Читать книгу Als ein Anderer leben - Hans Jürgen Kolvenbach - Страница 8

Оглавление

Kalabresische Gastfreundschaft ohne Eile

Wenn die calabresischen Freunde uns im Übergang von Freitag auf Samstag in vollmondheller Mitternacht nach einem endlosen Abschiedsessen, einem Gastmahl, das Auge und Mund überwältigte mit dem Wohlgeruch und paradiesischen Geschmack panierter Zucchiniblüten, verlockte mit der Zungenfragilität der zartest duftenden Wickelnudel, in der Nacht zuvor um Ginsterholzstäbchen gedreht zur Pasta Fileja, der antikesten Makkaroni-Nudel Calabriens, einem Gastmahl, das entzückte mit der hingebungsvollen Unterwürfigkeit violetter Auberginenscheiben, gedünstet in selbst geerntetem Olivenöl und Cipolla rossa aus Tropea, einem Gastmahl, das sättigte mit zartgebräunten Kaninchenschenkeln knoblauchberieben aus dem Backofen und zum krönenden Abschluss verführte mit den kleinen Nachspeisekreuzchen der Crocette aus getrockneten Feigen, Zimt, Zucker und Nüssen, alles begleitet von Gesprächen ohne deutsche oder französische oder englische Einschübe im herzlichsten Freundschaftsitalienisch und natürlich dem Rotwein, den Salvatore im eigenen Weinhang ein Jahr zuvor erzeugt hatte, wenn also nach dieser Bewirtung Rosa und Salvatore uns in die allerletzte Nacht in unsere Ferienwohnung am Capo Vaticano mit so überbordender Herzlichkeit verabschiedet hatten, konnten wir dann nur zwölf Stunden später samstags erneut in der Via IV. Novembre in San Costantino Calabro, einem Dorf ohne Bürgersteig, stehen und um Unterkunft bitten, obwohl die Macrís uns längst auf der Autobahn Richtung Paris wähnten?

Über die Strada Provinciale 17 hatte unser übervoll bepackter Citroën uns vom Meer aufwärts gerade noch befördert bis zu der Kreuzung, an der es nach rechts über drei Straßenkilometer zu unseren Freunden nach San Costantino Calabro, dem Dorf ohne Bürgersteig, führt oder nach links über sechs Kilometer in den Hauptort der Provinz Vibo Valentia, der den gleichen Namen trägt und unser Durchfahrtsort zur nahegelegenen süditalienischen Autobahn hätte sein sollen. Das erneute Anlassen des Motors verweigernd, war unser Citroën ausgerollt neben einem Eislieferwagen, aus dessen Führerhaus die Beine des schlafenden Fahrers hingen. Vor einem verriegelten und verrammelten Haus bockte unser Wagen, immerhin nicht im Straßengraben, sondern auf einem gleichgültig dahindümpelnden, überhitzten, erdig staubigen Parkplatz. Wir mussten die Frage beantworten, ob wir, obgleich das Samstag mittags gewiss aussichtslos war, zur Citroën Werkstatt ins sechs Kilometer entfernte Vibo Valentia trampen oder als reuige Bittsteller drei Kilometer zu Fuß zu unseren Freunden in San Costantino Calabro pilgern sollten. Aus dem Handschuhfach zog ich unsere doppelte Absicherung: die Reiseversicherung des Automobile-Club de l`Ouest, die versprach, einschließlich der Übernachtungskosten alle Reparaturkosten, die eine Reise mit sich bringen konnte, zu erstatten, und zu allem Überfluss zusätzlich noch die Mobilitätsgarantie, die Citroën unserem Gebrauchtwagen angeheftet hatte, mit noch einmal den gleichen Sicherheitsversprechungen. Wir hätten uns wirklich keine Sorgen zu machen brauchen. Schon bald würde die Gelassenheit der Sommerferien sich hinter uns im verblauenden Horizont verlieren, bedrängen würden uns aus dem Autoradio am frühen Morgen die Staumeldungen, die uns an jedem Alltag gleich schon auf dem Umgehungsring, mit dem die Autobahnen Paris umschließen, am Erreichen unserer Arbeitsplätze zu hindern versuchen.

Gleichwohl diskutierten wir hin und her, ob wir uns auf ein Wochenende ins Hotel in Vibo Valentia Richtung Citroën Werkstatt begeben sollten oder lieber doch in die familiäre Sicherheit unserer Freunde.

Noch ehe Catherine und ich, beide gleich unschlüssig, eine Entscheidung zwischen nach links trampen oder nach rechts laufen getroffen hatten, erwachte der Fahrer des Eislieferwagens, zog seine Füße in die Fahrerkabine und ließ sein fragendes Gesicht im geöffneten Seitenfenster aufscheinen, erkannte unser Nummernschild, trat an unser Auto und erzählte uns in selbstgebasteltem Französisch, wie sehr es ihm in der Picardie gefallen hatte und dass er wegen seiner kranken Mama, wirklich einzig und allein wegen seiner kranken Mama, nach Calabrien zurückgekehrt sei, fragte zu unserem Glück, wohin wir unterwegs seien. Wir berichteten von unserer Autopanne, beichteten, dass unser Wagen nicht nur deshalb überladen hinten abwärts hing, weil unsere calabresischen Freunde uns versorgt hatten mit selbstgefertigter Tagliatelle, noch ungekocht, 7 Flaschen Rotwein aus eigenem Anbau, mindestens 5 Kilo blauer Trauben von der hausnahen Pergola frisch geerntet, ganz zu schweigen von den fünf Corona di Cipolla, den magenta-rot verflochtenen schwergewichtigen Zwiebelkränzen, denen ein von der Kommune Tropea gesponserter Kongress in diesem Jahr hohe Abwehrkräfte gegen den Herzinfarkt bescheinigt hatte. Wir betonten, dass unser armes Auto keineswegs deshalb überfordert wirkte, weil Catherine ihr aufblasbares Schlauchboot Kajak Tahiti mit allem Zubehör über die Koffer im Laderaum des Break hochgestapelt hatte, nein, den Todesstoß musste unser treues Auto bekommen haben, weil ich, einer nicht zu bändigenden Leidenschaft folgend, jeden Tag an der Granitküste zwischen Coccorino-Strand und Nicotera Marina kugelrunde und straußeneiglatte grau-weiß schimmernde Granitsteine, die dort von den Wellen seit Jahrhunderten, Jahrtausenden oder Jahrmillionen auf dem Meeresgrund hin- und herschleudernd geschliffen worden waren, ertaucht und voller Stolz gegen Catherines Warnungen unter die Koffer über den gesamten Gepäckboden hinweg eingelagert hatte. Der Fahrer des Lieferwagens kannte keine Gnade. Diese Steine mussten raus. Sein Gesicht verriet, dass er nicht einmal den Hauch einer Ahnung empfand, was mir Steine bedeuten. Für ihn eine Störung, die in Personenwagen nichts, aber wirklich gar nichts, zu suchen hatte. Unter den kontrollfreudigen Augen von Catherine und diesem hilfsbereiten Fahrer warf ich eine Menge meiner geliebten und vom ewigen Wellenschlag so unendlich perfekt geformten Graniteier in den Straßengraben, eine langgezogene Erdvertiefung, nie gepflegt, eingestaubt und eingemüllt. Entschuldigte mich bei jedem Wurf unhörbar für die beiden Kontrolleure bei jedem der so barbarisch verstoßenen Steine. Trotz der zwei gnadenlos kontrollierenden Augenpaare gelang es mir mit der Schulter, den Kofferraum verdeckt zu halten und wenigstens zwanzig der schwergewichtigsten Steine unter dem letzten Koffer verborgen zu halten.

