der Auftraggeber nicht, der Polygraph Examiner nicht und nicht einmal die böswillige Zwillingsschwester konnten übersehen, dass ich recht optimistisch und wohlgemut auf dem Lügendetektorstuhl mich niederließ. Erst als die Gehilfen des Polygraph Examiners meine Schlafanzugsjacke hochschoben, mir einen Atmungsgürtel um die Brust, dann einen anderen um den Bauch banden, erst recht aber, als sie mit einer glibbrigen kalten Zähflüssigkeit Stellen meiner Haut benetzten, vermutlich damit die Metallelektroden besser hafteten oder besser messen konnten, sank mein Selbstvertrauen. Ich fühlte mich gefangen, eingeengt, ausgeliefert, hilflos, machtlos. Ungeduldig hoffte ich auf die erste Frage des Polygraph Examiners. Er jedoch gab zunächst in aller Ausführlichkeit noch einmal allgemeine Erklärungen ab zum gesamten Ablauf, so als hätte ich die Veranstaltung bei ihm bestellt und dadurch ein Recht auf diese ausschweifenden Hintergrundinformationen. Endlich kam er zur Sache und stellte mir die erste Frage, die ich, so erläuterte er mir, mit einem einfachen »Ja« oder »Nein« zu beantworten hatte: »Hast du um deiner Mutter willen deinen Vater einmal schlimmer gehasst als den schlimmsten deiner Feinde?« Die Frage hatte ich nicht erwartet. Noch ehe ich mich entscheiden konnte, ob ich »ja« oder »nein« sagen sollte und ob ich die Pobacken zum Zeichen des Lügens zusammenpressen oder aber entspannt sitzen bleiben musste, stieß die Frage mich weit weit in meine Kindheit zurück. Wie oft hatte ich nachts als vielleicht fünfjähriger Junge in meinem Gitterbett mich in Angst und Schrecken steif niedergepresst und angenagelt gefühlt, wenn mein Vater über Stunden, so mein Zeitempfinden, sich annäherte über Kilometer aus seiner Lieblingsgaststätte Dietze Mamm, in der er mit den vertrauten Stammgästen in ungeregelter Folge versumpfte. Ein verqualmtes Lokal nah beim Rhein, gut für Thekengespräche mit der aufgeblondeten Wirtin, manchmal Tanz in der Musikboxecke, wenn nicht sogar die alte Akkordeonistin mit ihren schmutzigen Liedern die Männer aufheiterte, deren wiederkehrende Gespräche sich noch immer im Krieg aufhielten. Näher und näher tönte die Gewalt ankündigende Stimme auf den Südfriedhof zu durch die düstere Nacht krakeelend: »Ich bring euch alle um, ihr dreckigen Volmerswerther.« Sich nähernd unserem Wohngesindehaus, seitlich angeschlossen an die Friedhofsgärtnerei meines Vaters, den Ton bedrohlich verschärfend. »Komm raus, du Lehrer, ich bring dich um, du dreckiger Lehrer.« Der dreckige Lehrer war sein Schwiegervater, mein liebster Opa. Der wohnte in dem Gebäude neben uns und hatte sicherlich seine Haustüre verbarrikadiert. Gleichwohl glaubte ich den durch die lichtlose Nacht hallenden bedrohlichen Rufen meines Vaters, fühlte mich immer lebloser auf die Unterlage meines Gitterbettchens gepresst, gedrückt, genagelt. Jeden Nagel einzeln meinte ich zu spüren, der durch mich hindurch drang in die Matratze und mich kalt und steif werden ließ, als sei ich schon verstorben. Meine Ängste steigerten sich mit jedem Näherkommen dieser Stimme, die all den Drecksleuten fern und nah den Tod androhte. Ich wusste, am Ende vermochte dieser volltrunken dahinschwankende Vater nur in unsere Zweizimmerwohnung zu ebener Erde einzudringen und meine Mutter zu misshandeln, während er mich, wenn ich über das Gitter kletternd ihr zu Hilfe eilen wollte, einfach hochnahm und wieder zwischen die Gitter zurückwarf. Noch ehe ich hatte erwägen können, ob ich die Arschbacken zusammenreißen musste oder locker bleiben, antwortete ich in nicht zu steigernder Erregung wahrheitsgemäß: »Ja, ja und ja!