Der Fahrer des Eislieferwagens rieb sich die Hände, als hätte er zu lange schon auf die Beerdigung meiner unter so viel Mühen ertauchten Granitplastiken gewartet, öffnete unsere Motorhaube, befahl mich hinter das Lenkrad, griff, wie ich es auf unseren keineswegs reparaturarmen Italienreisen schon häufig erlebt hatte, für mich unsichtbar in den Motorraum, löste etwas, verband etwas und - wie oft hatte ich die Geschicklichkeit der Hände italienischer Automechaniker bewundert -, obwohl er vielleicht nie zum Mechaniker ausgebildet worden war, lief der Motor sofort, als ich auf seine Weisung hin den Schlüssel im Lenkradschloss drehte. Er warnte mich, nicht anzuhalten, denn dies sei die allerletzte Fahrt für diesen Motor, käme er noch einmal zum Stehen, wäre es aus mit unserer Beweglichkeit. Kaum vermochte ich zu danken. Ängstlich versuchte ich das Gaspedal zu bedienen, möglichst gefühlvoll, bemühte mich, das Bremsen zu vermeiden und natürlich einen weiten Bogen auf dem Parkplatz drehend auf die nur drei Kilometer lange Strecke zu unseren Freunden in San Costantino Calabro mich mit dem Auto einzufädeln, ohne den in beide Richtungen dichten Autofließverkehr in einen Unfall zu verwickeln oder aber schlimmer noch, auf dem Parkplatz den Motor erneut verenden zu lassen. Ich weiß nicht mehr wie, aber in größter Bangigkeit gelang mir diese Fahrt zu den Freunden, obwohl Catherine und ich gar keinen Beschluss in der lange diskutierten Frage hatten fassen können, ob Vibo Valentia oder San Costantino Calabro anzusteuern sei. Da standen wir endlich vor dem Haus ohne Bürgersteig. Sein Vorgarten, von unzähligen Rosen überrankt, die vom eigenen Duft berauscht um ihre Eisenstützen schwankten und tanzten, hielt unseren kaputten Wagen auf Distanz.

Ich klingelte zaghaft am Haus Nummer 18 in der Via IV. Novembre, überlegte mir die ersten Sätze und hatte schon das Citroën Mobilitäts Garantieheft in der Linken und obendrauf das nicht gerade dünne Begleitbuch, in dem alle Citroën Werkstätten Europas mit Telefonnummer und präziser Anschrift aufgeführt waren. Spätestens Montag, wenn nicht schon an diesem Samstagnachmittag würde ich mich dank dieser Mobilitätsgarantie nach Vibo Valentia in die Werkstatt abschleppen lassen und unseren Freunden auf keinen Fall länger zur Last fallen.

So dachte ich, während ich eine Weile warten musste, ehe Salvatore, von Rosa neugierig verfolgt, die Haustüre öffnete. Mein erster Satz war mir der Wichtigste, habe ihn aber vergessen. Auf jeden Fall stammelte ich in meinem Italienisch irgendwas von Entschuldigung und ob es irgendwie denkbar wäre, dass unsere Freunde uns wegen der Autopanne für ein oder zwei Nächte beherbergen könnten. Kaum im Gesicht der Freunde das nur in Calabrien denkbare sonnige und freudige Willkommen erblickend, stürzte ich, in meinem Werkstattbuch nach der Telefonnummer von Citroën Vibo Valentia blätternd, zum Telefon der Macrís, das ich oft genutzt hatte in diesen Sommerferien und am Ende des Flurs im Übergang zur Küche wusste. Doch Salvatore in seiner edlen Ruhe stoppte mich mit einem gelassen gesprochenen: »Calma, Giovanni!« Giovanni, so mein Name in Italien.

Zwar versuchte ich noch, etwas von meiner doppelten Mobilitätsgarantie zu berichten und davon, dass die Citroën Werkstatt in Vibo Valentia schon Montagabend uns den Wagen wieder startbereit vor die Füße stellen würde, nachdem der ACI heute oder morgen auf Kosten des Automobile-Club de l`Ouest unseren Wagen die neun Kilometer nach Vibo Valentia abgeschleppt haben würde. Konnte ich wirklich übersehen, dass wir Salvatores Haus betreten hatten? Mein Schwung, mit dem ich die Reparatur unseres Wagens hatte vorantreiben wollen, verlor sich. Ich vergaß die beiden Mobilitätsgarantien in meinen Händen, merkte nicht einmal, wo ich sie und das Citroën Reparaturadressbuch ablegte, als Salvatore uns, als wären wir nie abgereist, ins Wohn- und Esszimmer neben der Küche lotste und uns bedeutete, dass wir genau richtig zur Mittagszeit gekommen seien. Wir hatten zur Begrüßung zu kosten von dem nur bei Rosa so flüchtig zitronig gelb-süßlich schmeckenden Limoncello, den sie an diesem Morgen auf Flaschen gefüllt hatte. Wir wurden wieder zu routinierten Mitspielern bei dem Essen, als hätten wir diesen Mittagstisch nie verlassen: alles hausgemacht, angefangen bei der handgemachten Pasta bis zum Nachtisch mit tiefgekühlten Scheiben aus rosiger Wassermelone. Wie üblich aß unser Freund Salvatore, ohne dass er mir übel nahm, dass ich wie immer schon sein Angebot ablehnte, als allerletzten Nachtisch noch seine selbst gezogene und eigenhändig geschälte Gurke zu verkosten.

Dann ordnete er unseren Einzug in sein Haus. Unsere nicht endenden Gepäckmassen durften wir in sein Tierarztamtszimmer schleppen und auf dem edlen hellen Granitboden abstellen, der unsere Gepäckstücke um so ärmer aussehen ließ, weil auch die Wände lückenlos aus feinstem braunen Marmor mit unendlichen Äderungen in ihrer edlen Haltung kaum auf die Schäbigkeit unseres abgenutzten Gepäckes hinabblicken mochten. Noch nie hatten wir dieses Amtszimmer betreten dürfen, noch nie aufblicken dürfen zu den prachtvollen Goldrahmen, die das Büttenpapier veredelten, auf dem Salvatores erfolgreiche Veterinario Laufbahn amtlich beurkundet wurde. Salvatore nutzte diesen beeindruckenden Raum seit über zwanzig Jahren nicht mehr, weil er für die Gemeinde Tropea die Lokale der Umgebung visitieren und kontrollieren musste. Hinter der einfach verputzten und eher grauen Hausfassade in einem Dorf ohne jeden Bürgersteig hätte man solch eine Pracht in edelstem Naturstein, von höchster Steinmetzkunst für die Zivilisation glattgeschliffen, nicht vermutet. Auch das Zimmer in der ersten Etage, das Rosa uns als Schlafzimmer öffnete, hatten wir nie zuvor gesehen. Ein Grand Lit aus der Toskana, ganz in Jugendstil geschmiedet, wogte durch das Zimmer mit Ausblick zur Straße. Ungesehen von Rosa tauschten Catherine und ich einen Blick, der hätte verraten können, dass wir uns ohne jede Absprache einig waren, wie sehr uns dieses Zimmer gefiel und in unüberlegte Annäherungen verlocken würde, trotz des Ärgers über die Autopanne.

Wie hätten wir in den folgenden Tagen und Nächten diesen ungeplanten neuen Ferienauftakt genießen können, hätte ich nicht weiterhin die Beschleunigung der Reparaturabläufe in meiner Phantasie immer und immer neu durchgespielt. Vermutlich hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich begriffen, welche Folgen es haben musste, dass wir uns zwei Stunden zuvor freiwillig in Salvatores Haus und Hand begeben hatten.

Beim Entladen unseres Gepäcks hatte ich nicht mehr vermeiden können, dass Catherine, aber auch Rosa und Salvatore, die von mir trotz aller Unbilden geretteten Graniteier und Granitkugeln entdeckten. Meine Gefährtin Catherine verkniff sich mit einiger Anstrengung den Tadel, den ich verdient hatte. Unerwartet begeistert reagierte Rosa. Obwohl an dieser Küste groß geworden, hatte sie solch schöngeformten Granitsteine aus den Tiefen des nahen Mittelmeeres nie erblickt. Ganz im Gegensatz zu dem ignoranten Eislieferwagenfahrer ließ Rosa sich von meiner Steinliebe offensichtlich so anstecken, dass ich sie bat, sich die schönsten für ihren Garten auszusuchen. Den verbleibenden klitzekleinen Teil hoffte ich auf irgendeine Weise an Catherine vorbei in unseren Citroën, wenn er denn repariert sein würde, schmuggeln zu können.

Am Sonntagmorgen lockte Salvatore mich sehr früh aus dem Haus. Vom Fenster in der ersten Etage schaute Catherine uns fragend hinterher, als wir in Salvatores Auto entschwanden. Immer noch oder erneut stand sie am geöffneten Fenster, als wir eine halbe Stunde später mit dem Cousin einer entfernten Cousine von Rosa zurückkehrten, fragte mich von oben herab in dem nur uns verständlichen Französisch, ob nun endlich die Reparatur in Gang gesetzt würde. Ich antwortete stumm mit einem Weiß-Nicht Zucken meiner Schultern, bat sie mimisch um Geduld. Der Cousin einer entfernten Cousine von Rosa betrieb an der Strada Provinciale 17 hinter einem großen Werbeschild eine Schiffsmotor-Reparaturwerkstatt. Salvatore führte ihn in seinem mir vertrauten Calabresich-Italienisch in die lange Geschichte unserer Freundschaft ein und in das vielleicht sogar selbst verschuldete Dilemma, in dem die Deutschfranzosen nun mit ihrem streikenden Citroën steckten. Der Cousin hatte zunächst einige unerhörte Nachrichten aus dem weiteren Familienkreis zu berichten. Immer neu gab ich Catherine, wenn sie mit fragendem Gesicht am Fenster in der ersten Etage erschien, mit unauffälligen Handzeichen zu verstehen, dass sie sich doch bitte gedulden solle.