« Der Polygraph Examiner würde allerdings so hohe Erregungsschwingungen auf dem Bildschirm sehen, dass er mein dreifach ausgestoßenes »Ja« als besonders gut getarnte Lüge einstufen musste, mit der ich verriet, dass ich in Wahrheit meinen Vater zu jeder Zeit mehr geliebt haben musste als meine Mutter. Ich hatte nicht die Zeit zu überlegen, ob mir dies beim Auftraggeber, der so gern mein Vater sein wollte und hellwach die ganze Prozedur beobachtete, ob mir das Pluspunkte oder den Tod einbrachte bei dem Padrone, der sich herausgenommen hatte, deutlich höher als alle anderen Personen zu sitzen, nein, zu thronen. »Ich weise dich ausdrücklich darauf hin«, meinte der Polygraph Examiner, als hätte ich die ganze Veranstaltung bestellt und zu bezahlen, »ich weise ausdrücklich darauf hin, dass ich jetzt eine Frage aus dem Repertoire der Kontrollfragentechnik stelle.« »Hast du während deiner ersten 16 Jahre deines Lebens anderen Menschen etwas gegen den Willen deines Vaters geschenkt oder verkauft?« Bei diese Frage war mir sofort klar, dass sie von einer Frage gefolgt werden würde, bei der ein Lügner aufgeregt sein musste, also würde bei dieser Kontrollfrage nicht der Lügner, sondern der Ehrliche aufgeregt sein, weil innerhalb von 16 Jahren so etwas immer vorgekommen sein konnte. Allerdings wusste ich, so unter Zugzwang gesetzt, nicht zu entscheiden, ob es für mich günstig sein würde, bei dieser Frage als der aufgeregte Ehrliche oder als lässiger Lügner zu erscheinen. Noch ehe ich mich entschließen konnte, meine Pobacken zusammen zu kneifen und aufgeregt zu erscheinen, hatte ich schon mit »Ja« geantwortet. Wieder wusste ich nicht, ob ich mir damit gedient oder geschadet hatte, denn schon stellte der Polygraph Examiner die nächste Frage: »Hast du jemals für die Comercis, die Todfeinde deines Vaters, die Todfeinde deiner ganzen Familie, etwas gegen den ausdrücklichen Willen deines Vaters besorgt.« Mir war, noch ehe er zu Ende gesprochen hatte, klar, auf diese Frage hatte der Polygraph Examiner die ganze Zeit hingearbeitet. War ich ehrlich, musste ich »Ja« sagen. Aber würde der Auftraggeber mich für diesen Ungehorsam, obwohl er lange zurücklag, nicht sofort liquidieren lassen von seinen Gorillas? Ich entschloss mich, gerade weil die Frage mich kalt ließ, meine Pobacken unauffällig auf das heftigste zusammen zu pressen und »ja« zu sagen. Der Polygraph Examiner behielt seine Pokermine, ohnehin durch seine überdicke und übergroße Brille davor geschützt, verraten zu werden aufgrund mimischer Feinbewegungen. Ich wusste nicht, ob ich mir mit meiner Art der Beantwortung einen Gefallen getan hatte, hatte auch keine Zeit zu grübeln, weil der Polygraph Examiner schon die nächste Frage stellte: »Hast du das Gefühl, schon einmal gestorben zu sein?« Ich entschloss mich, wahrheitsgemäß die Pobacken locker zu lassen und mit einfachem unsensationellem »Ja« zu antworten. Offensichtlich wollte der froschmäulige Tester mir keine Denkpausen gewähren, denn kaum war mein »Ja« verklungen, stellte er mir Fragen, die zum Spektrum des Tatwissenstests gehörten. Unschuldige können dabei keine Reaktionen zeigen, weil sie keine Ahnung vom Tatablauf haben, nur der Täter wird emotional reagieren, weil er weiß, welche der drei abgefragten Tatsachen sich ereigneten. »Ist dein Tod auf natürliche Weise erfolgt?« Wahrheitsgemäß ließ ich die Pobacken weiterhin entspannt auf dem Stuhlholz sitzen und antwortete mit »nein«. »Ist dein Tod durch einen Pistolenschuss herbeigeführt worden?« Ich blieb sitzen wie ich saß und antwortete mit »nein«. »Bist du durch einen Messerstich ums Leben gekommen?« Ich blieb sitzen wie ich saß und antwortete mit »ja«. Ob ich bei der Frage nach der Tötung durch das Messer, die gerade mal ein Jahr zurücklag, nicht doch trotz der scheinbar ehrlichen Bejahung hätte sehr aufgeregt und emotionalisiert hätte reagieren müssen, konnte ich nicht in Ruhe überlegen, denn schon kam die nächste Tatwissens-Frage. »Ist deine Mutter eines natürlichen Todes gestorben?« Ich blieb entspannt und sagte »nein«. »Wurde sie erschossen?« »Ja, ja, nicht nur erschossen, durchsiebt wurde sie«, schrie ich, zu meiner eigenen Überraschung, ohne mich auf irgendeine Weise beherrschen zu können, obwohl mich doch der Tod dieser Frau irgendwo im Süden Italien nichts anging. Zittrig war meine Stimme vor Aufregung, nicht mehr unter meiner Kontrolle. Wieso nur war ich nicht mehr Herr meiner Reaktionen? Diese Frage zu beantworten, blieb mir erspart. Ich brauchte auch nicht überlegen, wie ich beherrschter und kontrollierter diesen Test auf Leben und Tod bis zu seinem Ende überstehen konnte. Kaum, dass ich mein »ja, ja, ja« hinaus geschrien hatte, verfiel die böse Zwillingsschwester in ein Niesen, explosionsartig, überlaut, das noch nicht verklungen war, als die doppelflügelige Tür unter lauten Schlägen unsachgemäß aufgestoßen wurde. Neun Uniformierte, offensichtlich französische Flics in blauer Uniform mit schwarzen Käppis, bewaffnet mit Pistolen und sogar Maschinenpistolen, besetzten blitzschnell den weiten Raum, nötigten alle Anwesenden auf den Boden oder mit dem Gesicht an die Wand, Hände hocherhoben gegen die Wand gepresst oder flach mit den Handflächen auf dem Boden fest aufliegend. Nur der Padrone auf seinem Thron und ich auf meinem Folterstuhl durften sitzen bleiben. Der Chef der Truppe las aus einem Hausdurchsuchungsbeschluss dem Padrone in bestem Französisch - ich war also der Freiheitsstatue zum Trotz wohl wirklich in meinem Paris gelandet -, der Chef las übertrieben unwirsch dem Padrone vor, dass er verhaftet sei unter dem Verdacht, im Parc de Monceau nahe dem römischen Tempel ohne Rücksicht auf die gerade ihre Mittagspause genießenden Büroangestellten und die vielen Kinder mit ihren Kindermädchen eine rivalisierende Mafiagröße namens Cosimo Surpresa, bekannt unter dem Spitznamen Cosi Balbuziente, erschossen zu haben. Noch während der Chefpolizist den Text vortrug, der die Verhaftung von Leonido Barone rechtfertigen sollte, entschied ich mich, mich von den Polizisten in die Freiheit verhaften zu lassen. »Messieurs! Verhaften Sie mich. Ich habe diesen Mord begangen. Ich ganz alleine tat es. Für meinen unschuldigen Vater. Ohne sein Wissen, hinter seinem Rücken. Ich konnte die Beleidigung nicht hinnehmen, die dieser verlogene Stotterer, dieser Abschaum, meinem Vater angetan hat. Verhaften Sie mich, mein Vater weiß nicht einmal von der Sache. Er hat niemals seinen Fuß in den Parc de Monceau gesetzt. Er ist unschuldig.« Ich riss mir die Kontrollinstrumente vom Leib, sprang von meinem Folterstuhl, ging vor dem Thron des Padrone auf die Knie, küsste seine rechte Hand und bat in südlichstem Italienisch um seinen Segen: »Mi benedica o papà, mi benedica!