Irgendwann endlich forderte der Fachmann für Schiffsmotoren aller Art mich auf, die Motorhaube zu öffnen. Er holte sein Arbeitsbesteck aus einem Reparaturköfferchen aus Blech. Die in seinen Bewegungen sichtbar werdende souveräne Kompetenz steigerte meine Hoffnung, vielleicht schon an diesem Sonntagmorgen Richtung Autobahn aufbrechen zu können. Enttäuschung. An dem Fachmann lag es nicht, dass er nach halbstündiger Bemühung feststellen musste, die beschmutzten Hände mit einem Tuch sauberreibend, dass diesem Auto nur ein Automechaniker weiterhelfen könne. Während ich Catherine, die wieder am Fenster im ersten Stockwerk erschienen war, leise zurief, dass wir auf die Reparatur am nächsten Tag in der Citroën Werkstatt würden warten müssen, wollte ich von Salvatore wissen, zu welcher Uhrzeit am Montagmorgen wohl die Citroën Werkstatt in Vibo Valentia die Arbeit aufnehmen könnte und ob Salvatore mich noch diesen Nachmittag mit seinem Fiat dorthin abschleppen würde oder ob ich doch lieber den kostenlosen ACI Abschleppdienst in Anspruch nehmen sollte. Aber Salvatore stellte mich mit seinem gelassen gesprochenen »Calma Giovanni!« unbeeindruckt ins Abseits und widmete sich, wie die Höflichkeit es verlangte, dem Cousin der entfernten Cousine von Rosa, entließ ihn nicht, ohne ihn mit berauschend duftenden hochgewachsenen Basilikobüschen, frisch im eigenen Garten hinter dem Haus geschnitten, beschenkt zu haben. Zur Rückfahrt mit dem Fachmann für Schiffsmotoren aller Art lud Salvatore mich nicht ein, so dass ich hocheilen konnte zu Catherine, um ihr meinen Reparaturplan für den nächsten Tag zu erläutern. Trotz des verlockenden Jugendstilbettes wollte keine Lust uns von der Panne ablenken.

Nicht Mimmo, nicht Maria, nicht Isabella, nicht Alessandra, nicht Elio, weder die Enkel noch die erwachsenen Kinder, noch Schwiegertöchter und Schwiegersöhne wunderten sich, dass wir Deutschen auch in der fünften Woche noch im großen Familiensonntag der Macrís weilten und schläfrig verteilt unter den Schatten der Olivenbäume im Garten hinter dem Haus in San Costantino mit allen anderen Eistorte vom Plastikteller löffelten und paradiessüßen Cinzano Asti Spumante aus transparenten Plastikbechern tranken und wie von selbst in der großen Familie uns auflösten, ehe wir uns am Abend mit unseren Sorgen in unser Jugendstilzimmer zurückzogen.

»Sag Salvatore, dass wir zu Hause einen Termin haben, damit er die Reparatur beschleunigt!«, rief Catherine uns vom Fenster in der ersten Etage hinterher, als Salvatore mich überfrüh am Montagmorgen zu seinem Fiat abführte. Mir Frühaufsteher machte das gute Laune. Endlich, denn Salvatore äußerte sich in Sachen Reparatur nie, so als halte er dies entweder für ungehörig oder aber überflüssig, endlich hatte ich ein sicheres Zeichen, dass wir nun sehr entschieden im neun Kilometer entfernten Vibo Valentia mit Hilfe von Salvatores Autorität die Reparatur zum Abschluss bringen würden. Vorsichtshalber steckte ich unauffällig meine Automobile-Club de l`Ouest Urlaubsversicherung und meine Citroën Mobilitätsgarantie und das Adressverzeichnis mit den europäischen Citroën Werkstätten in meine kleine Umhängetasche. In die rechte Hand drückte mir Salvatore eine große Kühltasche, in der sich, wie ich noch erfahren sollte, von Frischeis gekühlte orangenrote Thunfischfilets befanden, einen Tag zuvor von der Insel Favignana an der Westküste Siziliens in ein sich verengendes Netzsystem gelockt und mit Holzstöcken blutig zu Tode geschlagen. Diese Delikatesse brachte Salvatore nun keineswegs mit mir in das nur neun Kilometer entfernte Vibo Valentia, sondern über kurvige Straßen immer weiter bergauf, bis wir nach stundenlanger Fahrt durch kühl atmende Waldungen, immer wieder ausgebremst von Ochsen- und Eselsgespannen calabresischer Olivenbauern, wenige Kilometer vor Gambarie hundert Kilometer von Salvatores Zuhause entfernt im wildesten Teil des rauen Aspromonte Bergmassivs inmitten des schönsten Esskastanienwaldes vor einem Granitgebäude mit ausgedehnten Ziegenstallungen Halt machten. Salvatore bedeutete mir, vorerst den Beifahrersitz nicht zu verlassen. Ich hatte gute Sicht, sog begierig in mich hinein die durch den weit geöffneten Wagen strömenden Duftmischungen, die ein freundlicher Wind komponiert aus Baumwipfeln, Waldböden, Ziegenstallungen und zudringlicher Ziegendünstung an mir vorbeiwehen ließ, und folgerte aus den Gesten, dass Salvatore dem Mann, der auf die Treppe getreten war, die außen an der Wand zweiflügelig aufwärts in die erste Etage des Bauernhauses führte, die Geschichte seiner französischeutschen Freunde zu vermitteln versuchte, vielleicht sogar vom Pech mit dem Pannenauto erzählte. Irgendwann, die beiden schienen sich lange nicht gesprochen zu haben, winkte Salvatore mich zum Haus, andeutend, dass ich die schwere Kühltasche mit den Thunfischfilets mitbringen solle. Der Fremde begrüßte mich, als wäre ich der jüngste und liebste Bruder von Salvatore. Ihn stellte Salvatore vor als den Onkel der Schwester seiner Patentante. Nachdem die Vorstellung in bestem Italienisch gelaufen war, sprachen die beiden nur noch in ungewöhnlich harten Lauten, vermutlich dem aus der Zeit Großgriechenlands im südlichsten Italien verbliebenen Dialekt Grekaniko oder irgendeinem Dialekt, von dem sie wussten, dass der Fremde, obwohl fließend Italienisch sprechend, mit Sicherheit kein einziges Wort verstehen würde. Ich musste ihnen helfen, die großen Thunfischstücke aus der Kühltasche in ein nicht kleinlich angelegtes Kühlzimmer im Parterre des Hauses zu tragen, durfte anschließend den beiden in eine Grotte folgen, feucht und kühl, in der von Hand geformter Ziegenkäse trotz kalter Luft mit seinem Duft lockte. Erklärt wurde mir nichts. Ich vermutete wohl zutreffend, dass ich Zeuge einer Tauschaktion war: Thunfisch aus Sizilien zum Berg, vom Berg abwärts Richtung Meer der Ziegenkäse. Was dies alles mit unserer Citroën Reparatur zu tun haben könnte, konnte ich nicht erahnen, erschloss sich mir erst am nächsten Tag.

Als wir an diesem Montagabend endlich wieder in der Via IV. Novembre anhielten, leider ohne im wilden Aspromonte die dunkle Nacht, den Vollmond und das nicht selten zu hörende Wolfsgeheul erlebt zu haben, stand Catherine vermutlich zu lange schon im geöffneten Fenster in der ersten Etage, fragte besonders spitz und übertrieben ironisch: »Das ist also deine doppelte Mobilitätsgarantie?«

Ich fand die Frage ungerecht und begleitete Salvatore am nächsten Morgen, im Kalender war wohl leider schon der Dienstag angebrochen, ohne mich irgendwie tröstend von Catherine zu verabschieden, denn sie hatte nach meinem Gefühl meine Ausdauer, meine Geduld und mein unermüdliches Bemühen um die Reparatur nicht angemessen gewürdigt, war mir mit der Ironie von oben herab sogar in den Rücken gefallen. Die Fahrt ging zu meiner Freude nicht weit, lediglich auf eine nahegelegene Hochebene, auf der sich modernste Kuhställe in Wellblech dehnten. Wie schon gewohnt, hatte ich mit der Kühltasche im Hintergrund auf dem Beifahrersitz auf ein Zeichen Salvatores zu warten. Diesmal allerdings verschwand Salvatore in dem unübersichtlichen Gehöft und kehrte erst nach sehr langer Zeit mit einem Herrn zurück, der mich in großer Selbstzufriedenheit auf Deutsch ansprach. Er hatte als Kind auf dieser Anhöhe dem deutschen Luftwaffenpersonal während des Zweiten Weltkrieges kleine Dienste geleistet und war noch immer von deutscher Zucht und Ordnung begeistert: »Hätten wir in Calabrien nur zehn Prozent davon, längst im Staub hinter uns zurückgeblieben wären die Mailänder«, ließ er mich in einem etwas holprigen Deutsch wissen. Dann setzten Salvatore und der Unbekannte ihr Gespräch in einem mir nicht verständlichen Italienisch fort. Ich bekam einen Wink, dass ich die Kühltasche an den Herrn zu übergeben und den beiden zu folgen hatte. Zu meinem Glück ließ Salvatore mich nicht hinter den beiden herlaufen, ohne in einem äußerst verknappten Hinweis angedeutet zu haben, dass die Reparatur meines Citroën von jetzt ab ausschließlich Sache dieses Herrn sei. Der führte uns zu seinem ausschweifenden Lancia, setzte sich hinter das Steuer, bat Salvatore auf den Beifahrersitz. Ich durfte auf die Rücksitze. Zu meiner Freude erkannte ich die Fahrtrichtung. Es ging über das Capo Vaticano, von dem wir am Samstagmorgen noch so wohlgemut nach Deutschland aufgebrochen waren, Richtung Tropea. Von dort, so hoffte ich, während ich ungeduldig die Kilometer zählte, würde es weiter gehen nach Vibo Valentia in die Citroën Werkstatt, so meine irrige Vermutung. Die Fahrt endete jedoch bereits an der kurvigen Bergstraße, die aus Tropea bergauf Richtung Vibo Valentia und Südautobahn führt. Nicht neben der Fiat-Werkstatt, aber etwa hundert Meter unterhalb hielt der Mann, von dem ich erst viel später erfahren sollte, dass er einer der einflussreichsten unter den Nobili aus Tropea war und ist, vermutlich mit einem Adelsstammbaum zurückreichend bis zu Ferdinand de Aquino senior. An diesem Dienstag, der schon wieder der Mittagszeit zuneigte, sah ich, als würde es mir auf einer viel zu weit entfernten Leinwand in übermächtigend gleißendem Licht projiziert, dass nach lange still stehender Leere neben der Fiatwerkstatt, lediglich unterbrochen, von den nur spärlich bergauf oder bergab fahrenden Liefer- und Personenwagen, drei Männer endlich die Werkstatt verließen, die Straße überquerten und auf dem breiten Parkstreifen stehen blieben, offensichtlich um angestrengt in meine Richtung zu blicken. Dann verabschiedeten sich Salvatore und der erkennbar wichtige Mann, den ich als Besitzer der Kuhmastbetriebe kennen gelernt hatte, von dem mir unbekannten dritten, der seiner legeren Kleidung nach zu urteilen nur der Besitzer der Fiatwerkstatt sein konnte, und kehrten zum Lancia zurück.

Der, wie ich nun besser weiß, hochgestellte Nobile aus Tropea, ließ mich in Deutsch wissen, dass ich Deutschland grüßen solle, denn vorrangig und umgehend werde nun mein Citroën in dieser Fiatwerkstatt am Ausgang Tropeas repariert.

Ich freute mich schon, der ungeduldig in der ersten Etage in der Via IV. Novembre wartenden Catherine noch aus dem Auto entgegenrufen zu können, dass die Reparatur lediglich eine Frage von Stunden sei, aber sie stand nicht am Fenster. Ich fand sie auch nicht in unserem Zimmer, nicht in der Küche, nicht im Esszimmer, erst im Garten neben dem Pizzaofen erblickte ich sie vom Qualm eines offenen Feuers umweht. Auf der einen Seite eines unförmig riesigen runden Bottiches sie, Rosa auf der anderen, beide mit langstieligen Holzlöffeln rührend in einer dampfenden Suppe, zu der das Holzfeuer ungeduldig emporzüngelte und qualmte. Catherine schien die Eilbedürftigkeit unserer Reparatur vergessen zu haben. Statt meinen triumphalen Erfolgsbericht abzufragen, musste zuerst sie reden und mir berichten, dass in diesem Moment ein stundenlanges Rühren zu Ende ging. Das Ergebnis würde aber nicht eine Suppe sein, wie mich der gelbbräunlichgrüne Anschein vermuten machte. Gemischt hatte Rosa Olivenöl, ungezählte Liter aus eigenem Anbau, destilliertes Wasser und Natronlauge (NaOH). Catherine war nun eingeweiht in das Geheimnis der Herstellung der fraglos weltbesten Seife, der Olivenkernseife von Rosa aus San Costantino Calabro. Wir beide wurden nachdrücklich ermahnt, uns nie mehr mit industrieller Seife, sondern nur noch mit dieser im Garten hinter dem Haus von Rosa hergestellten Seife zu waschen, als Rosa uns zur Bekräftigung einen unförmigen Plastiksack gefüllt mit unzähligen Seifenstücken aushändigte. Stücke, die nicht aus dem Kochvorgang stammten, an dem Catherine hatte mitwirken dürfen, sondern aus einer sechs Monate zurückliegenden Produktion. Solange nämlich muss diese Seife reifen.