« Dann schritt ich mit demütig überkreuzten Handgelenken auf den Chef dieser Eingreiftruppe zu, um mich abführen zu lassen. Ich versuchte, betreten und traurig und ertappt zu wirken, den Glücksgefühlen trotzend, die mich durchströmten. Was immer der Lügendetektor-Test über mich gezeigt haben mochte, ich würde erst einmal in Polizeigewahrsam genommen werden, nur noch wenige Schritte, nur noch Sekunden bis zu meiner Rettung. Bei aller schauspielerischen Begabung, ich war gefordert, diesen Triumph nicht in meinem Körper, meiner Mimik und Gestik aufscheinen zu lassen, in meinen beherrschten Schritten auf den obersten Flic zu. Doch noch ehe ich den Polizeianführer erreicht hatte, schritt die böswillige Zwillingstochter ein, übernahm das Kommando, befahl den Polizisten das Stillstehen, ließ alle zu Boden Geworfenen und an die Wand Gestellten in ihre alten Positionen zurückkehren und beichtete ihrem Vater, dass diesen Polizeiüberfall niemand anderes als sie selbst inszeniert hatte. Ihrer Vorbereitung war zu verdanken, dass als Flic verkleidete Schauspieler das Zimmer stürmten, sobald sie das Gefühl haben musste, dass der Lügendetektor mich als Sohn ihres Vaters bestätigen würde. Sie hatte sich diese Prüfung für mich ausgedacht. Sie hatte gehofft, dass ich, von ihr ohnehin als Lügner eingestuft, mit verräterisch großer Freude die Verhaftung ihres Vaters genossen hätte. Zu ihrer Enttäuschung hatte ich mich anders verhalten. Nichts desto trotz sah sie in mir weiter den verlogenen Blender, gab, gemein und gerissen wie sie war, ihrem Vater zu bedenken, was ich ja in Wirklichkeit auch praktiziert hatte, dass mein Mordgeständnis nämlich eine besonders geschickte Art gewesen sein könnte, mich in die Obhut der Polizei verhaften zulassen und damit in die Freiheit. Der Padrone, der seiner Tochter für diesen Coup durchaus seine höchste Bewunderung zeigte, war nach meinem Kniefall endgültig davon überzeugt, dass nur sein leibhaftiger Sohn Domenico sich so liebevoll und selbstlos für ihn opfern konnte. Ihn bestärkte, dass die meisten meiner Antworten zu den Fragen des Polygraph Examiners ihm bewiesen hatten, dass nur sein leibhaftiger Sohn dieses Wissen haben konnte, kein Fremder, den das Meer zufällig angespült hatte. Ich schien endgültig gerettet.

Der Polygraph Examiner und seine Gehilfen hatten in größter Eile und überaus willfährig die Anordnung ihres Auftraggebers, sich schleunigst zu verziehen, befolgt, ihre Geräte an sich genommen und hinausgetragen, ganz zuletzt einen Koffer, den der Padrone eigenhändig mit herrischen Worten überreichte: »Bei mir wird nicht nachgezählt! Auf mein Wort ist Verlass.« Den ungeöffneten Entlohnungskoffer unter dem Arm verließ der Polygraph Examiner als letzter der Wahrheitsfinder mein sich wieder weitendes Zimmer. Am Ende wurden auch die Polizeidarsteller in meinem Zimmer für ihre Darbietung überreichlich entlohnt, nicht von der enttäuscht wirkenden Vatertochter, sondern vom hochbeglückten Vater selbst. Schon abmarschierend und die Geldscheine eilig in seine beiden Hosentaschen schiebend, erblickte einer der als Flic verkleideten Darsteller die Muttergottes, kramte zehn Prozent seine Lohnes wieder aus der Hosentasche hervor und steckte die Geldscheine dankbar in Marias himmelblauen Schal aus Seide, ging vor ihr in die Knie, um noch einmal für den tollen Job zu danken, landete aber zu unserem Unglück in einer übergroßen Lache flach dahin glitzernder Flüssigkeit, die unter dem Rock hervor zu Füßen der überlebensgroßen heiligen Muttergottes Maria ausgeflossen war. Wenn auch Berufsverbrecher, so doch in tiefster Seele fromm, rief der junge Mann: »Seht hin, ein Wunder. Die heilige Mutter Gottes hat sogar geweint. So freut sie sich, dass unser Padrone endlich mit seinem Sohn Domenico wieder vereint ist.«

Als ein Anderer leben

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