Ich gestehe meine Ignoranz. In diesem Augenblick war mir der Reifegrad der Seife vollkommen schnuppe. Ich hatte nur noch Blicke für die Straße, auf der endlich ein Abschleppwagen erscheinen musste. Aber leider unbewegt stand unser kaputter Wagen weiterhin vor dem Haus. Vorerst galt es, als guter Gast stillzusitzen beim Mittagessen, vor ausgeklügelt gebackenen Auberginenspeisen, die Rosa mit Triumph in den Augenwinkeln uns schon auf die Teller gehebelt reichte, damit wir keine Chance hatten, in unserem Schlankheitswahn eigenmächtig die bei Rosa immer viel zu üppige Portionierung zu bestimmen und zu reduzieren. Endlich, ich fiel vor ungeduldiger Erwartung nicht einmal in den üblichen Mittagsschlaf des italienischen Südens, kam kurz vor der früh einbrechenden Dunkelheit ein Abschleppwagen der Fiatwerkstatt. Ich war das kaputte Auto und meinen Autoschlüssel los. Meine Mobilitätsgarantien vom Automobile-Club de l`Ouest und von Citroën wollte niemand sehen. Ungenutzt blieben sie bei uns zurück.

Immerhin hatte ich gelernt, innezuhalten. Ich hatte gelernt, dass Salvatore und seine Verwandten und Freunde und Bekannten offensichtlich niemals Geld in die Hände nahmen, sondern nur die schönsten und besten Früchte aus Garten, Feld, Meer und Gebirge.

Darüber hinaus hatte ich gelernt, dass ich Salvatore nicht nach Einzelheiten zu der laufenden Reparatur befragen konnte und auch niemals die Frage hätte stellen dürfen, was das alles wohl kosten würde. Meine auch für mich neue Ergebenheit in die nicht von mir zu beeinflussenden Geschehnisse wurde schon am Mittwochmorgen gegen Mittag belohnt. Salvatore, ob aus Mitleid mit mir oder nur um der Sache willen, weihte mich in nie da gewesener Differenziertheit in den Stand der Reparatur ein. Sie war ungewöhnlich aufwendig. Wollte ich noch diese Woche Freitag meinen Wagen fahrbereit haben, dann mussten wir beide sofort in das achtzig Kilometer entfernte Catanzaro fahren, weil nur in dieser Stadt das benötigte Citroën Ersatzteil vorrätig war. Ich wusste Salvatore kaum angemessen zu danken. Er winkte ab und forderte mich auf, in fünf Minuten an seinem Fiat zu erscheinen.

Das Happy End näherte sich nun dramatisch schnell. Schon gegen zehn Uhr am Freitagvormittag dirigierte Salvatore Catherine und mich in seinen Fiat mit dem Ziel, in Tropea den fahrbereiten Citroën aus der Fiat Werkstatt abzuholen. Während meine Gefährtin und er noch ein letztes Eis auf dem Corso Vittorio Emanuele II zu sich nehmen würden, sollte ich Geld von der Bank holen, so dass wir uns gegen 11 Uhr 30 in der Fiat-Werkstatt treffen könnten, um den reparierten Citroën in Empfang zu nehmen.

Was sich für Catherine und Salvatore wie eine einfach einzuhaltende Vereinbarung anhörte, verwickelte mich in meine unglaublichste, aber vollkommen wahre italienische Geschichte. Natürlich hatte Salvatore mir nicht verraten, was die Reparatur kosten würde, natürlich hatte ich ihn nach so etwas Schnödem nicht fragen können. Er konnte nicht wissen, dass wir lediglich im Portemonnaie hatten das Bargeld in Lire für die Rückfahrt; Autobahngebühren und eine Übernachtung in Italien eingerechnet. Die paar Lire und Franc waren abgezählt, in zwei Tagen übernachtend bei Mailand bis Paris durchzufahren mit drei Tankfüllungen. Niemals hätte ich Salvatore fragen können, ob er mir das Geld für die Reparatur leihen könnte. Mag sein, dass ich zu skrupulös war. Mein Bauchgefühl sagt mir noch heute, dass unsere große Freundschaft solch eine Anfrage nicht vertragen hätte.

Zu meinem Glück hatte ich mein Eurochequeheft während des gesamten Meeraufenthaltes nicht angetastet. Alle zehn Cheques lagen unbeschriftet in dem Pappmäppchen und warteten darauf, eingelöst zu werden. Allerdings meinte ich, und das ließ meine Schritte auf die Bank zu, es war glaube ich eine Landwirtschaftsbank mitten in Tropea, sehr zögerlich und ängstlich werden, allerdings meinte ich mich zu erinnern, dass man nur zwei oder drei Cheques am Tag oder pro Woche einlösen konnte. Je Cheque gab es als Höchstsumme nur italienische Lire im Wert von 1.000 französischen Franc oder 300,00 DM.

Ich wusste nicht, was die Reparatur kosten würde, aber ein kaputter Motor, eine in Salvatores Worten »aufwendige Reparatur«, die würde kosten. Nicht nur aus diesem Grund betrat ich die italienische Bank durch die mit Panzerglas und Eintrittssperre mehrfach gesicherte Drehtüre in lauter Unwohlsein schreitend. Bei vielen italienischen Reisen hatten die überaus adretten italienischen Bankangestellten hinter den unterschiedlichsten Banktresen mich spüren lassen, dass ich höchst unwillkommen war, lediglich großzügig geduldet. Der italienische Banker das Gegenteil des Caprisängers bei Sonnenuntergang, schlimmer und bürokratischer agierend als der hoheitlichste preußische Staatsbeamte. Nicht gerne äußere ich solche globalen Vorurteile, aber das ist nun mal meine leidvolle Erfahrung, bis zu diesem Freitag ohne Ausnahme leidvoll. Kaum war ich an dem Sicherheitsbeamten, der die Passagiere der Panzerdrehtüre durchdringend kritisch beäugte, vorbei, erblickte ich, erstmals in einer italienischen Bank keine Kundenschlange, in die ich mich einzureihen hatte, sondern hinter dem mir am nächsten liegenden Bankschalter eine hübsche junge blonde Frau, die mich animierend auf ihren Tresen zulockte und sofort aufstand, als ich voller Verwunderung bis zu ihrem Bankschalter durchschritt, durchaus eine unerwartete Ermutigung verspürend.

Mein ungläubiges Staunen wollte nicht enden, als diese junge Frau mich, ohne auch nur einen Wimpernschlag zu zögern, trotz meines ziemlich perfekten Italienisch als Deutschen erkannte und in tadellosem Deutsch nach meinen Wünschen fragte. Da ich immer einen Rest von Misstrauen mir selbst und aller Welt gegenüber behalte, ließ ich mich nicht gänzlich von meinen Glücksgefühlen überschwemmen. Alle mir wichtig erscheinenden Details ausleuchtend, berichtete ich der jungen Bankbeamtin von unserem Pannenpech, davon, dass unser italienischer Freund, der stadtbekannte Veterinario Salvatore Macrí freundlicherweise die Reparatur in der Fiat-Werkstatt von Tropea organisiert habe, wodurch meine Mobilitätsgarantien leider nicht greifen könnten, ich nun die Kosten für die Reparatur nicht einzuschätzen wisse und mangels Bargeld heute möglichst viele meiner zehn Eurocheques einzulösen wünsche, da meine Frau und ich unbedingt noch heute die Heimfahrt antreten müssten, weil wir beide schon am nächsten Montag wieder zu arbeiten hätten. An der Reaktion der äußerst verständigen hübschen blonden Bankbeamtin merkte ich, dass ich mich auch weit kürzer hätte fassen können, denn auf meinen äußerst differenzierten Vortrag reagierte sie nicht wie befürchtet mit Skepsis, nicht mit Abwehr. »Dann tauschen Sie doch einfach Ihre zehn Eurocheques heute bei uns ein. Damit ist Ihnen wohl am besten geholfen.« Im Nachhinein beglückwünsche ich mich, dass ich selbst in diesem für italienische Banken unfassbaren Augenblick größtmöglichen Entgegenkommens und trotz der schwebend zarten Schönheit dieser Bankbeamtin skeptisch und zögerlich blieb. Dreimal fragte ich die junge Frau ausdrücklich: »Löst Ihre Bank wirklich zehn Eurocheques á 1.000 FRF, französische Franc, heute auf einen Schlag ein?« Die hübsche Frau zögerte nicht, meine Frage ohne jede Ungeduld drei Mal zu bestätigen. Als ich zum dritten Mal diese Frage stellte, schämte ich mich vor mir selbst, obwohl die Bankbeamtin vollendet geduldig blieb.

So schnell wie nie zuvor hatte ich alle zehn Eurocheques mit dem Höchstbetrag ausgezeichnet und zügig unterschrieben. Die junge Frau füllte ein Bankformular größeren Umfangs aus, hüllte meine 10 Eurocheques in das gefaltete Formular, legte es in die Warteschleife des Bankkassierer und entließ mich in die Kundenschlange, die sich vor dem Panzerglashaus des Bankkassierers geduldig in die Abläufe fügte, die der Kassierer zuzulassen bereit war. Schon nach ungefähr dreißig Minuten stand ich vor dem Kassiererhäuschen Auge in Auge mit dem im unerträglich gleichförmigen Dienst gealterten Kassierer erwartungsvoll in Bereitschaft, die vielen Lirenoten in aller Ruhe nachzuzählen und diebessicher zu verstauen. Der Kassenhüter jedoch hatte für mich keine Lirenoten, sondern nur sein verächtlichstes Lächeln, dem unbedarften Fremden gewidmet. Er schob mir meine zehn Eurocheques mitsamt dem langen Bankformular auf die Kundenseite seines Schalters hinüber und ließ sich, was er erkennbar für überflüssig hielt, zu der Information herab, dass niemals mehr als drei Eurocheques pro Tag oder Woche eingewechselt würden. Entgegen seiner Erwartung trat ich nicht vom Schalter zurück, nahm auch nicht meine Cheques, die jetzt seine sein sollten, an mich, sondern trat, bis meine Brust schmerzte, überdicht an seine Kassentheke heran und informierte ihn in meinem auch für ihn erstaunlich guten Italienisch, dass seine Kollegin, lediglich zehn Meter von ihm entfernt residierend, mir ausdrücklich und sogar drei Mal ausdrücklich bestätigt habe, dass ich an diesem Tag alle zehn Eurocheques einlösen könne. Der Kassierer, widerborstig, wollte mir nicht glauben. Ich forderte ihn eindringlich auf, seine Kollegin zu befragen. Er bewegte sich nicht zu ihr, die mein Problem verursacht hatte, sondern fragte mich in deutscher Sprache: »Wollen Sie dies Mädchen nach Auschwitz? Krematorium? verbrennen?« Auf diese Attacke war ich in keiner Weise vorbereitet, zögerte einzuwenden, dass ich auch Franzose sei. Als er die Frage, ob ich die KZ-Vernichtung seiner Kollegin verantworten wolle, noch einmal wiederholte, schleuderte ich ihm die zehn Eurocheques mit aller Wucht in seinen Kassenraum zurück, tat so, als halte ich die Klinge eines Klappmessers an meinen Hals, und schrie so laut und dramatisch, dass alle Kunden mich hören mussten: »Io mi ha tagliato la gola con il coltello!« Ich habe nie geprüft, ob dies Italienisch in jedem Punkt korrekt ist. Bedeuten wollte ich dem Bankbeamten damit, dass er sofort eine riesige Blutlache vor und in seinem Kassenschalter würde aufwischen müssen, wenn er nicht das mir zustehende Geld rausrückte. Die Erregung meines Körpers überzeugte den Kassierer, dass ich wie angedroht, mir unverzüglich die Kehle aufschlitzen würde. Er machte beschwichtigende Bewegungen, während er sich rückwärts aus seinem Kassenhäuschen entfernte und mir versprach, den leitenden Bankdirektor zu informieren. Ich befürchtete Tricks, blieb in erregter Haltung dicht an den Schalter gepresst, bis ein gesetzter netter Süditaliener, klein rund und glatzköpfig in perfekter Kleidung sich meinem Rücken näherte und mir auf Englisch bedeutete, ich möge doch keinerlei Sorge haben, alles werde sich finden, zu meiner Zufriedenheit, wenn ich ihm nur in sein Dienstzimmer folgen wolle.

Der leitende Bankdirektor ließ sich erst von der hübschen blonden Bankbeamtin, die viel zu entgegenkommend agiert hatte, dann von dem abweisenden und beleidigenden Kassierer, schließlich noch von einem Zeugen aus dem Kassenraum, den er persönlich zu kennen schien, über den Vorfall informieren, dann setzte er selbst einen Stuhl dicht an seinen überriesigen Direktorentisch und bat mich, dort ihm unmittelbar gegenüber Platz zu nehmen. Er drängte nicht zur Eile, ließ mich in aller Ausführlichkeit berichten, von meinem wiederholten Urlaub am Capo Vaticano, von dem Unglück mit der Autopanne, von der calabresischen Hilfsbereitschaft des Veterinarios Macrí, von meinen Geldschwierigkeiten und dem bedrängenden Zwang, noch bis zum Abend dieses Tages den reparierten Wagen aus der Fiatwerkstatt auslösen zu müssen, schließlich von dem großzügigen Angebot seiner Bankbeamtin und der ungeheuerlichen Frage seines Kassierers, die mich als Nazi abstempeln wollte. Der leitende Bankdirektor wusste zuzuhören. Meine Erregung hatte sich schon erheblich gelegt, als er mir erklärte, dass die junge Frau, die so perfekt Deutsch sprach, erst den fünften Tag als Praktikantin tätig sei, eine Lettin, die von ihrer Bank in Riga das Praktikum zur Belohnung für irgendeine besonders gut abgelegte Prüfung geschenkt bekommen habe.

Auf seinen Kassierer ging der leitende Bankdirektor gar nicht erst ein, offerierte mir äußerst konziliant, dass er sogleich in meiner Anwesenheit in Brüssel anrufen werde. Dort sei die Zentrale, die alle Bestimmungen zum Eurocheque koordiniere. Ich glaube nicht, dass der leitende Bankbeamte mich mit einem täuschenden Telefonat austrickste, während er für mich und sich einen Espresso kommen ließ. Er sprach in gut verständlichem Englisch mit den Zuständigen in Brüssel und konnte mir als Ergebnis zu seinem größten Bedauern nur mitteilen, dass es wegen der Möglichkeit, dass gestohlene Eurocheques eingelöst würden zum Schaden ihrer früheren Besitzer, nur eine Einlösung von drei Cheques geben könne. So die unumstößliche Gesetzeslage, gegen die auch der Bankdirektor, obwohl so verständnisvoll meine schwierige Lage mitempfindend, nicht verstoßen durfte. Aufgrund der unumstößlichen Geltung dieser Sicherheitsmaßnahmen konnten die Bestohlenen die von den Dieben noch nicht eingelösten Eurocheques Tag und Nacht telefonisch sperren lassen. Ich legte dem leitenden Bankdirektor noch einmal dar, dass ja letztlich die Praktikantin Ursache dafür war, dass ich die Cheques alle zehn gegen mein natürliches Misstrauen unterschrieben hatte und sie nun nie mehr bei einer anderen Bank würde einlösen können und dass ja letztlich er dafür die Verantwortung trage, dass eine so unerfahrene Kraft mich trotz meiner dreimaligen Nachfrage zum Ausfüllen überredet habe.

Der leitende Bankdirektor schlug mir eine kurze Bedenkpause und den Genuss eines zweiten Espresso vor. Ich willigte ein. Noch lieber willigte ich ein in den Vorschlag, den der leitende Bankdirektor mir nach dieser ich weiß nicht mehr wie lange andauernden Denkanstrengung vortrug. »Erklären Sie sich damit einverstanden, dass ich Ihre Cheques in den nächsten Tagen Stück für Stück nachdatiere, Sie aber heute schon alle Lire für Ihre zehn Eurocheques, also Lire im Gegenwert von zehntausend französischen Franc, ausgehändigt bekommen?«

Diese Frage beantwortete sich von selbst. Meinen Körper in vollem Triumph streckend, zählte ich die vielen Lirescheine nach, überhastet wie ein Bankräuber in Fluchtbewegung, die nahezu unzähligen Lirescheine, die der Kassierer mir für meine 10.000,00 Franc in unauffälliger Anwesenheit des leitenden Bankdirektors auszuzahlen hatte. Dann aber durch die Drehtür hindurch eilend hielt mich nichts mehr ab von meinem Lauf bergauf zur Fiatwerkstatt, in der Catherine und Salvatore schon längere Zeit ungeduldig auf mich warteten. Ich zahlte die Reparaturkosten im Gegenwert von 6.700 Franc, locker die unzähligen Lirescheine aus meiner Hosentasche ziehend und zügig zu einem Papierberg auf dem Schreibtisch des Werkstattinhabers übereinander blätternd, Trinkgeld großzügig seitwärts daneben und verkniff mir nur mit Mühe, vor all diesen Zeugen hinauszuschreien, dass mir etwas gelungen war, was noch kein Mensch erreicht hatte und nie mehr in italienischen Banken von Süd nach Nord und von Mailand nach Rom oder Neapel jemandem gelingen würde, nämlich an einem einzigen Tag zehn Eurocheques einzulösen, in einer italienischen Bank.

Als ein Anderer leben

Подняться наверх